Archive

Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs – Band 8 – 3. Kapitel

Aus den Geheimakten des Weltdetektivs
Band 8

Die Geliebte des Staatsanwalts

3. Kapitel

Gesteigerter Verdacht

Staatsanwalt Whitely saß in seinem Arbeitszimmer; doch heute fehlte ihm die Ruhe zur Arbeit. Umsonst hatte er sich bemüht, die Erinnerung an Lady Likeness zu verscheuchen. Sie kehrte immer wieder zu ihr zurück und zu dem unaufgeklärten Mord ihrer Verwandten. Der junge Staatsanwalt vermochte keinen klaren Gedanken für etwas anderes zu fassen. Solange ihn der Zweifel beschäftigte, was in dieser Mordsache zu tun sei, musste er die Arbeit weglegen.

Am peinlichsten war ihm die Erinnerung, dass Sherlock Holmes das Fest besucht hatte. Dieser Gast musste zweifellos einen bestimmten Zweck mit seiner Anwesenheit in der Villa Likeness verbunden haben. Er kannte den Detektiv genug, um sich sagen zu müssen: Ohne irgendeine Absicht besuchte Holmes selbst ein so harmloses, nur dem Vergnügen gewidmetes Fest nicht.

Whitely war noch in tiefes Grübeln versunken, als Sherlock Holmes gemeldet wurde. Der Mann kam ihm gerade recht.

»Nun?«, fragte der Staatsanwalt, den Eintretenden freundlich grüßend. »Hat Ihr Scharfblick gestern etwas Erfolgreiches ausgeforscht?«

»Die Sache liegt nicht so einfach, wie sie scheint«, erwiderte Holmes gelassen.

»Was meinen Sie damit? Haben Sie wirklich etwas festgestellt? Dachte ich es mir doch, dass dieses der Zweck Ihres gestrigen Besuches dort war.«

»Wenn Sie gestatten, Herr Staatsanwalt, schweige ich noch darüber. Ich bin auf einer Spur«, erklärte der Detektiv, »die mich vielleicht zu wichtigen Entdeckungen führt.«

»Mr. Holmes, ich bedaure, Ihre Wünsche nicht er­füllen zu können. Überdies schafft es Ihnen keine Konkurrenz, wenn Sie mir Ihre Geheimnisse anvertrauen. Ich werde keinen anderen mit der Verfolgung einer An­gelegenheit betrauen, die von Ihnen erfolgreich begonnen worden ist.«

»Herr Staatsanwalt …«

»Keinen Einwand, Mr. Holmes«, unterbrach ihn Whitely mit einer Strenge, die Holmes der Jugend und dem Eifer des Vorgesetzten nachsichtig zugutehielt. »Ich habe Ursache für meine Forderung. Es ist möglich, dass Lady Likeness die Stadt verlässt – ich müsste demnach über alles, was sie betrifft, schleunige Nachricht erhalten.«

»Die Lady beabsichtigt, das Haus ihres Oheims zu beziehen«, gab der Detektiv gleichgültig zur Antwort, »und nicht zu verreisen.«

»Wie, wissen Sie …?«

»Ich weiß es«, schnitt der Detektiv den Satz mit einer Schroffheit ab, die jedes Eingehen auf nähere Aus­kunft kategorisch von sich wies. »Weshalb vermuten Sie, Herr Staatsanwalt, dass ich etwas über die Lady zu sagen habe?«

Der junge Mann wechselte die Farbe. »Weil … weil Sie in ihrem Haus gestern den Beobachter spielten«, stotterte Whitely.

»Konnte meine Beobachtung nicht anderen Personen gelten?«

»Allerdings. Doch liegt der Gedanke nahe …«

»Lassen Sie es mich nochmals betonen, dass ich meine Wahrnehmungen – weil noch nicht reif – für mich be­halte. Doch hoffe ich, bereits in den nächsten Tagen Ihnen Näheres mitteilen zu können. Heute hat mich nur die Absicht zu Ihnen geführt, Herr Staatsanwalt, Ihnen die Mitteilung zu machen, dass ich für einige Tage abwesend sein werde.«

»Sie wollen verreisen?«

»Für einige Zeit will ich als von London abwesend gelten«, erklärte Holmes.

»Das heißt: Sie bleiben in der Stadt …«

»Und gelte als verreist«, vollendete der Detektiv.

»Ohne mir mitzuteilen …«

»Worum es sich handelt, Herr Staatsanwalt – ich bestehe darauf, wenn mein Plan gelingen soll. Aber ich habe noch einen Wunsch. Die Unterzeichnung eines Haftbefehls – für alle Fälle.«

»Eines Haftbefehls?«, rief der Staatsanwalt er­schrocken. »Gegen wen?«

»Gegen Lady Likeness.«

Whitely war so wenig Herr seiner Bewegung, dass er selbst fühlte, wie seine Gesichtszüge ihn verrieten.

»Ich denke«, erklärte Holmes mit stoischer Ruhe, »dass es sehr gut wäre, wenn die Gleichheit vor dem Gesetz in allen Gesellschaftsklassen herrschte, und ich, ohne die schwerste Verantwortung auf mich zu ziehen, jedermann amtlich vernehmen und – wenn es sein muss – verhaften könnte.«

»Es herrscht Gleichheit vor dem Gesetz«, rief Whitely zornig, »wo ich als dessen Anwalt stehe, soll dieser Vorwurf, der in Ihren Worten liegt, nicht erhoben wer­den. Nennen Sie nur Ihren Verdacht, und finde ich Ihre Handlungsweise gerechtfertigt, so sollen Sie freie Hand haben.«

»Herr Staatsanwalt, ich bin vielleicht auf falschem Wege und möchte nicht einen Argwohn aussprechen, den ich nicht unter Beweis stellen kann. Ich bitte dringend darum, schweigen und nach meinem Ermessen handeln zu dürfen. Nur dann werde ich in die Lage kommen, entweder meinen Irrtum aufzuklären oder Beweise zu liefern, die mein Einschreiten rechtfertigen. Sie interessieren sich für Lady Likeness, die Dame ist von Rang und Ansehen – ein ausgesprochener Verdacht wäre schon eine Beleidigung. Kann ich frei agieren, so werde ich mit aller Vorsicht meine Fährte verfolgen.«

»Nichts davon!«, rief Whitely heftig. »Und wäre es meine Schwester: Das sollte sie nicht schützen. Ich will Ihren Verdacht kennen, weil es schon ein Schimpf für die Lady ist, dass ein Argwohn gegen sie existiert, viel­leicht bin ich imstande, diesen zu zerstreuen. Sprechen Sie, Mr. Holmes.«

»Selbst auf die Gefahr hin, Sie ernstlich zu erzürnen, halte ich es für den Erfolg der Sache für geboten, über meine vorzunehmenden Schritte ebenso zu schweigen, wie über meine bisher gemachten Wahrnehmungen«, erklärte Holmes mit fester Stimme und unerschütterlicher Ruhe. »Ich diene nur dem Interesse der Sache, Herr Staatsanwalt, der jeder Richter dienen muss, wenn er ein gerechter Richter sein und bleiben will.«

Der Staatsanwalt biss sich auf die Lippen und wandte sich ab. »Gehen Sie. Ich mache Ihnen keine Vorschriften«, stieß er zwischen den Zähnen hervor. »Den Haftbefehl werde ich jedoch im Augenblick nicht unter zeichnen – Sie sollen ihn, falls es notwendig ist, zur rechten Zeit ausgehändigt erhalten. Gehen Sie.«

Sherlock Holmes konnte ein mokantes Lächeln nicht unterdrücken. Er erwiderte jedoch nichts, sondern verließ mit einer leichten Verbeugung das Büro.

 

Das Haus, das Lord Dempson bewohnt hatte, lag inmitten eines Gartens. Prachtvolle Blumenbeete um­gaben es im Sommer, und die Bäume standen hochragend rings umher wie Riesenwächter über den einsam liegen­den Besitztum, das Lady Likeness geerbt hatte.

In der Dämmerstunde eines Abends betrat ein Mann in einfachem Arbeiterkittel das Haus, schloss es sorglos auf, verriegelte dann aber die Tür behutsam hinter sich und stieg die Stufen zum Hochparterre hinauf, wo die Gemächer lagen, in denen der ermordete Lord mit seiner Gemahlin gelebt und geschlafen hatte.

Der einem Arbeiter gleichende Mann war Sherlock Holmes, der die Verkleidung angelegt hatte, um bei etwaiger Begegnung mit bekannten Polizisten oder früheren Be­diensteten des Lords unerkannt bleiben zu können. Zu seinem Plan bedurfte er des Unerkanntseins.

In das Schlafzimmer gelangt, in dem der Lord als Leiche gefunden worden war, begann Holmes zum dutzendsten Mal eine genaue Untersuchung der Wände, der Decke und des Fußbodens. Doch auch diesmal, wie bisher, ohne Erfolg! Immer wieder sagte sich der De­tektiv, dass sich der Mörder nicht unsichtbar gemacht haben könne, dass ein Mensch nicht verschwinden, nicht in einer Nebelkappe davongehen könne, dass es einen natürlichen Ausweg aus einem der beiden Schlafgemächer geben müsse, dessen Entdeckung einem Unbekannten nur durch Zufall möglich sei. Diesen Weg zu finden, war seine Auf­gabe und obwohl er ihn bisher vergebens gesucht hatte, kam er doch immer wieder auf denselben Gedanken zurück. Diesmal angeregt durch eine Episode auf dem gestrigen Fest bei Lady Likeness.

Beim Durchschreiten der Säle war Holmes nämlich an ein Bild getreten, das eine irische Moorlandschaft darstellte. Das Gemälde hob sich durch farbenprächtige Stimmung hervor, und der Detektiv hatte es längere Zeit bewundert. Plötzlich gewahrte er an der unteren Leiste des Goldrahmens ein winziges Spinnennetz, in dessen Mitte eine Spinne saß. Holmes wollte das Tier – mehr aus Reinlichkeitssinn, als aus Mäßigkeit – ver­jagen und streifte es mit dem Zeigefinger. Das Tierchen rührte sich nicht. Das war bei der Empfindsamkeit der Spinnen auffallend. Er berührte die Bewohnerin des winzigen Netzes stärker und bemerkte nun, dass das Tier ein kleines Kunstwerk war. Bewundernd schaute er es von allen Seiten an und wollte es eben vorsichtig vom Rahmen lösen, um es in die Hand zu nehmen, als Lady Likeness hinzutrat und mit hastigem Griff nach seinem Arm ihn an der Ausführung seiner Absicht hinderte.

»Was wollen Sie da?«, rief sie mit einer so zornig verstörten Miene, dass ihr schönes Gesicht rote Flecke der Erregung erhielt. »Es ist ein kleines Kunstwerk und ein Andenken«, erklärte sie. »Zerstören Sie es nicht mit rauer Hand.«

Holmes entschuldigte sich und wollte das Zimmer, in dem das Bild mit der imitierten Spinne hing, ver­lassen, als die Lady noch erklärend hinzufügte: »Ähnliches existiert nur noch einmal auf der Erde, soviel mir bekannt, und das ist eine Kopie in meines verstor­benen Oheims Schlafgemach.«

Diese Worte fielen Holmes auf. Er erinnerte sich, in Lord Dempsons Zimmern ein größeres Gemälde ge­sehen, doch das Spinnennetz nicht wahrgenommen zu haben.

Während des gestrigen Festabends nun war dieses kleine Kunstwerk dem Detektiv immer wieder eingefallen und er hatte, einen unbewachten Augenblick benutzend – den, der Lady Likeness mit ihrem leidenschaftlichen Anbeter, Staatsanwalt Whitely, beschäftigte – das Zimmer mit dem irischen Moorlandschaftsgemälde nochmals aufge­sucht. Vorsichtig griff er nach der Spinne und siehe: Ein geheimer Mechanismus, der durch das kunstvoll an­gebrachte Tierchen in Bewegung gesetzt sein musste, öff­nete eine Tür, die von dem Moorlandschaftsgemälde ver­borgen gelegen in einen dunklen Raum führte. Wo­hin? Das vermochte er nicht feststellen, interessierte ihn auch im Augenblick nicht. Ihm fielen jedoch die Worte Lady Likeness’ ein, dass eine Kopie des Spinnennetzes in ihres Oheims Schlafzimmer existiere.

Bewegte die Spinne auch hier einen Mechanismus, der einen Eingang in geheimnisvolle Räume oder gar Gänge freilegte, dann war das Rätsel, wie der Mörder Lord Dempsons und seiner Gemahlin in das Schlafzimmer gelangt und wieder aus diesem verschwunden war, gelöst.

Und der Täter selbst? Ihn musste Lady Likeness kennen, denn sie kannte den Mechanismus, der in ihrer Villa eine Geheimtür öffnete.

Sofort stand es bei Sherlock Holmes fest, am nächsten Tag in das Haus des ermordeten Lords einzudringen. Erst gegen den Abend fand er dazu Gelegenheit in der Maske eines Arbeiters.

Prüfend glitten seine Blicke die Wände hinunter.

Dort hing das Gemälde, und unter der Goldrahmenleiste bemerkte er nun auch die ihm bis dahin entgangene kunst­volle Kopie des Spinnennetzes. Hastig drückte er auf die Spinne. Nichts rührte sich.

Enttäuscht trat er zurück.

»Doch nichts?«, murmelte er. Noch einmal fasste er die Spinne mit fester Hand – da ließ sich ein leises Geräusch hören – das Bild bewegte sich und ein befriedigtes Lächeln bedeutete, dass er das Richtige entdeckt hatte: den Weg, den der Mörder genommen haben musste, als er zu seiner grauenerregenden Tat in diese Gemächer eindrang.

Hinter der Öffnung sah Holmes eine gähnende dunkle Leere. Ohne Besinnen schob er einen Stuhl an die Tür, dass sie sich in ihren Angeln nicht zurückdrehen konnte, holte eine elektrische Taschenlaterne hervor und beleuchtete vorsichtig das Dunkel hinter der Öffnung.

Ein schmaler Gang führte inmitten der starken Mauer zu einer gewundenen Treppe, die senkrecht in die Tiefe fiel. Schritt vor Schritt ging Holmes sie hinab und ge­langte in einen zweiten Gang, den er eine Strecke hinunterschritt.

In diesem Augenblick vernahm sein lauschendes Ohr ein knackendes Geräusch über sich.

»Das war die geheimnisvolle Tür hinter dem Ge­mälde«, durchblitzte es sein Gehirn. Rasch wandte er sich zurück, stieg die gewundene Treppe aufwärts und eilte den Gang hinauf. Die Öffnung, durch die er in den­selben gedrungen, war verschwunden – die Tür hatte sich geschlossen, und Holmes war ein Gefangener.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert