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Der Welt-Detektiv – Band 9 – 2. Kapitel

Der Welt-Detektiv Nr. 9
Der geheimnisvolle Schoner
Verlagshaus für Volksliteratur und Kunst GmbH Berlin

2. Kapitel

Ein düsteres Geheimnis

Dann stand der Unbekannte im Zimmer. Er stieß eine Verwünschung aus, als er die Leiche am Boden erblickte. Mit wenigen Schritten war er bei ihr, kniete nieder und verharrte so einige Minuten. Als er sich wieder aufrichtete, flammte sein Augenpaar in einem seltsamen Feuer.

»Ganz so, wie Poolt es vorausgesagt hat!«, stieß er zwischen den Zähnen in englischer Sprache hervor. »Drei Stiche im Rücken, einer oben an der rechten Schulter!«

Auf dem Schreibtisch lag noch die Depesche, die Rodriges Alsalsa kurz vor seinem jähen Ende erhalten und die ihn in einen so heftigen Zustand der Erregung versetzt hatte. Sie lautete:

Untergang des neu in Dienst gestellten Dampfers COLUMBIA kaum noch fraglich. Soeben weitere Trümmer zweier Rettungsboote bei den Tolima-Riffen an Land gespült. Agentur Paulo.

Der Fremde kniff die Lippen zusammen.

»Nach der CRIOLLA und der CHALET nun auch noch die COLUMBIA!«, murmelte er dann. »Hell and devils, wenn das so weitergeht, wird die Reederei bald keine Schiffe mehr besitzen!«

Mendoza, der wie festgewurzelt hinter der Portiere stand, bereit, den Unbekannten auf der Stelle niederzu­schießen, falls er sich zur Flucht wenden sollte, ließ den Browning plötzlich sinken.

Er beherrschte die englische Sprache wie seine eige­ne und hatte Wort für Wort von dem verstanden, was der Fremde gesagt hatte. Wie gebannt heftete er den Blick auf den Mann. Benahm sich so ein Mörder, der noch einmal an den Schauplatz des von ihm verübten Verbrechens zurückkehrte?

Kein Auge ließ Mendoza mehr von dem geheimnis­vollen Menschen. Dieser entfaltete eine sonderbare Tätigkeit. Er kniete auf den Teppich nieder und betrachtete den Toten durch die Lupe. Plötzlich schien er etwas gefunden zu haben, was ihn stark interessierte. Er zog ein Stück Papier aus der Tasche und wickelte etwas ein. Dann spürte er weiter im Zimmer umher. Einmal blieb er inmitten des Raumes stehen und sog die Luft ein. Dann lächelte er flüchtig, um gleich dar­auf wieder in seiner Beschäftigung fortzufahren, die darin bestand, das Zimmer systematisch auf Spuren hin zu untersuchen.

Schließlich zog er ein kleines Buch hervor und machte sich kurze Notizen. Darauf trat er zur Chaise­lounge, zog die Decke herunter und breitete sie lang­sam über den Toten.

»So«, sagte er. »nun können Sie hinter Ihrer Portiere hervorkommen. Señor Mendoza, nun stören Sie mich nicht mehr.«

Mendoza stieß einen Schrei aus.

»Bitte, bitte«, rief der Unbekannte. »Es liegt zu wei­teren Schreckensbefürchtungen keinerlei Anlass vor, Señor.«

Bleich, den Browning in der herabhängenden Hand, kam Mendoza aus seinem Versteck hervor.

«Ich hielt Sie für den Mörder meines Freundes und Kompagnons«, stammelte er. »aber nun erkenne ich, dass dem nicht so sein kann. Wer sind Sie?«

»Mein Name ist Sherlock Holmes«, lautete die ein­fache Antwort.

»Sherlock Holmes?«, ächzte Mendoza verwirrt. »Der weltberühmte Detektiv? Und Sie weilen hier in Trini­dad, ohne dass irgendjemand Kenntnis hat?«

Sherlock Holmes zuckte die Schultern.

»Man muss den Leuten nicht immer alles an die Nase hängen«, sagte er. »Im Übrigen ist es durchaus kein Zufall, der mich nach Trinidad führte. Ich kam hierher, um ein Verbrechen zu verhüten. Aber leider«, seine Hand deutete auf die verhüllte Leiche, »hat es das Schicksal anders beschlossen!«

Mendoza zitterte wie im Fieber.

»Sie wussten, dass mein Kompagnon ermordet wer­den sollte?«, presste er hervor.

»Das habe ich nicht gesagt«, verbesserte Sherlock Holmes. »Meine Kenntnis beschränkte sich lediglich auf den Umstand, dass ein Mensch, nach dem ich schon lange fahnde, nach Trinidad kommen würde, um hier ein Verbrechen zu begehen. Welcher Art dieses Verbrechen war und wer ihm zum Opfer fallen sollte, wusste ich nicht.«

»Wie … wie konnten Sie das vorher wissen?«

»Das lassen Sie einstweilen meine Sorge sein«, wehr­te der Weltdetektiv die Frage ab, »und begnügen Sie sich für heute mit dem, was ich Ihnen mitteilte. Übri­gens halte ich mich auch noch aus anderen Gründen in Trinidad auf. Diese Gründe hängen stark mit den Schiffsverlusten zusammen, die Ihre Reederei im Ver­lauf der letztem drei Monate erlitten hat.«

Mendozas Denkvermögen reichte nicht aus, dies al­les ohne Weiteres zu begreifen.

»Unsere Schiffsverluste?«, stammelte er. »Was hat ein Detektiv wie Sie mit unseren Schiffen zu tun?«

»Sehr viel, wenn es sich bei den Unglücksfällen, bei denen zahlreiche Menschen, die sich an Bord der Schiffe befanden, umkamen, um nichtswürdige Verbrechen handelt!«

Mendoza stieß einen Schrei aus. Sherlock Holmes lä­chelte überlegen.

»Sie scheinen tatsächlich der Ansicht zu sein«, sagte er, »dass sowohl die CRIOLLA als auch die CHALET tückischen Elementen zum Opfer fielen; aber das ist nicht der Fall. Beide Schiffe wurden gewaltsam ver­senkt.«

Der Reeder verfärbte sich. Seine Gestalt geriet ins Wanken. Er musste sich an einem Sessel festhalten, um nicht umzusinken.

»Gewaltsam versenkt?«, wiederholte er stockend. »Gewaltsam ver…?«

Die Erregung verschlug ihm die Stimme. Er ver­mochte es nicht, weiterzusprechen. Er starrte den berühmten Kriminalisten, der da so ungeheuerliche Worte sprach, nur aus entsetzten Augen an.

»Tut mir leid, Señor Mendoza, wenn ich Ihnen diese Mitteilung machen muss«, fuhr Sherlock Holmes fort, »und ich wäre wirklich froh, wenn das alles wäre. Aber dem ist nicht so. Sie werden ja wissen, dass Ihre erst vor wenigen Wochen vom Stapel gelassene COLUMBIA, die mit Bauholz und vierzehn Passagieren an Bord nach Puerto Rico unterwegs war, seit zwei Tagen über­fällig ist. Auch dieses Schiff – fassen Sie sich, Señor – auch dieses Schiff ist einem verbrecherischen An­schlag zum Opfer gefallen! Dort liegt das Telegramm! Señor Alsalsa empfing es kurz vor seinem Tod und stand scheinbar im Begriff, Ihnen den Bericht telefo­nisch zu übermitteln, als ihn der tödliche Stahl traf.«

Mit einem dumpfen Aufschrei sank Mendoza auf den Sessel nieder. Hundert Gedanken rasten wie verrückt hinter seiner Stirn und verwirrten ihn gänzlich.

Dann aber sprang er wild auf und schleuderte Sher­lock Holmes einen hasserfüllten Blick zu.

»Woher wissen Sie das alles?«, schrie er. »Stehen Sie mit der Hölle im Bunde?« Qual und Verzweiflung dik­tierten ihm die törichten, unbesonnenen Worte. »Wie können Sie ein Verbrechen im Voraus ahnen?«, fuhr er aufgeregt fort. »Wie können Sie wissen, dass unsere Schiffe gewaltsam zum Untergang gebracht wurden? Und woher wussten Sie, dass ich vorhin hinter der Por­tiere stand?«

Sherlock Holmes fühlte sich weder durch den flam­menden Blick noch durch die erregten Worte beleidigt. Er begriff Mendozas seelische Verfassung, verstand, dass der Mann bei solchen schrecklichen Vorgängen und Eröffnungen die Herrschaft über seine Nerven verlieren musste.

»Du liebe Zeit«, erwidere er trocken, »man weiß eben mancherlei, weil man Ohren hat, die hören, und Augen, die sehen können. Und was die Portiere anbe­langt, so sprach auch hier noch die Nase ein gewichti­ges Wort. Aber bleiben wir bei der Reihenfolge. Als ich das Zimmer betrat, sah ich Ihre Füße unter der Por­tiere hervorragen. Und als ich das Mextin-Parfüm roch, wusste ich, dass Sie hinter dem Vorhang standen.«

Mendoza starrte den Sprecher fassungslos an.

»Ja«, stieß er hervor, »ich benutze das Mextin- Parfüm. Das ist richtig. Aber woher können Sie wissen, dass ich …?«

»Ich weiß sogar, wo Sie in Ihrer Villa das Parfüm- Flakon aufbewahren«, gab Sherlock Holmes seelenru­hig zurück. »Die Flasche seht ganz rechts auf dem Waschtisch. Tja«, fuhr er fort, als er des Reeders ent­setztes Gesicht Antlitz gewahrte, »nun werden Sie na­türlich fragen, woher ich das alles weiß? Und ich müss­te Ihnen antworten: Weil ich wiederholt heimlich in ihrem Haus war. Warum? Weil ich anfänglich Sie im Verdacht hatte. Sie müssen schon entschuldigen, Señor, aber ein Detektiv wie ich geht jedem Ding bis auf den Grund. Inzwischen habe mich auch überzeugt, dass Sie mit den geheimnisvollen Schiffsuntergängen nichts zu tun haben. Aber der Verdacht lag nahe. Ich erfuhr nämlich, dass Sie die untergegangenen Schiffe hoch versichert hatten. Nun gibt es ja, wie auch Sie wissen werden, eine gewisse Sorte von Reedern, die derartige verbrecherische Geschäfte machen. Irgendein Schiff wird hoch versichert, und unterwegs sorgt man dafür, daß es untergeht, und die Versicherung muss zahlen. Dieser Verdacht lag also auch hier nahe. So schnüffelte ich heimlich ein wenig in Ihren Korrespondenzen her­um, die Sie zu Hause aufbewahren. Aber wie gesagt, ich überzeugte mich inzwischen, dass eine ganz andere Persönlichkeit hinter den Verbrechen steckt. Doch nun genug davon. Es wäre zwecklos, Ihnen alles zu erzäh­len. Sie würden die Hälfte doch nicht begreifen und hundertmal Warum? und Wieso? fragen. Im Übrigen kommt die Polizei …«

Wirklich näherten sich feste Schritte der Tür.

»Sie tun gut, Señor«, flüsterte der Weltdetektiv dem gänzlich seiner Fassung beraubten Mendoza zu. »all das, was ich Ihnen über die gewaltsam versenkten Schiffe erzählte, einstweilen für sich zu behalten, wenn Sie wollen, dass die Schurken ihrer Bestrafung nicht entgehen!«

In diesem Augenblick drangen auch schon einige schwerbewaffnete Polizeibeamte, von einem Kommis­sar in Zivil geführt, zur Tür herein. Sherlock Holmes begrüßte sie mit einer leichten Verbeugung und stellte sich, seine Ausweise aus der Tasche ziehend, höflich vor.

»Bitte«, wandte er sich dann an den Kommissar, »walten Sie Ihres Amtes. Ich habe am Tatort nichts verändert. Ein Zufall führte mich hier am Haus vor­über. Ich sah einen Mann die Feuerleiter herunterklet­tern. Das kam mir verdächtig vor. Doch ehe ich den Unbekannten ergreifen konnte, war er bereits ver­schwunden. Ich kletterte nun selbst herauf und fand hier den Leichnam des Ermordeten.«

Er wandte sich zur Tür und sagte von hier aus, sich noch einmal umdrehend: »Falls Sie noch irgendwelche Auskünfte von mir wünschen, stehe ich Ihnen gern zur Verfügung. Ich wohne unter dem Namen eines Mathias Shortier im Seehotel.« Dann ging er, die Beamten ihrer Verblüf­fung überlassend.