Die wunderbare und merkwürdige Geschichte vom Zauberer Virgilius … Teil 6
Oskar Ludwig Bernhard Wolff
Die wunderbare und merkwürdige Geschichte vom Zauberer Virgilius,
seinem Leben, seinen Taten und seinem Ende
Volksbücher Nr.46, Verlag Otto Wigand, Leipzig
Wie der Kaiser dem Virgilius sein Erbe und seine Güter zurückgab und noch vieles andere und was sonst noch geschah
Dann verabschiedeten sie sich von Virgilius und kehrten nach Hause zurück, und als sie wieder daheim waren, gab der Kaiser Virgilius sein ganzes Land zurück, wie er es verlangte, und machte ihn zum vornehmsten Herrn in seinem Rat.
Nach diesem geschah es, dass Virgilius sich in eine schöne Frau verliebte, die schönste in ganz Rom.
Virgilius gelang es durch seine Zauberkunst, ihr seine Zuneigung vollkommen zu offenbaren; sie aber dachte in ihrem Sinne, wie sie ihn hintergehen und betrügen könnte. Sie sagte ihm, wenn er um Mitternacht an die Schlossmauer käme, wolle sie einen Korb an starken Stricken hinunterlassen und ihn darin zu ihrem Fenster hinaufziehen, um mit ihm die Minne zu pflegen. Darüber freute sich Virgilius sehr und antwortete ihr, es solle geschehen.
Nun wurde ein Tag bestimmt, an dem Virgilius zu einem Turm kommen sollte, der auf dem Marktplatz in Rom stand. Es war der höchste Turm in der ganzen Stadt.
An dem festgesetzten Tag kam Virgilius dorthin; auch die Dame wartete auf ihn, und als sie ihn erblickte, ließ sie den Korb aus dem Fenster herab.
Virgilius stieg hinein, sie zog ihn hinauf bis auf die halbe Höhe, dort aber machte sie den Strick fest und ließ ihn hängen, worauf sie zu ihm sagte: »Ihr seid geführt, und ich lasse euch bis morgen früh hängen, denn es ist Markttag, und das ganze Volk soll euch sehen und sich wundern und eure Unredlichkeit merken, mit der ihr mich zu bösen Dingen verleiten wolltet.«
Mit diesen Worten schlug sie das Fenster wieder zu und ließ ihn hängen, bis es Tag wurde, so dass alle Leute in Rom davon erfuhren und auch der Kaiser sich ihrer schämte.
Dieser sandte zu der Dame und bat sie, den Virgilius wieder herunterzulassen, was auch geschah. Als Virgilius nun wieder frei war, schämte und ärgerte er sich sehr und schwor, sich bald an ihr zu rächen. So ging er in seinen Garten, der der schönste in ganz Rom war, nahm seine Bücher und löschte durch seine Kunst und Zauberei alles Feuer aus, das in Rom war, und niemand konnte von außen Feuer in die Stadt bringen. Und es dauerte einen ganzen Tag und eine ganze Nacht, und niemand hatte Feuer außer ihm, und es wollte auch niemand in ganz Rom gelingen, Holz oder sonst etwas Brennbares zum Brennen zu bringen. Da erschraken der Kaiser und alle seine Fürsten und das ganze Volk zu Rom und wunderten sich sehr, dass in der ganzen Stadt kein Feuer brennen wollte, und meinten, kein anderer als Virgilius könne es ausgelöscht haben.
Da schickte der Kaiser einen Ratsherrn zu ihm und befahl ihm, das Feuer wieder anzünden zu lassen.
»Das will ich tun«, antwortete Virgilius, »aber Ihr müsst mitten auf dem Marktplatz ein hohes Gerüst aufstellen lassen und dieselbe Frau darauf setzen, die mich gestern in den Korb gesetzt hat. Ihr müsst auch Ausrufer durch die ganze Stadt gehen lassen, die ausrufen und verkünden, dass jeder, der Feuer haben will, auf den Markt gehen, auf das Gerüst steigen und es aus dem Schoß der Dame holen muss, sonst bekommt er keines. Wisset auch, dass einer dem andern kein Feuer geben und verkaufen kann, und dass ihr das tun müsst, so ihr Feuer haben wollt.«
Als nun das Volk solches hörte, strömte es zum Markt; und der Kaiser und seine Räte sahen wohl ein, dass es kein anderes Mittel gäbe, als dem Virgilius zu Willen zu sein. So ließen sie eilends auf dem Markt ein großes Gerüst bauen, holten die edle Frau mit Gewalt aus ihrer Wohnung und setzten sie auf das Gerüst.
Wenn nun jemand mit einer Fackel, einem Licht oder einem Strohbündel ihren Schoß berührte, so brannte sogleich die Fackel, das Licht und das Stroh, und Reich und Arm liefen herbei, um sich mit Feuer zu versorgen. Drei Tage musste die Dame dort sitzen, sonst drohte Virgilius, das Feuer wieder auszulöschen. Als aber der vierte Tag anbrach, durfte sie wieder nach Hause gehen, was sie auch mit großer Scham tat, wohl wissend, dass es ihr nicht so schlecht ergangen wäre, wenn sie nicht vorher dem Virgilius einen solchen Streich gespielt hätte.
Bald darauf heiratete Virgilius, und als die Hochzeit vorüber war, baute er einen prächtigen Palast mit vier Ecken. Als er fertig war, setzte er den Kaiser in eine der vier Ecken. Der Kaiser hörte und verstand deutlich, was die Leute in dem ganzen Stadtviertel sagten und taten, auf das diese Ecke hinausging. Und in gleicher Weise stellte er ihn auch in die drei anderen Ecken, und dort hörte und vernahm er ebenso deutlich, was die Leute in den drei anderen Stadtvierteln Roms sagten oder taten, so geheim sie auch miteinander verhandelten. Wer in einer der Ecken des Palastes saß, dem blieb nichts verborgen.