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Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs – Band 7 – 7. Kapitel

Aus den Geheimakten des Weltdetektivs
Band 7
Die Spürnase des Oberkellners
7. Kapitel

Artistenkneipen

Mr. Lovell befand sich in einer bösen Klemme. Die wütende Frau in dem Zimmer neben dem seinen fuhr fort zu rasen, sodass er schließlich hineinrief: »Wenn du noch weiter Lärm machst, Elvira, so wird Sherlock Holmes bald genug zur Stelle sein und dich besser zum Schweigen bringen!«

Eine Flut von Schimpfworten war die Antwort.

Elvira vergaß in ihrer verletzten Eitelkeit jeden noch so oberflächlichen Bildungsfirnis und hätte ihrem Zorn noch weiter in dieser bei Migräne so beliebten Form Luft gemacht, wenn nicht Ellen, bis zu der ihre krei­schende Stimme drang, sich ein Herz gefasst hätte und über den Gang bis zu ihrer Tür gekommen wäre.

Sie klopfte und trat, da ihr Klopfen überhört wurde, ein.

Der eben nun vorübergehende Zimmerkellner be­merkte, dass sie in ihrer Hand ein blitzendes Etwas trug, was sehr nach einem Revolver aussah.

»Bravo!«, dachte er. »Sie wird dieses keifende Ge­schöpf wenigstens zur Ruhe bringen.«

Wirklich hörte Elvira, als sie Ellen mit der Waffe in der Hand eintreten sah, sofort mit Schimpfen auf. Die Überraschung verschloss ihr vielleicht nur augenblicklich den Mund; aber Ellen trat mit gespanntem Hahn vor sie hin.

»Schweige augenblicklich mit deinem wahnsinnigen Geschrei!«, zischte sie. »Du weißt, ich fackle nicht lange, wenn du nicht still bist, so schieße ich dich nieder.«

Elvira zog sich zitternd und schweigend von Lovells Tür zurück.

»Sagte ich nicht schon vorhin, wie dumm du bist?«, fuhr Ellen höhnisch fort. »Du beweist es nur von Neuem – aus lauter Wut, weil dir Lovell keine Perlen gekauft hat, benimmst du dich wie eine Verrückte! Warum sahst du dich nicht besser vor? Warum behieltest du von dem Geld, das du der Lady abnahmst, nicht gleich so viel, dass du dir selbst Perlen genug kaufen konntest?«

»Weil ich ehrlich war!«, fuhr Elvira auf. »Wir hatten redlich geteilt, Lovell, Tiny und ich, und ich sollte für all meine Mühe nun diese Perlen geschenkt bekommen. Ich war dumm, dass ich euch Gaunern traute!«

»Keine Schimpfworte!«, warnte Ellen, die immer noch den Revolver in der ausgestreckten Rechten hielt. »Du kannst denken, was du willst, aber du darfst es nicht sagen. Übrigens beruhige dich – ich werde dafür sorgen, dass dir noch dein Recht werden soll – du kannst echte Perlen haben – suche dir von meinen aus, welche du willst – ich mache mir nichts aus dem Zeug.«

»Ich danke!«, rief Elvira giftig, »ich will nichts von dir haben! Mit euch bin ich fertig – ich weiß, was ich zu tun habe.«

»Höre!«, sprach Ellen in leisem, aber gefährlich klin­gendem Ton, »ich warne dich! Solltest du es dir etwa einfallen lassen, auch nur das Geringste zu verraten, so ist es aus mit dir!«

Elvira erwiderte nichts. Ellen schien auch keine Ant­wort zu erwarten, denn sie fuhr in kaltem Ton fort: »Ich werde noch heute das Nähere über diese ganze Angelegenheit hören. Du hast nur zu tun, was ich von dir verlange, und du hast dich nach wie vor meinen Wünschen zu fügen.«

Elvira knirschte stumm mit den Zähnen.

»O, du brauchst durchaus nicht so außer dir zu sein«, sprach Ellen weiter. »Ich dächte, du hättest ebenso wie die andern recht gute Geschäfte durch mich gemacht. Soll ich dir vorrechnen, wieviel du der … der Dame abge­nommen hast, seit ich ihre Vergangenheit entdeckte?«

»Du brauchst mir nichts vorzurechnen – ich weiß so gut wie du, dass alles das nur den einen Zweck hatte, den Lord mit seiner Frau zu entzweien, damit er frei wurde und du ihn heiraten konntest – hahaha – darin hast du dich freilich verrechnet! Er ließ sich nicht scheiden. Ja, er sagte seiner Frau kaum etwas davon, dass er hinter ihre Schliche gekommen sei!«

»Woher weißt du das so genau?«

»Weil es Mary mir sonst gesagt oder wenigstens angedeutet hätte. Ich besuchte sie, so oft ihr Gatte ver­reist war, – und jedes Mal sah ich von Neuem, wie verliebt der Gute nach wie vor in seine Frau war!«

Elviras Stimme bebte vor verhaltener Bosheit.

Ellen gab nicht acht auf sie. Sie fuhr in ihrem schroffen, befehlenden Ton zu sprechen fort:

»Wo befindet sich Tiny?«

»Das lass dir von Lovell erzählen!«, trotzte Elvira.

Die andere zuckte die Achseln.

»Ich werde dir einige Stunden Zeit lassen«, sagte sie, »dich zu besinnen. Lege dich noch einmal in dein Bett und schlafe deine alberne Wut aus – jedenfalls wirst du das Zimmer nicht eher verlassen.«

Bei diesen Worten wandte sie sich der Tür zu, die sie, nachdem sie auf den Gang getreten war, von außen verschloss.

Den Schlüssel zog sie ab und steckte ihn in ihre Tasche.

Da auch nun wieder der Zimmerkellner vorbeikam, warf sie ihm nachlässig die Worte zu: »Miss Elvira fühlt sich nicht ganz wohl – sie leidet – zeitweise an Krampfanfällen und muss dann ganz einfach eingesperrt werden. Ich habe den Schlüssel – bitte, achten Sie nicht darauf, falls sie Lärm machen sollte.«

Bei diesen Worten glitt ein Goldstück in Sherlock Holmes’ Hand. Er verbeugte sich tief und dankte devot.

Eine Viertelstunde später verließ Mr. Lovell das Welthotel.

Er hatte kein großes Gepäck mitgebracht und fuhr nun mit seinen Handkoffern zur Waterloo Station.

In einer zweiten Droschke folgte ihm Sherlock Holmes, nachdem er Harry einen Wink gegeben hatte.

Wieder war sein Aussehen verändert; er glich nun einem etwas heruntergekommenen Gentleman, der seine Lage mit Nichtstun verbringt und sich auf Straßen und in Lokalen bummelnd herumtreibt.

Ganz richtig hatte er gemutmaßt, dass Lovell nicht die Stadt verlassen werde, ohne noch vorher mit seinen Kumpanen gesprochen zu haben. Der Graf oder der sehnlichst gesuchte Tiny – welchen von beiden würde er jetzt zu sehen bekommen?

Lovell stellte sein Handgepäck auf dem Bahnhof ein und fuhr zunächst zur Victoria Station.

Hier stieg er aus und wanderte durch eine ganze Kette von Straßen, bis er in ein wenig angenehmes Viertel kam, das auf den ersten Blick lediglich aus Kneipen zu bestehen schien.

In einer Bar hielt er Einkehr, und hier schien man ihn gut zu kennen. Sofort mischte ihm die zweifelhafte Mamsell hinter dem Schanktisch seinen gewohnten Trank und fragte ihn vertraulich: »Nun, Freundchen? Wo haben Sie denn solange gesteckt?«

Mürrisch erwiderte Lovell: »War der Graf schon hier?«

»Der Kleine? Nein, heute noch nicht – er sagte aber gestern, dass er sich heute hier mit Ihnen treffen wollte.«

»Der Schwätzer!«, murmelte Lovell.

All seine gute Laune schien verschwunden zu sein, seit er so schmählich vor Elvira geflüchtet war.

Oder gab es noch etwas anderes, was ihm die Stimmung verdarb?

Sherlock Holmes, der in seiner Nähe Platz genom­men hatte, sah, wie er eine Weile vor sich hin stierte; dann stand er plötzlich auf und ging an die Kleiderhaken, die seitwärts in langer Reihe angebracht waren.

Hier hängte er seinen Hut auf – es dauerte ziemlich lange, bis er mit diesem einfachen Geschäft fertig war – um dann plötzlich wieder anderen Sinnes zu werden und den Hut wieder herunterzunehmen.

»Wenn der Graf kommt«, sagte er zu der Schankmamsell, »so bestellen Sie ihm, bitte, er möchte an der Brücke auf mich warten; ich hätte keine Zeit mehr gehabt.«

Er verließ das Lokal und Sherlock Holmes blieb sitzen. Er konnte das ganz ruhig tun, denn draußen auf der Straße hatte er längst Harry bemerkt, der, als Boten­junge verkleidet, auf der Lauer lag.

»Braver Junge«, murmelte der Detektiv, »er macht seine Sache bald ebenso gut wie ich. Nur die eigenen Ideen mangeln ihm noch; aber die kommen erst, wenn man lange Jahre das Handwerk ausgeübt hat …«

Während er so dachte, näherte auch er sich den Klei­derhaken, wo vorher Lovell sich zu schaffen gemacht hatte. Und seine scharfen Augen entdeckten mit Bleistift auf die Wand hinter den Haken gekritzelt die Zeichen: 12.P.W.!!

Das war eine höchst rätselhafte Inschrift – für an­dere Augen als die des Detektivs.

Er wusste, dass die letzten zwei Ausrufezeichen nichts anderes bedeuteten als eine Warnung. Es hieß un­gefähr: »Passt auf, man ist hinter uns her!« Ein ganz übliches Zeichen unter den Londoner Gaunern.

Was aber bedeutete P. W.?

»Vielleicht bedeutet es Peter, dachte Sherlock Hol­mes, »es ist immerhin möglich – wenn ich mir auch an­derseits nichts von meinen eigenen Mutmaßungen weismachen lassen will; es kommt vor, dass man sich auf eine falsche Fährte locken lässt, nur weil man sich in irgendeine Annahme verrannt hat. Jedenfalls will ich hier warten, bis der Graf, der natürlich nichts weniger als ein Edelmann ist, erscheint.«

Sherlock Holmes hatte das Schankmädchen, das ebenso abstoßend und gewöhnlich war wie die meisten ihrer Klasse, nicht weiter beachtet. In dem Lokal waren nur wenige Gäste anwesend, und von diesen war ihm keiner bekannt.

Er ahnte nicht, dass er selbst umso besser einem von ihnen bekannt war, und dass dieser eine ihn trotz, seiner vorzüglichen Kleidung erkannte.

Neben dem eigentlichen Gastzimmer befand sich eine kleine Garderobe für das Schankmädchen; von diesem schmalen und dunklen Raum aus konnte man aber in den Hausflur und von da auf die Straße gelangen.

Hinter der verhangenen Glasscheibe stand ein Mann und blickte unbemerkt in den Laden hinein: Dies war der Graf, den draußen der Detektiv vergeblich erwartete.

Als dieser ihm den Rücken zuwandte, bewegte der Mann die Gardine – die Schankmamsell begab sich in die Kammer.

»Weißt du, wer das da draußen ist?«, fragte er sie.

»Nein, ich weiß es nicht. Er kam vorhin, bald nachdem Lovell gekommen war, und seitdem stänkert er so herum. Kennst du ihn denn?«

Der Mann bückte sich dicht an ihr Ohr und raunte: »Sherlock Holmes.«

Sie fuhr zusammen und starrte ihn an.

»Was sucht denn der hier? Hat einer von euch etwas mit der Malcolmsache zu tun?«

»Würden wir es dir auf die Nase binden, wenn es der Fall wäre? Übrigens kann ich hier nicht noch eine Stunde in dem Loch sitzen – hat Lovell nichts für mich hinterlassen?«

»Er wird dir wohl etwas an die Wand gekritzelt haben – ich sah ihn hingehen. Der Fremde hörte, dass er nach dir fragte.«

»Dann müssen wir den Kerl dort hinausbringen. Sage ihm in einer Weile, dass … nein, sage ihm gar nichts; ich werde einen Jungen schicken.«

Das Schankfräulein ging wieder hinter ihren Ladentisch zurück, und Sherlock Holmes vertiefte sich schein­bar in eine Zeitung. Da kam von der Straße herein ein zerlumpter, kleiner Junge, marschierte an den Schank­tisch und krähte: »Der Graf lässt Ihnen sagen, Sie möchten seinen Leuten bestellen, dass er nicht kommen könnte.«

»Warum nicht?«, fragte das Mädchen, »wo ist er denn?«

»Er fuhr bei uns drüben in einem Hamson vor und schenkte mir einen Penny. Verdammt eilig hatte er es.«

Dann schlenderte der Knirps wieder auf die Straße hinaus.

Zwei Minuten später war Sherlock Holmes verschwunden, und wieder zwei Minuten später betrat der Graf durch die große Tür den Schankraum.

Er nickte dem Mädchen an der Bar nachlässig zu und ging dann zu dem Kleiderhaken, wo die Botschaft stand.

Sie musste etwas Eiliges bedeuten, denn ohne sich auch nur einen Augenblick aufzuhalten, ging der Mann wieder hinaus. Sein Gesicht war erblasst, und seine Augen flirrten unruhig umher.

Der Buchstabe W in der Botschaft bedeutete, dass er sich sofort in seine Stammkneipe begeben solle, die von einem gewissen Watler gehalten wurde. Das P hieß nur, höchste Eile sei notwendig.

In dieser Kneipe verkehrten lediglich Artisten aller Gattungen, und es war keine von den ganz üblen Sorten von Schnapshöhlen, wie sie London so viele aufweist.

Wenn Lovell, der in dieser Kneipe auf den Grafen wartete, geahnt hätte, dass er längst von Harry Taxon beobachtet und verfolgt wurde, so würde er sich weniger heiter unterhalten haben. Er saß nämlich in einer Ecke des Zimmers zusammen mit mehreren starken Männern und Clowns, die er traktierte, wobei er unaufhörlich prahlerische Geschichten von seinen Erfolgen auf allen möglichen Spezialitätenbühnen zum Besten gab. Das Prahlen war eine unbezwingliche Schwäche von ihm, und seine Kollegen kannten sie und benutzten dieselbe, um ihm zu schmeicheln und ihn zu immer freigebigeren Spenden zu veranlassen.

»Ich sage euch, Kinder«, rief Lovell jetzt aus, »ich werde heute noch eine Tour nach und durch Frankreich antreten, bei der ich so enorme Gagen bekomme, dass ich wie ein großer Lord reisen, nur erster Klasse fahren und die teuersten Hotels benutzen kann.«

Ein schmalschulteriger, heruntergekommen aussehender Jüngling, der kein anderer als Harry Taxon war, beugte sich zu der Kellnerin: »Was ist denn dieser elegante Herr, der da fortwährend Wein spendiert?«

»Er ist Luftflieger – Trapezkünstler – tritt unter dem Namen Adlerkönig auf.«

»Ah! Und der Kleine neben ihm?«

»Das ist ein Mädchen – sie kann noch nicht viel – aber Sie sind wohl fremd hier? Kennen Sie denn keinen von unseren Gästen?«

Harry machte ein wehleidiges Gesicht.

»Nein, ich kenne noch niemand, aber ich möchte für mein Leben gern zur Zunft übergehen, deshalb bin ich von zu Hause fortgelaufen, und doch erscheint es nicht leicht zu sein, auch nur als Lehrling angenommen zu werden.«

»Warten Sie nur noch ein halbes oder ganzes Stünd­chen«, sagte die Kellnerin gutmütig, »es kommen noch viel mehr solcher Herren her. Vielleicht nimmt Sie einer auf – ich will mal nachher ein gutes Wort für Sie ein­legen.«

Harry nickte und setzte sich dichter an den Tisch heran, wo Lovell das große Wort führte.

»Kinder«, rief einer von den Artisten, »ich habe vorhin Tiny gesehen – Himmeldonnerwetter, sieht der Kerl schlecht aus!«

»Tiny sieht schlecht aus?«, rief man im Chor. »Dann muss etwas Besonderes mit ihm los sein – einen ver­gnügteren Kameraden kann man sich doch sonst suchen.« Lovell schwieg ausnahmsweise eine Minute. Er sah fortwährend nach der Tür – offenbar wartete er nur noch auf den Grafen, um sich dann entfernen und seine Flucht vor Elvira fortsetzen zu können.

Endlich erschien der Erwartete. Aber der Graf hatte sich in den letzten Stunden auffallend verändert. Er war nun bartlos, und gestern noch hatte er einen flotten, blonden Schnurrbart getragen …

Harry Taxon schüttelte unmerklich den Kopf über einen Gedanken, der ihm soeben kam – sollte es möglich sein, dass dieser Schnurrbart falsch gewesen, und dass Sherlock Holmes, der so dicht in derselben Theaterloge mit dem Grafen gesessen, dies nicht bemerkt hatte?

Dröhnendes Gelächter empfing den Ankömmling.

»Hallo, Kleiner! Heute hat er einmal wieder sein Weibergesicht! Steht dir der Schnurrbart nicht mehr, Hänschen? Tiny, Tiny – deine Erfindungen scheinen dir nicht die erwarteten Kapitalien gebracht zu haben! Aber rosa Backen hat er doch wieder! Hurra, Kleines, – sollst leben, prosit!«

So schwirrten und klangen die Stimmen durchein­ander. Harry Taron schlug das Herz unbändig.

Tiny, englischer Ausdruck für klein, winzig, war zwar ein ziemlich gewöhnlicher Spitzname, aber diesmal konnte doch kaum ein Zweifel darüber herrschen, dass der Graf und der oft genannte Tiny derselbe sein musste.

»Mein Gott, wie soll ich nun bloß den Meister herkriegen!«, dachte Harry ganz verzweifelt. »Hier sitzt die ganze Bande beisammen, und ich kann nicht einen von ihnen verhaften lassen, wenn nicht Sherlock Holmes auftaucht!«

Der Graf, der trotz seiner rosa Schminke recht ver­fallen aussah, trat an den Tisch heran und zog seine Uhr.

»Zwölf Uhr!« sagte er. »Lovell, du hast mich um 12 Uhr herbestellt – was hast du mir zu sagen?«

Ein bedeutsamer Blick flog von Lovell zu ihm hin. Unmöglich konnte er in Gegenwart aller dieser neugierigen Menschen sagen, was er auf dem Kerzen hatte.

»Setze dich her und trinke einen Schluck«, sprach er, »wir haben noch Zeit, eine Viertelstunde später unsere Ge­schäfte zu besprechen.«

»Nein, nein«, rief der kleine Herr ungeduldig, »ich habe keine Minute Zeit. Komm in das Nebenzimmer – rasch – mein Wagen wartet draußen.«

»Gut denn, wie du willst. Adieu, Ihr Herren, wir sehen uns nachher wohl noch …«

Er verschwand mit seinem Freund in einem Ne­benzimmer.

Harry ging auf die Straße hinaus und stürzte sich in die nächste Droschke. Punkt zwölf Uhr konnte er seinen Meister vor dem Tabakladen treffen, wo sie ein für alle Mal ihre Stelldicheins verabredet hatten, falls nichts anderes bestimmt war. Die Droschke jagte dahin.

»Mr. Holmes schon hier gewesen?«, fragte Harry den Verkäufer, zu dem er wie ein abgeschossenes Projektil in den Laden gestürzt war.

»Noch nicht, Mr. Taxon, soll ich ihm etwas be­stellen?«

»Etwas höchst Eiliges sogar! Melden Sie ihm – Gott sei Dank! Da kommt er selbst?«

Sherlock Holmes kam soeben in den Laden herein.

»So aufgeregt, Harry?«, sagte er ruhig, indem er sich seine gewohnte Marke Tabak geben ließ. »Du hast wohl unseren gesuchten Halunken gefunden?«

»In der Tat, ich glaube, ich habe ihn! Kommen Sie rasch mit nach Watlers Kneipe, Mr. Holmes. Lovell und der Graf sind dort.«

»So? Ach, was du sagst! Nun, sie werden auch wohl dortbleiben, denke ich.«

Bei diesen Worten paffte Sherlock Holmes ganz ge­mütlich seine geliebte Pfeife an und sah dann lächelnd seinem Gehilfen in die Augen.

»Was meinen Sie damit?«, stieß dieser heraus. »Die Leute können schon wieder fort sein, wenn wir hin­kommen.«

»Hm! Hast du nicht die drei dicken Matrosen bemerkt, die bei Watler Grog tranken?«

»Ja – waren das Leute von Ihnen?«

»Von der Polizei – natürlich von mir hingeschickt. Harry, mein Sohn, seit vorgestern, seit ich den Verdacht auf Lovell und Elvira hatte, habe ich selbstverständlich diese vielbesuchte Artistenkneipe bewachen lassen. Ich dachte es mir, dass die Vögel früher oder später dort einkehren würden! Hinein sind sie gekommen – hinaus sollen sie nicht – das heißt: nicht ohne Begleitung.«

Ganz gelassen nickte hierauf der große Kriminalist dem Verkäufer zu, nahm Harry beim Ärmel und trat mit ihm auf die Straße.

»Höre zu, mein Sohn. Lovell und der Graf wer­den zur richtigen Zeit festgenommen werden. Aber das nützt gar nichts, wenn wir es ungeschickt machen. Wenn wir sie überführen wollen, so müssen wir erst das Netz unserer Beweise fest schließen können. Mir fehlen noch eine oder zwei Maschen dazu. Vor allem fehlt mir etwas Schriftliches.«

Harry sah verwirrt zu seinem Meister empor.

»Ich begreife nicht«, murmelte er.

»Höre zu, Harry«, sprach Sherlock Holmes, indem er seine künstliche Ruhe fahren und seine innere Aufre­gung durchblicken ließ. »Ich muss jetzt in das Welt­hotel und werde dort mit einer Dame eine sehr wichtige Unterredung haben – unterdessen musst du dafür sorgen, dass Lovell und der Graf …«

»Der Graf!«, unterbrach ihn Harry. »Das Tollste ist, dass der Mensch gestern einen falschen Schnurrbart getragen haben muss, ohne dass Sie es bemerkten.«

»Warum muss er das? Kann er nicht einen ech­ten gehabt und sich heute früh rasiert haben?«

»Aber – sagten Sie nicht, der Mann, welcher in der Droschke zu Lady Malcolm gefahren ist – der Mann, welcher die Häckselspur an den Füßen trug – sei bartlos gewesen?«

»Ja, der Kutscher sagte es.«

»Nun, und der Graf wurde Tiny von allen angesprochen!«

»Ein Zufall, Harry, weiter nichts.«

Harry sah verdutzt in das lebhaft bewegte Gesicht seines Lehrmeisters.

»Daraus kannst du wieder einmal sehen, wie unendlich leicht man sich täuschen lässt! Ich selbst wäre ge­wiss auch wie du zu der Schlussfolgerung gelangt, dass der Graf und der Mörder Tiny ein und dieselbe Per­son sind – wenn ich nicht ein unfehlbares Merkmal an dem Opernabend vergeblich bei diesem Grafen gesucht hätte.«

»Ah – die ungleichen Hände?«

»Die ungleichen, und vor allem die zarten, kleinen Hände, jawohl. Dieser Graf hat, wie ich beim Essen sah, breite Finger mit ungewöhnlich langen und breiten Nägeln. Hätte er die Lady erdrosselt, so würde man die Nägelmale am Hals der Leiche gesehen haben, und seine hässlichen Krallen wären auch wohl nicht so gut gepflegt und unberührt geblieben. Außerdem hörte ich, wie sich Elvira bei ihm nach diesem Tiny erkundigte. Dieser Herr Graf hat ein höchst unschuldig aussehendes Ge­werbe; er ist Erfinder von Haarwuchs- und anderen Schön­heitsmitteln, außerdem aber ist er natürlich bei die­sem Verbrechen irgendwie beteiligt. Ich nehme an, dass eine ganze Bande von habgierigen und gemeinen Leuten die arme Lady ausgesogen hat – all das werde ich, wie ich glaube, noch heute herausbekommen.«

»Sie scheinen zaubern zu können, Mr. Holmes!«

»O nein – ich habe nur eine Hilfe in Aussicht, welche mir eifriger in die Hände arbeiten wird als irgend sonst jemand in der Welt.«

»Und was für eine Hilfe ist das?«

»Eine rachsüchtige Frau, mein Sohn. Wozu ein sol­ches imstande ist, das weißt du bis heute noch nicht, Du wirst es aber hoffentlich jetzt erleben.«

Mit diesen Worten trennte er sich von Harry und eilte auf dem kürzesten Weg zum Welthotel zurück.

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