Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs – Band 8 – 2. Kapitel
Aus den Geheimakten des Weltdetektivs
Band 8
Die Geliebte des Staatsanwalts
2. Kapitel
Zauber der Schönheit
Lady Likeness, eine Nichte des ermordeten Lords Dempson, gab eine große Festlichkeit in ihrer Villa. Unter den Gästen befanden sich Sherlock Holmes und ein junger Staatsanwalt mit Namen Charles Whitely, die abseits von dem Treiben beieinander in angeregtem Gespräch standen.
»Wie strahlend schön die Lady wieder ist!«, bemerkte der Staatsanwalt, während sein Blick bewundernd der jungen Gastgeberin folgte.
Der Detektiv lächelte. In seinem gesetzten Alter konnte er nachsichtig sein und die feurige Jugend entschuldigen, wenn sie dem Magnet der Schönheit nicht widerstand.
Charles Whitely war seit Kurzem aus der Provinz nach London versetzt worden. Es war der erste Ball, der die Ersten der Gesellschaft des Villenviertels, in dem Lady Likeness wohnte, vereinigte. Der junge Staatsanwalt wurde gewiss von vielen heiratslustigen Damen als Tänzer ersehnt, denn abgesehen davon, dass ihm allem Anschein nach eine ausgezeichnete Karriere bevorstand, da er schon früh einen wichtigen Posten erhalten, war sein Äußeres ansprechend, und ein sehr guter Auf hatte ihn hierher begleitet.
»Lady Likeness dürfte etwa sieben Jähre jünger sein, als Sie«, meinte der Detektiv, »ihr Vermögen ist sehr bedeutend, und sie würde vortrefflich repräsentieren.«
Whitely schoss das Blut ins Gesicht.
»Sie scherzen«, versetzte er. »Abgesehen von allen anderen Vorzügen, die jemand besitzen müsste, um bei einer so gefeierten Schönheit die Nebenbuhler besiegen zu können, fehlt mir der Adel, und die Lady scheint gerade darauf viel Gewicht zu legen.«
»Das bezweifle ich«, wandte Holmes ein. »Wenn das der Fall wäre, würden dann Sie und ich zu diesem Fest geladen worden sein?«
Der junge Staatsanwalt machte ein möglichst verdutztes Gesicht.
»Allerdings – freilich«, stotterte er. »Dabei fällt mir eine Frage ein, Mr. Holmes – sind Sie von der Lady direkt geladen oder führt Sie Ihr Amt in die Mitte dieses Kreises?«
»Ich huldige heute lediglich dem Vergnügen«, antwortete der Detektiv mit undurchdringlicher Miene. »Auch mich lockt die königliche Erscheinung unserer Gastgeberin, denn ich bin noch nicht verrottet genug, um über den Zauber der Schönheit mit gleichgültigen Augen hinwegzusehen. Was Sie da von dem Adel sagten, dürfte auf die Lady keine Anwendung finden. Ich halte sie für viel zu klug, um zu glauben, dass sie hochmütig auf einen leeren Titel sei. Ich wette, dass sie den schönen Kopf ebenso stolz tragen würde, wenn sie sich Frau Whitely nennen sollte.«
»Mr. Holmes!«
»Verzeihung, Herr Staatsanwalt – ich würde mich vorsehen; so zu sprechen, wenn ich nicht überzeugt wäre, dass eine solche Möglichkeit vorhanden ist. Die Lady verrät Interesse, wenn von Ihnen gesprochen wird.«
Es leuchtete hell in den Augen des jungen Mannes auf.
»Diese Mitteilung macht mich sehr glücklich«, bemerkte er freudig.
»Also, Herr Staatsanwalt – greifen Sie zu«, ermutigte den jungen Mann der Detektiv mit einem unerklärlichen Blick, hinter dem eine bestimmte Absicht zu lauern schien.
»Kennen Sie die näheren Verhältnisse der Lady?«
»Nur, was alle Welt weiß«, antwortete Holmes. »Lady Likeness ist die Nichte des vor einem halben Jahr auf geheimnisvolle Weise ermordeten Lords Dempson. Sein großes Vermögen fiel der Lady, als der einzigen Erbin, in den Schoß, und mithilfe dieses Reichtums macht sie ein großes Haus. Sie kann es sich leisten, denn das Kapital, das sie ererbt, ist ein schier unerschöpfliches, und der künftige Ehemann wird mithilfe dieses Erbes zu den Reichsten der Stadt gehören.«
»Hat die Lady keine Verwandte?«
»Nein.«
»Und ihr Oheim?«
»Ist, wie ihre Tante, ermordet worden.«
Whitely sah den Detektiv mit fragenden Blicken an.
»Wer war der Mörder?«
»Ein Unbekannter«, erwiderte Holmes mit hochgezogenen Schultern. »Man hat bisher nicht die geringste Spur des Täters entdecken können, trotz der fieberhaftesten Bemühungen und des regsten Eifers.«
»Dann sollten Sie die Sache in die Hand nehmen, Mr. Holmes«, sagte der junge Staatsanwalt voller Erregung. »Ihre bewährte, niemals fehlgehende Kunst …«
»Pardon, Herr Staatsanwalt«, fiel der Detektiv ein, »ich habe die Sache in der Hand, aber auch mir – zum ersten Mal – auch meiner Kunst, meinem Scharfsinn ist es bisher nicht gelungen, auch nur die leiseste Fährte zu entdecken. Ich stehe vor einem Rätsel, an dessen Lösung ich verzweifle.«
»Unmöglich!«
»Aber wahr.«
»Und Sie sind – wenn ich richtig kombiniere – auf dem heutigen Fest in der Absicht hier, eine Spur des Täters zu finden? In diesem Haus?«, ereiferte sich der junge Beamte.
»Wer sagt Ihnen das?«, erwiderte Holmes gelassenen Tones und mit undurchdringlicher Miene. »Ich wiederhole Ihnen die bereits vorhin abgegebene Erklärung, dass ich lediglich des Vergnügens halber hier bin.«
»Aber der Mörder muss gefunden werden!«
»Müsste«, verbesserte der andere mit lächelndem Mund, »vorläufig sind keine Aussichten dafür vorhanden. Was in der Angelegenheit geschehen kann, geschieht. Lassen Sie sich darum nicht den heutigen Abend verderben und – von der Huldigung der schönen Lady abhalten.«
»Ich will nicht leugnen, dass der Zauber dieser jungen Dame etwas verführerisches und Berauschendes für mich hat, dass ich mich von magnetischer Kraft angezogen fühle, doch wo die Leidenschaft in Flammen auflodern will, muss die Vernunft umso fester ihre Willenskraft geltend machen. Solange der Mörder der Verwandten von Lady Likeness nicht gefunden worden ist, darf ich unmöglich ihren Zauber auf meine erregbare Natur wirken lassen.«
In diesem Augenblick trat die Lady aus einem Seitenkabinett zu den beiden Herren heran.
»Sie tanzen nicht, Herr Staatsanwalt?«, fragte sie mit weicher, melodischer Stimme. »Warum tanzen Sie nicht?«
»Lady«, stotterte er, verwirrt von ihren Blicken und bebend, ihr mehr zu verraten, als er ihr zugestehen wollte, »ein Staatsanwalt …«
»Ach, das ist ja Torheit«, unterbrach sie ihn rasch, »warum soll der Beamte eines so ernsten Berufes nicht auch tanzen? Ich bitte Sie, meinen Arm zu nehmen und mich in den Tanzsaal zu führen.«
Whitely starrte die Lady etwas betroffen an; doch klangen die Worte »Ich bitte Sie« von diesen Lippen so weit, dass er ins Feuer gegangen wäre, um ihren Wunsch zu erfüllen.
»Ich gehorche, Lady«, antwortete er und reichte ihr seinen Arm.
Sie nahm ihn, legte die kleine behandschuhte Hand hinein und schmiegte ihren Körper an den seinen. Ihn durchströmte das wallende Blut glühend heiß bei der Berührung ihrer schönen Hand. Die sanfte Milde holder Weiblichkeit bezauberte ihn an dem jungen Weib neben sich. Der Klang ihrer Stimme hatte an die Saiten des Herzens angeschlagen, und in ihm vibrierte nun jeder Nerv edlen Gefühls.
Wenn dieses junge, blühende Geschöpf sich ihm anvertrauen wollte – wenn er in ihren Augen richtig las, was er zu lesen glauben, gern glauben mochte: glühende Gegenliebe, heiße Leidenschaft, dann, ja dann …
Sie traten in den Tanzsaal.
Rauschende Musik empfing sie – eine einschmeichelnde rhythmische Weise. Lady Likeness ruhte an seiner Brust und flog mit ihm im Tanzschritt durch den Saal. Whitely sah nicht die lächelnden Mienen der Zuschauenden, das beifällige Nicken flüsternder Gruppen, das Nicken des Beifalls – er sah nichts, nichts, als die Lady, ihr glückselig strahlendes Gesicht, vom Flammenmeer der Hunderte von Lichtern beleuchtet, und die allmählich dunkler werdende Röte der Wangen. Wie im Rausch drehte er sich mit seiner Tänzerin und schwelgte in diesen einzigen, kostbaren Minuten, im Genuss eines atemraubenden Zaubers …
Sherlock Holmes war langsam in die Eingangstür zum Tanzsaal getreten. Mit ernsten Blicken folgte er den eleganten Bewegungen des tanzenden Staatsanwalts und seiner Dame, und hinter seiner Stirn jagten sich die Gedanken, die in dem einen gipfelten: »Die Spur des Mörders der Lord Dempsonschen Eheleute ist entdeckt. Nun heißt es, den Mörder überführen und entlarven!«
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