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Der Mirabellenbaum

Hanno Berg
Der Mirabellenbaum

I

 

Einst lebten im Elfenlande Zor ein junger Elfenkönig namens Merchor und seine Frau Lis. Lis war schwanger von ihrem geliebten Mann. Die beiden jungen Leute konnten gar nicht erwarten, dass ihr Kind endlich das Licht der Welt erblickte.

Als die Zeit der Niederkunft gekommen war, rief Merchor die Hebamme zu seiner Liebsten. Die Wehen hatten schon eingesetzt und die Hebamme tat ihr Bestes. Aber es sollte nicht sein, dass Lis ihr Kind behielt. Sie gebar eine tote Tochter und niemand konnte etwas dagegen tun. Fast wäre die Elfenkönigin auch noch gestorben, doch der Arzt, den Merchor ebenfalls gerufen hatte, konnte solches gerade noch verhindern.

Merchor und Lis waren tieftraurig, dass ihr Kind nicht überlebt hatte, und das ganze Land trauerte mit ihnen. Endlich wurde es Zeit, das tote Elfenkind zu begraben.

»Begrabt Euer Kind im Tal des Nebels, das inmitten der Berge von Callap gelegen ist!«, sagte da der Priester zum Elfenkönig. »Und pflanzt am Kopfende des Grabes einen jungen Mirabellenbaum in die Erde! Die Weisen des Landes haben gesagt, dass die Seele Eurer Tochter so ganz sicher ins Reich des Lichts gelangt.«

»Wir werden tun, was Ihr gesagt habt«, sagte die Elfenkönigin, die es für wichtig hielt, alles für das Seelenheil ihres geliebten Kindes zu tun.

Merchor nickte und ließ den Sarg des Kindes auf einen Wagen laden, der von vier Schimmeln gezogen wurde. Anschließend bestieg er sein eigenes Pferd und befahl einigen seiner Krieger, ihn ins Tal des Nebels zu begleiten und einige Spaten mitzunehmen, um die Kleine begraben zu können und auch einen jungen Mirabellenbaum zu pflanzen. Dann setzte sich der Zug in Richtung auf die Berge von Callap in Bewegung.

 

II

 

Einige Tage später hatten der Elfenkönig und seine Krieger die Berge von Callap erreicht. Sie ritten auf einen der Gipfel hinauf und konnten von dort das Tal des Nebels sehen, das sich inmitten der Berge befand und tatsächlich ganz von Nebel ausgefüllt wurde. Merchor gab den Befehl, mitten in das Tal hineinzureiten und ritt voran. Seine Leute folgten ihm. Als sie unten angekommen waren, konnten sie nur wenige Meter weit sehen, da der Nebel sehr dicht war und ihnen die Sicht raubte. An einer Stelle inmitten des Tales, an welcher weiches Moos wuchs und der Nebel etwas lichter war, befahl der Elfenkönig seinen Leuten, das Grab für seine tote Tochter vorzubereiten.

Die Krieger gruben an der vorgesehenen Stelle zwei Löcher, das eine für den kleinen Sarg der Toten, das andere für den jungen Mirabellenbaum, der an ihrem Grab stehen sollte. Endlich konnten sie das tote Kind beisetzen. Dann pflanzten sie den jungen Baum am Kopfende des Sarges ein und schütteten die Löcher mit Erde zu.

Der Elfenkönig stand noch eine Weile stumm am Grab seiner Tochter. Endlich aber wandte er sich seinen Leuten wieder zu und gab den Befehl zum Aufbruch.

 

Eines Abends kamen die Männer wieder am Königsschloss von Zor an. Merchor wollte gerade seine Gemächer im Erdgeschoss aufsuchen, als ihm der Hofarzt entgegentrat.

»Wartet, Herr, es ist etwas Schlimmes geschehen, auf das ich Euch vorbereiten muss!«

»Was müsst Ihr mir Schlimmes verkünden? Ist etwas mit Lis, meiner geliebten Frau?«

»So ist es, Herr«, entgegnete der Arzt.

»Was ist geschehen?«, fragte der junge Elfenkönig.

»Eure Frau ist vor zwei Tagen in einen todesähnlichen Schlaf verfallen«, gab der Arzt zur Antwort. »All meine Kunst hat nicht ausgereicht, sie aufzuwecken!«

»Heißt das, sie wird nie wieder erwachen?«

»Ich fürchte, ja! Eine alte Seherin aus der nahen Stadt, die ich zu Rate zog, hat mir gesagt, Eure Gattin werde nur dann wieder aufwachen, wenn sie von ihrer Tochter einen Kuss bekomme. Aber Eure Tochter ist doch tot!«

Merchor schüttelte wie wild den Kopf und brach in Tränen aus. Dann reckte er die Hände gen Himmel und schrie: »Mein Gott, warum hast du uns verlassen?«

Völlig außer sich schleppte er sich in Begleitung des Arztes und seiner Diener in die Gemächer seiner Frau und trat an ihr Lager. Er kniete neben ihr, legte seinen Kopf auf ihre Brust und weinte hemmungslos. Stundenlang konnte er sich nicht beruhigen, und als er endlich spät in der Nacht zu Bett ging, fand er keinen Schlaf. Im Lauf der kommenden Tage zog er sich völlig vom Leben zurück und verkroch sich in seinen Gemächern, aus denen er nicht mehr herauskam. Er ließ außer einigen vertrauten Dienern und dem Priester niemanden mehr zu sich kommen und die Zeit verging.

 

III

 

Am achtzehnten Todestag der Tochter des Elfenkönigs ging über dem Tal des Nebels die Sonne auf. Diesmal aber lösten ihre Strahlen, wie sie es noch nie zuvor vermocht hatten, den Nebel im Tal vollständig auf. Die Natur, die lange Jahre geschlafen hatte, erwachte im Nu zum Leben, das Gras am Boden ergrünte, bunte Blumen erblühten überall und der Mirabellenbaum am Kopfende des Grabes der Tochter des Elfenkönigs trug zum ersten Mal Früchte. Auch die Tiere erwachten zum Leben. Rehe und Wildschweine tummelten sich im Tal, bunte Falter flatterten von Blume zu Blume und die Vögel sangen wieder, einer schöner als der andere.

Einige Stunden, nachdem die Sonne den Nebel vertrieben hatte, flog ein Schwarm von Paradiesvögeln über das Tal hinweg. Als die Vögel jedoch den Mirabellenbaum am Grab der Königstochter erreicht hatten, setzten sie sich auf seine Zweige und fraßen die Früchte des Baumes, bis keine davon mehr übrig war. Dann schwang sich der Vogelschwarm wieder in die Lüfte und flog davon.

In dem Moment aber, als alle Paradiesvögel den Mirabellenbaum verlassen hatten, reckte und streckte dieser seinen Stamm und die Äste und raschelte mit den Blättern. Endlich aber verwandelten sich seine Glieder langsam in die Glieder eines Elfenmädchens, sein Stamm wurde zu einem Elfenleib, die Blätter wurden zu langen braunen Haaren und seine Rinde wurde zu einem wunderschönen roten Kleid. Das Elfenkind war gerade achtzehn Lenze alt und wunderhübsch anzuschauen. Es schüttelte sich, als ob es sich nach langen Jahren zum ersten Mal bewegte. Dann ging es, langsam und vorsichtig, als ob es solches zum ersten Mal täte, einige Schritte vorwärts, und schließlich tanzte es umher und sang mit lieblicher Stimme ein fröhliches Lied.

Nachdem die junge Elfenfrau sich im Tal umgeschaut hatte, entschloss sie sich, in die Welt hinauszuziehen und machte sich auf den Weg zur Spitze der umliegenden Berge und darüber hinaus in die Ferne, dorthin, wo ihr Platz sein mochte, unter den anderen Elfen.

 

IV

 

Das Elfenmädchen wanderte einige Tage ziellos durch das Land. Am dritten Tag aber traf es einen Wichtel namens Toe, der es nach seinem Namen fragte.

»Ich habe noch keinen Namen«, sagte sie. »Ich war ursprünglich ein Mirabellenbaum und habe mich daraus, weil ein Schwarm Paradiesvögel im Nu all meine Früchte fraß, in eine Elfenfrau verwandelt. Einen Namen hat mir bisher noch niemand gegeben.«

»Dann nenne ich dich von jetzt an Tine«, sagte der Wichtel und lachte.

»Ein schöner Name, Toe«, sagte Tine. »So will ich gerne heißen.«

Dann wanderten die beiden eine Weile weiter, bis der Wichtel merkte, dass Tine eigentlich gar kein Ziel hatte. Als er sie fragte, ob sie denn nirgendwo hingehöre, antwortete Tine, sie komme aus dem Tal des Nebels und wisse nicht, was ihre Aufgabe in der Welt der Elfen sei.

»Das können dir sicher die Rieseneichen von Namara sagen«, sagte da der kleine Toe. »Sie wissen Bescheid über die Bestimmung der Lebewesen, und da du früher selbst ein Baum warst, kennst du ihre Sprache und verstehst, was sie dir sagen. Lass uns nach Namara ziehen, das eine waldreiche Region im Norden ist!«

Tine war einverstanden und so zogen die beiden gen Norden, um die Rieseneichen von Namara nach Tines Bestimmung zu fragen.

 

»Dies sind die gesuchten Rieseneichen«, sagte Toe, als sie einen kleinen Hain in Namara erreicht hatten, der tatsächlich aus acht riesigen Eichen bestand, die im Kreis um einen kleinen moosbewachsenen Platz angeordnet waren. »Los, Tine, frage die Bäume, was deine Bestimmung ist!«

»Psst, Toe, halt den Mund!«, sagte Tine leise und legte den Zeigefinger auf ihre Lippen. »Bäume reden anders miteinander als die übrigen Lebewesen. Sie scheinen sich nicht zu äußern und erzählen einander doch sehr viel. Vielleicht bin ich noch dazu in der Lage, auf ihre Weise mit ihnen zu reden. Ich war schließlich vor gar nicht langer Zeit selbst noch ein Baum. Gib mir ein Papier und einen Stift, damit ich aufschreiben kann, was die Rieseneichen mir sagen!«

Sie bekam aus dem Ranzen, den der Wichtel bei sich trug, was sie haben wollte, und setzte sich inmitten der Eichen ins Gras. Minuten später beobachtete Toe, dass ein leichter Wind die Kronen der Eichen bewegte, wobei diese rauschten, ächzten und stöhnten, und dass sich Tines Haar dazu im Wind bewegte. Im selben Moment begann Tine wie in Trance, zu schreiben. Sie schrieb das Folgende und noch mehr auf ihren Zettel:

»WF YRHG WRV GLXSGVI WVH VOUVMPLVMRTH NVIXSLI FMW HVRMVI UIZF QRH.

WVRMR NFGGRI RHG RM VRMVM GLWVHZVSMQRXSVM HXSQZU TVUZQQVM …«

Dann hörte der Wind auf, die Kronen der Eichen zu bewegen, und Tine war wieder ganz bei sich.

»Was hast du da aufgeschrieben?«, fragte Toe neugierig.

»Ich habe aufgeschrieben, was mir die Eichen in ihrer Sprache mitgeteilt haben«, entgegnete Tine.

»Kannst du mir denn die Sprache der Eichen in unsere übersetzen?«, fragte der Wichtel.

»Nichts leichter als das!«, erwiderte das Elfenmädchen. »Hör zu! – Wenn man die 26 Buchstaben des Alphabets durch die Zahlen von 1 bis 26 ersetzt, dabei aber die Buchstaben von hinten nach vorn durchnummeriert, also für das Z die 1 einsetzt, für das Y die 2, für das A die 26 und so fort, aber für jedes Z auf dem Zettel dann das A einsetzt, das ursprünglich die Zahl 1 bedeutete, für das Y das B, ursprünglich die Nummer 2 und so weiter, so ergibt sich aus den zunächst unverständlichen Buchstabenfolgen der folgende Text:

»Du bist die Tochter des Elfenkönigs Merchor und seiner Frau Lis. Deine Mutter ist in einen todesähnlichen Schlaf gefallen, aus dem nur du sie durch deinen Kuss erlösen kannst. Sie wird dich als ihre Tochter erkennen, indem sie nach deinem Kuss Liebe zu dir empfinden wird, genauso auch dein Vater, wenn deine Mutter erlöst ist.«

Toe schwieg einen Augenblick. Dann sprach er: »Das ist ja ausgesprochen spannend! Du bist also eine Königstochter und musst Mutter und Vater retten. Lass uns zum Königsschloss in der Hauptstadt ziehen!«

Tine nickte, stand von ihrem Platz auf und fasste den Wichtel bei der Hand. Dann wanderten sie eilig in Richtung auf die Hauptstadt von Zor davon.

 

V

 

Der Elfenkönig saß in seinem Lehnstuhl am Fenster und war verzweifelt. Gab es denn keine Hoffnung, dass seine geliebte Frau aufwachte?

Während er grübelte, hörte er, wie im Hof seines Schlosses ein Stimmengewirr entstand und seine Bediensteten zusammenliefen. Er öffnete das Fenster, um besser zu verstehen, was dort vor sich ging.

»Ich habe mich aus einem Mirabellenbaum im Tal des Nebels in eine Elfenfrau verwandelt und von den weisen Rieseneichen in Namara gehört, dass ich die Tochter eures Königspaares bin«, sagte Tine, die gerade zusammen mit ihrem Begleiter im Hof des Schlosses angekommen war.

»Die Tochter unseres Königspaares ist schon lange tot und dass sich ein Mirabellenbaum in ein Elfenmädchen verwandelt, haben wir noch nie gehört«, sagten Merchors Bedienstete. »Du musst verrückt sein, Kind!«

»Lasst das Mädchen zu meiner lieben Frau!«, sprach da der Elfenkönig durch das geöffnete Fenster zu seinen Dienern.

Er hatte sich Tine angeschaut, die genauso aussah wie Lis, als er sie kennengelernt hatte, und ihre Geschichte von der Verwandlung des Mirabellenbaums im Tal des Nebels gab ihm ebenfalls zu denken. Ob das Mädchen tatsächlich …? – Er wagte es nicht, seinen Gedanken zu Ende zu denken.

Die Diener führten Tine zum Zimmer der Königin. Merchor kam hinzu und gab Tine stumm die Hand, als sie sich am Lager der Schlafenden trafen. Dann aber beugte sich Tine zu ihr herab und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

Da regte sich die Königin und öffnete die Augen. Schließlich stand sie langsam von ihrem Lager auf, betrachtete Tine, empfand im selben Moment Liebe zu ihr und erkannte sie dadurch als ihre Tochter. Sie umarmte sie und drückte sie an ihr Herz. Als sie ihren geliebten Mann neben ihrer Tochter stehen sah, küsste sie ihn und umarmte ihn ebenfalls. Überglücklich erkannte auch er das Mädchen als seine Tochter und veranlasste noch für denselben Abend ein großes Elfenfest mit Tanz und Musik.

Der kleine Toe blieb für immer am Hof von Zor und Tine konnte weiterhin die Sprache der Bäume verstehen. Der Elfenkönig und seine Frau lebten glücklich bis an ihr Ende, und Tine übernahm, zusammen mit ihrem lieben Elfenmann, den sie später kennenlernte, von ihnen den Thron des Landes.