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Der Welt-Detektiv Band 6

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Sagen der mittleren Werra 75

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Vom alten Schloss Liebenstein

Als das alte Schloss oben auf dem Burgberg, an dessen Fuß Bad Liebenstein liegt, erbaut wurde, herrschte noch jener schauerliche Aberglaube, eine Veste könne durch ein lebendig eingemauertes Kind unüberwindlich gemacht werden. Da auch der Ritter, der diese Burg gründete, noch in diesem Glauben befangen war, so kaufte er zu diesem Zweck einer Landstreicherin ihr Töchterlein und ließ es lebendig in die Burg einmauern. Als aber der Meister die Außenwand des kleinen Grabes bis an die Schulter des Kindes reichte und dieses, das bis dahin ruhig sein Brot gegessen hatte, nun in bittendem Ton zu ihm sprach »Ach, Mann, lass mir doch nur ein Gucklöchelchen«, da bebte das Herz des Meisters.

Er warf den Hammer weit von sich und erklärte dem Bauherrn, er wolle keinen Schlag mehr an dieses Werk tun.

Zornig befahl der Ritter nun dem Gesellen, das grausame Werk zu vollenden; aber auch diesem erging es nicht besser; auch er warf das Werkzeug erschüttert beiseite. Nun kam der Lehrjunge an die Reihe, ein roher, herzloser Bursche. Der ließ sich durch das Flehen des Kindes nicht rühren: “Mann, lass mir nur ein Guck-löchlein! Und wie nun das Werk höher stieg, da rief das Kind der Mutter zu, die dabei war: »Mütterchen, jetzt sehe ich dich noch!« Dann aber trat es auf die Zehen und rief: »Mütterchen, jetzt sehe ich dich bald nicht mehr!«

Als der Knabe den letzten Stein gelegt hatte, hörte man noch dumpf die Stimme des Kindes: »Mütterchen, jetzt sehe ich dich gar nicht mehr!«

Das grausige Werk war vollbracht. Der Lehrjunge erhielt vom Bauherrn einen reichen Lohn.

Doch wenige Tage später spülte die Werra die Leiche des herzlosen Knaben ans Ufer. Die widernatürliche Mutter aber hatte von der Stunde an keine Ruhe und keinen Frieden mehr und soll noch heute als böser Spuk die Burg heimsuchen.