Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs – Band 8 – 4. Kapitel
Aus den Geheimakten des Weltdetektivs
Band 8
Die Geliebte des Staatsanwalts
4. Kapitel
Marter und Pein
Als Staatsanwalt Whitely in die Villa der Lady Likeness trat, um dieser einen Besuch abzustatten, fiel es ihm auf, dass die Dienerschaft neugierig vor der Tür zum Salon stand und miteinander flüsterte. Das Gespräch verstummte, als der Staatsanwalt nahte.
Was konnte der Dienerschaft Stoff zu leise geführten Unterhaltungen bieten? Der Staatsanwalt dachte daran, eine Frage zu stellen. Doch er kam nicht in diese Verlegenheit. Ein Diener öffnete die Tür zum Salon und bat ihn, einzutreten.
Das Herz pochte ihm fieberhaft. Was würde die nächste Stunde bringen?
Er trat in den Salon und aus diesem in ein Boudoir. Eine Lampe auf dem Sofatisch warf ihren durch den Lichtschimmer rosagefärbten Schein auf eine auf einem Diwan ruhende Gestalt, die sich auch beim Eintritt Whitelys nicht erhob. War es berechnete Koketterie des schönen Lady, ihn so zu empfangen, als könne sie nichts aus ihren Träumen stören? Das Gesicht war abgewandt, wie, um den Besucher zu necken.
Hatte sie in dieser Lage den Diener abgefertigt – sollte der Diener sehen, wie sie den Besuch empfing? Die Sinne glühten dem jungen Mann beim Anblick der schönen Frau.
Da ertönte ihre Stimme. »Treten Sie näher, Herr Staatsanwalt«, sagte sie in verschleiertem Ton. »Ist die Tür geschlossen? Sind wir allein?«
»Wir sind allein, Lady«, versetzte Whitely befremdet.
Da wandte sie sich um und zeigte ihm ein Antlitz, verstört, bleich, die Augen rot geweint und noch tränenfeucht.
»Verzeihen Sie, aber ich bin zu matt, mich zu erheben«, erklärte sie. »Ich errate, was Sie herführt, Herr Staatsanwalt. Die Zudringlichkeit meiner Nächsten sorgte dafür, dass mir kein Zweifel bleibt.«
»Ich verstehe Sie nicht …«
»Machen Sie keine Umstände, Herr Staatsanwalt. Ich bin auf alles gefasst. Nur meiner Dienerschaft wollte ich nicht zeigen, dass ich geweint habe. Es bedarf keiner Schonung, ich weiß, es ist ein Verhör, das mir bevorsteht – Sie kommen in Ihrem Beruf. Quälen Sie mich nicht mit Rücksichten, die keinen Wert für mich haben.«
»Lady, Sie irren sich. Mein Amt ist, anzuklagen, nicht zu verhören, und wenn ich hier bin, so stehe ich vor Ihnen nur als Freund, als Ratgeber.«
Sie schaute ihn mit ihren großen Augen an, und es war, als ob Rührung, Liebe, Bewunderung, Hoffnung darin kämpften mit dem ersten Ausdruck des Zweifels.
»Ist das wahr?«, fragte sie mit bebender Stimme, »wären Sie ein echter, wahrer Freund?«
»Was ist geschehen? Was hat Sie so jeden Halts beraubt? Ich verstehe Sie nicht.«
»Sie spotten meiner, oder ich bin irre. Sind Sie denn nicht der Staatsanwalt?«
»Ich bin es, aber ich begreife nicht, was Sie in diese Aufregung versetzt hat.«
»Dann begreife ich es noch weniger. Meine Zofe kündigte mir vorhin den Dienst, weil sie behauptete, mein Haus und ich würden beobachtet. Ein Detektiv sei gestern auf meinem Fest gewesen, um mein Tun und Handeln zu kontrollieren – Sie, Herr Staatsanwalt, wären von Rechtswegen dagewesen, und in jedem Augenblick sei ein Verhör zu erwarten. Und das geschehe alles, weil ich in irgendeinem Zusammenhang mit dem Mord an meinen Verwandten stehen müsse. Die Zofe erklärte mir mit klaren Worten: Ich wäre niemals die Erbin meines Oheims geworden, wenn dieser nicht plötzlich gestorben – der Reichtum wäre Wohltätigkeitsanstalten zugutegekommen und desgleichen mehr.«
»Woher hat sie diese Kenntnis?«
»Vom Klatsch – von bösen Zungen«, antwortete die Lady. »Ich … denken Sie … ich soll Gemeinschaft mit einem Mörder haben! Ist der Gedanke nicht so grausig, dass er mich um den Verstand bringen könnte?«
»Wollen Sie mir einige Fragen beantworten, Lady?«
»Dem Freund oder dem Staatsanwalt?«
»Ich kann nicht verhindern, dass der eine den anderen hört, aber ich kann Ihnen die Versicherung geben, dass der Freund allein hierhergekommen ist.«
»So fragen Sie. Wenn ich es vermag, werde ich antworten.«
»Aus welchen Gründen haben Sie die Absicht ausgesprochen, das Haus Ihres Oheims, des Lords Dempson, plötzlich beziehen und bewohnen zu wollen?«
»Weil es mein Eigentum ist und ich, wie ich meine, darüber verfügen darf nach meinem Belieben. Es ist ein Einfall. Finden Sie in diesem etwas Unkorrektes, so ändere ich meine Absicht.«
»Nein, nein – warum sollten Sie eine harmlose Absicht ändern?«, fiel der Staatsanwalt ein. »Man nimmt nur unwillkürlich an, dass Ihnen der Aufenthalt in jenem Haus ein Grauen einflößen müsste.«
»Ich fürchte mich nicht und habe ja Dienerschaft um mich. Indessen – Sie haben recht – ich will von dieser Laune abstehen. Das Grauen könnte jedes andere Gefühl übermannen.«
»Wurde diese Laune von irgendjemand beeinflusst?«
»Nicht im Geringsten – es hat überhaupt niemand eine Beeinflussung gewagt«, entgegnete die Lady. »Hat man denn auch von Amts wegen einen Verdacht?«, fügte sie mit heimlich lauerndem Blick und angehaltenem Atem hinzu.
»Ich weiß nichts Genaues«, sagte der Staatsanwalt. »Aber dass das Haus des Lords, Ihres Herrn Oheims, bewacht wird, das dürfte sicher sein – ist auch notwendig, da ja leider der Mörder noch immer nicht gefasst ist.«
»Ich weiß nicht, was man mir dabei andichten will – aber ich weiß, dass der geringste Flecken an meiner Ehre so schlimm ist, als der größte, und dass ich mir lieber den Tod gebe, als unter der Schande irgendeiner hinfälligen Anklage erröte. Der Himmel wird mir die Sünde verzeihen. Ich habe zu viel gelitten, um es noch länger zu tragen, um noch mehr aushalten zu können.«
»Gnädige Frau, sollten Sie nicht deshalb so schwer gelitten haben, weil Ihre Seele in sich alles verschloss, was sie trug, weil sie zu stolz gewesen ist, ihre Not einem teilnehmenden Herzen zu klagen? Der tröstende Zuspruch anderer erleichtert, während der einsam nagende Kummer zerfrisst.«
»Ich hatte keinen, der mir nahestand«, antwortete sie im düsteren Ton bitterster Stimmung. »Aber wenn das auch der Fall gewesen wäre, so gibt es Dinge, die man niemanden mitteilen kann und darf, weil niemand sie verstehen würde und ein Zweifel tiefere Wunden schlägt, als hundert Trostworte heilen können.«
»Nach diesen Worten klingt es, als ob Sie Ihren Gatten nie geliebt, als ob Ihr Herz noch nie eine mitfühlende Seele gefunden hätte.«
Sie schaute ihn eine Weile in Gedanken an, dann begann sie: »Ich habe meinen Gatten nicht geliebt – das ist richtig. Er war ein älterer, herber Mann, der meine Gefühle nicht zu verstehen vermochte. Er starb nach kaum einjähriger Ehe. Eines Abends, als er an seinem Waffenspind beschäftigt war, entlud sich sein Gewehr, und der Schuss tötete ihn auf der Stelle. Es ist kein Zweifel darüber«, fuhr Lady Likeness fort, als Whitely sie fragend und überrascht anschaute, »dass nur ein unglücklicher Zufall den Lord tötete. Er hatte den Schuss aus dem rechten Lauf einer Doppelflinte gezogen, als sich der zweite Lauf vermutlich durch ein Ungeschick seinerseits entlud.«
Whitely schien durch diese Erklärung beruhigt – er atmete leichter. »Der Schlag muss hart für Sie gewesen sein«, bemerkte er teilnehmend.
»Ich hatte viel zu leiden, aber – liebte den Lord nicht.«
»Wenn Sie ihn nicht liebten – litten Sie?«
»Ja, böse Zungen sprachen den Argwohn aus, dass ein Selbstmord das Leben des Lords beendet haben könne.«
»Lag ein Grund hierfür vor?«
»Seine Armut«, entgegnete Lady Likeness. »Seine Vermögensverhältnisse, die, wie es sich sofort nach seinem Tod herausstellte, die denkbar schlechtesten waren. Er ließ mich im Elend zurück, und ich musste von der Gnade meiner Verwandten leben – von Lord Dempsons Reichtum. Aber wie dem auch sei: An einen gewaltsamen Tod meines Mannes glaube ich nicht.«
»Es macht Ihnen alle Ehre, ihn zu verteidigen.«
»Er war doch immer mein Mann, verteidigte ich nicht seine Ehre, zöge ich die meine in den Schmutz«, lautete der jungen Dame offene Antwort. »Nur die Ehre leitet mich, für ihn zu sprechen, nicht die Liebe.«
»Sie haben viel durchgekostet«, sprach der junge Mann mit weicher Stimme, »umso eher sollten Sie einem Menschen vertrauen, der Ihnen da, wo Sie eines Ratgebers bedürfen, behilflich sein könnte. Gnädige Frau – wollen Sie sich meiner bedienen? Wollen Sie sich meinen Schutz gefallen lassen? Darf ich Ihr Ritter sein?«
Das Blut stieg ihr ins Gesicht; sie reichte ihm die kleine, ebengeformte Hand hin. »Ich danke Ihnen von ganzem Herzen, Herr Staatsanwalt, doch – was Sie begehren, kann ich nicht bewilligen; ich vermag es nicht. Ich will nicht, dass Sie Ihr Herz mir entgegentragen, ich will nicht, dass Sie mir ein Opfer bringen, und will nicht, dass Sie mich mit einer Dankbarkeit belasten, die mich erdrücken würde. Geben Sie mich auf, und muten Sie mir nicht die Qual zu, Ihnen aufzudecken, was mich erröten macht. Ich bin nicht die Frau, die Sie mit Ihren Augen in mir sehen.«
»Sie tragen eine Schuld …?«
»Bitte, fragen Sie nicht – dringen Sie nicht in mich«, wehrte sie ab, ihm das Wort abschneidend. »Ich habe Ihnen nichts weiter zu sagen.«
Charles Whitely hatte die Hand der Lady ergriffen und presste sie krampfhaft. Ein unendliches Weh hatte ihn ergriffen, und ein Sturm von Gefühlen tobte durch seine Brust. Sie liebt dich!, jauchzte es durch sein Herz, als wolle es die Seele berauschen, aber mit bleierner Schwere zog es die Flügel nieder. Ihr Nacken drückte ein Geheimnis, hinter dessen Schleier sie nicht blicken ließ.
Und doch, was sie auch begangen haben mochte, wäre es das Schwerste – welches Herz könnte verdammen, ohne von Mitleid erschüttert zu sein? Lastete auf ihr eine Schuld – wer weiß, welche Verzweiflung sie dazu hingerissen hatte, welche Dämonen man aufgetrieben, ihre Seele zum Wahnsinn zu hetzen!
Whitely drückte die Hand, die sie ihm nicht entzog, und flammend in einem glücklichen Entschluss, der ihm Herz und Seele durchloderte, ließ er sich auf die Knie vor ihr nieder. »Ich verlasse dich nicht!«, rief er und inbrünstig fügte er hinzu: »Ich liebe dich! Ich liebe dich! Wie du bist, so liebe ich dich, mit deinen Tränen bist du mir teuer. Und lastete auf dir eine Todsünde: Ich nehme die Hälfte des Fluches auf mich und helfe dir tragen! Lass mich mit dir beten, dass sich der Himmel erbarme. Ich schwöre es dir, dass ich nicht von dir weiche, bis du mir gelobt hast, die meine zu werden. Ich lege mein Amt nieder, ich werde dein Verteidiger. Sage ja, und wir gehören einander für ewig, in Lust und Leid, in Trübsal und Freude!«
Sie schlang den Arm um seinen Nacken, und eine Träne benetzte seine Wange. »Geliebter!«, flüsterte sie in seliger Verzückung. »Jetzt – jetzt erst fühle ich, was Liebe ist!«
Länger denn eine Stunde blieben sie beieinander, von Liebe und Treue sprechend, von glücklicher Zukunft. Der Abend schritt vor, und Lady Likeness war die Erste, die zum Aufbruch mahnte. »Es ist nicht gut, die Seligkeit der Stunde bis auf die Hefe zu leeren, wir müssen scheiden, die Herzen haben genug daran zu zehren.«
»Ich scheide nicht eher, bis du mir völlig vertraut hast, was dich bedrückt. Ich will und muss dir tragen helfen, wie ich es gelobt habe. Nenne mir deine Schuld, und sie soll, kaum deinen Lippen entflohen, für immer in meiner Brust verschlossen sein.«
»Nicht jetzt, nicht jetzt!«, wehrte sie ab. »Nicht in dieser heiligen Stunde. Später … morgen … wenn du willst … bestehst du darauf, auch noch heute, aber später und nicht hier, wo du mir deine Liebe gestanden hast!«
»Ich will unserer Qual ein rasches Ende machen, denn diese Mal ist nun auch meine Qual. Sage mir, wo ich dich in der nächsten Stunde treffen kann.«
»Wo?« Ohr Blick irrte ins Leere, und eine kurze Pause entstand. Dann bestimmte sie mit plötzlichem Entschluss: »Im Hause meines Oheims Dempson.«
»Dort?«, stammelte Whitely erblassend.
»Ja – dort. Das ist der richtige Ort für das, was ich dir zu gestehen habe. In einer Stunde sehen wir uns dort wieder.«
Er erwiderte nichts, sondern presste einen brennenden Kuss auf ihre Stirn. Dann verließ er das Gemach wie ein Träumender.
Kaum waren seine Schritte verhallt, so eilte Lady Likeness in ihr Ankleidezimmer, warf einen dunklen Mantel um sich und stürzte in den Salon, den das irische Moorlandschaftsgemälde schmückte. Vorsichtig blickte sie sich um, ob sie vor Späheraugen sicher sei, dann drückte sie auf die künstlich angebrachte Spinne unter dem Goldrahmen des Gemäldes. Dieses bewegte sich, und im nächsten Augenblick schloss sich die geheime Tür hinter dem Bild – Lady Likeness war aus dem Saal spurlos verschwunden.
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