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Der Detektiv – Band 27 – Die Uhrkette des Bill Hamilton – Teil 2

Walter Kabel
Der Detektiv
Band 27
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Die Uhrkette des Bill Hamilton

Teil 2

Kaum war Melprove durch die Geheimtür verschwunden, als Harst van Diemen bat, ihm eine Skizze des Bungalows Melproves aufzuzeichnen, aus der auch die Lage der einzelnen Zimmer hervorgehen müsse, und gleichzeitig hineinzuschreiben, wozu die Räume benutzt würden.

»Es braucht nur eine ganz flüchtige Zeichnung zu sein«, meinte er. »Aber auch etwas von der Umgebung, bitte; vielleicht den Garten und besonders hervorstehende Punkte in nächster Nähe.«

Van Diemen war in wenigen Minuten damit fertig. Dann kehrten wir zu den übrigen Herren zurück. Unsere Abwesenheit war nicht weiter aufgefallen.

Um 1 Uhr morgens erst verließen wir das Klubhaus. Eines der leichten Bambuswägelchen brachte unseren Landsmann Schliepner und uns heim in dessen geräumigen Bungalow. Unterwegs nickte ich verschiedentlich ein. Ich war müde, und der Wein trug die Schuld daran. Ich hörte, dass Harst mit Schliepner über die malaiischen Piraten sprach und dass der Kriminalinspektor von dem berüchtigten Piraten von Kap Kotaringia allerlei erzählte, hörte aber alles nur halb.

Dann aber, als wir in Schliepners Heim angelangt waren, wurde ich rasch munter. Harst sagte nämlich in der Vorhalle leise zu dem Inspektor: »Sie müssen mich noch ein wenig zum Chinesen umwandeln, bester Schliepner. Ich will noch ein paar Stunden das Nachtleben Semarangs kennen lernen.«

In Schliepners Schlafzimmer entstanden dann bei dicht geschlossenen Vorhängen in aller Stille zwei Söhne des himmlischen Reiches, die auch bei Tage kaum als unecht aufgefallen wären und die nun mit aller Vorsicht das Haus und den Garten verließen.

Harst schlug sofort die Richtung nach der Westseite der die Stadt umgebenden Höhen ein, dort lag der Bungalow Melproves.

Während dieser halben Stunde, bis wir an die niedrige Mauer des Parkes gelangt waren, hatte Harst sich in Schweigen gehüllt. Ich kannte ihn nur zu gut. Es hätte keinen Zweck gehabt, ihn zu fragen, wie er über diese Entführung der drei Damen dächte. Er wäre mit ein paar allgemeinen Redensarten über das Thema hinweggegangen. Und dabei war nun doch bei mir das Interesse für diesen unseren neuesten Fall unendlich gestiegen. Wenn Harst dem Bungalow Melproves zur Nachtzeit einen Besuch abstattete, dann vermutete er ja fraglos darin einen Verbündeten des Piratenführers; obwohl Melprove so nachdrücklich betont hatte, er hegt gegen niemand von seinen Hausgenossen den geringsten Verdacht. Und – es musste ja auch ein Mitschuldiger des Piraten im Haus sein! Wer sollte sonst die Uhrkettenglieder und den Zettel auf den Nachttisch und in die Serviette gelegt haben? Die Uhrkettenglieder! Als wir nun die Mauer an der Rückseite des Parkes überklettert und rechts neben dem Bungalow in einem Gebüsch uns verborgen hatten, dachte ich seltsamerweise fortgesetzt an diese merkwürdigen Warnzeichen, die man Melprove auf so rätselhafte Art zugestellt hatte. Uhrkettenglieder! Ein jedenfalls nicht alltäglicher Gedanke, gerade diese Teile eines billigen Schmucks für verbrecherische Zwecke zu benutzen, vielleicht war es von dem Piraten so etwas wie Effekthascherei! Vielleicht wollte er dadurch dieser Entführung, die mit einer blutigen Wegnahme der Jacht begonnen hatte, seinen besonderen Anstrich geben. Die Uhrkettenglieder waren nun der Mittelpunkt, um den sich mein Denken drehte. Sollten sie doch mehr darstellen als nur Sensationslust und Effekthascherei? Sollten sie …

»Hier habe ich genug gesehen«, flüsterte Harst mir da zu. »Jetzt wollen wir dort drüben im Schatten des Hauses die Veranda erklettern. Ich möchte mich für alle Fälle davon überzeugen, dass Melprove nichts zugestoßen ist. Sein Schlafzimmer hat die Fenster nach Süden hinaus. Gerade dort trifft der Mondschein nicht hin.«

An der Vorsicht, mit der er sich auf allen vieren mir voranschob, merkte ich abermals, dass er hier mit unangenehmen Zwischenfällen rechnete. Als wir dann auf der Veranda im Schatten der Brüstung kauerten, als wir eine Weile lauschten, ob sich nicht irgendwo etwas Verdächtiges rührte, als Harst mit einem Mal meinen Arm drückte und wie ein Hauch seine Worte an mein Ohr drangen: »Hörst du es auch?«

Da erst vernahm ich irgendwoher ein dumpfes Stöhnen, bald anschwellend wie zu wütendem Brummen, bald wieder leiser in ein klägliches Winseln übergehend.

»Melprove!«, flüsterte Harald wieder. »Kein Zweifel – die Laute kommen dort aus den oberen Fenstern, die mit Drahtgaze überzogen sind! Wir müssen hinein! Aber doppelte Vorsicht jetzt. Decke mir den Rücken, bis ich die Gaze zerschnitten und das untere Fenster aufgeriegelt habe.«

Wir krochen weiter, bis wir die beiden Schlafstubenfenster vor uns hatten. Harst stieg auf das Fenstergesims. Ich hörte das Knirschen der Drahtgaze unter der Messerklinge. Dann lag Harst mit dem halben Leib über dem Fensterkreuz, den Oberkörper nach innen, den Kopf tief gesenkt und griff mit den Händen nach den Riegeln.

Ich stand nun aufgerichtet da, drückte mich in das Blättergewirr der Rankengewächse eines der Verandapfeiler und schaute bald nach rechts, bald nach links, konnte jedoch nirgends etwas Auffälliges wahrnehmen. Harsts Gestalt sah ich in der hier unter dem Verandadach noch stärkeren Dunkelheit nur undeutlich.

Wieder blickte ich nach ihm hin. Ich wunderte mich, dass er mit dem Öffnen der Riegel so gar nicht fertig wurde.

Da – die merkwürdige Regungslosigkeit seiner Gliedmaßen machte mich stutzig, auch seine Haltung. Sein Körper hing nun so unheimlich schlaff über dem Fensterkreuz.

Kein Zweifel: Hier war irgendeine Teufelei im Gange. Ich wollte nach dem Fenster eilen. Aber mit einem Ruck schnellte mein Kopf zurück, schlug gegen den Pfeiler. Ich fühlte, wie ein Strick sich um meinen Hals fester und fester zog. Ich packte mit den Händen zu, wollte den Strick lockern. Meine Arme wurden jedoch von hinten zurückgerissen, lagen wie in eisernen Klammern. Dann drückte man mir ein Tuch auf das Gesicht. Ich roch den widerlich süßen Duft von Chloroform; Funken sprühten mir vor den Augen auf; ein rasender Wirbel schien mich in eine bodenlose Tiefe zu reißen.

Dann nichts mehr – nichts. Ich hatte das Bewusstsein verloren.

Aber nur für kurze Minuten. Die, von denen dieser heimtückische Überfall ausgegangen war, hatten Besonderes mit mir, mit uns vor. Wir sollten sehen und hören, sollten erkennen, dass wir hier in der Tat gegen eine unheimliche Macht ankämpften.

Ich kam zu mir. Ich schlug die Augen auf. Ich saß auf einem Stuhl, war gefesselt, hatte einen Knebel im Mund und neben mir stand ein zweiter Stuhl. Harst saß darauf, wehrlos wie ich, genau wie ich so gebunden, dass wir uns nicht erheben, nicht uns drehen konnten.

Und vor uns – kaum zwei Meter vor uns, erblickte ich nun im matten, rötlichen Lichtschein einer Laterne, die irgendjemand hinter uns hochhielt, auf seinem Bett den Herrn dieses Hauses. Armand Melprove lang ausgestreckt auf der Matratze liegend, gefesselt wie wir. Und über ihm pendelte an einer langen Schnur, die oben an der Decke an einem Nagel befestigt war, eine armlange, in der Mitte des Leibes festgebundene grün-braune Schlange langsam hin und her.

Das Reptil machte verzweifelte Anstrengungen, freizukommen. Dadurch geriet die Schnur immer aufs Neue ins Schwingen.

Melprove war wach. Seine weit aufgerissenen Augen verfolgten stier die Bewegungen des Schlangenpendels; seine Mienen verrieten ein ungeheures Entsetzen.

Was er fürchtete, was sich nur zu leicht ereignen konnte, war nur zu klar ersichtlich: Sobald die Schlange sich dem Gesicht des in seiner ausgestreckten Lage unverrückbar Festgehaltenen nähern würde, musste sie in ihrer blinden Wut genauso danach schnappen, wie sie es auch mit der Schnur tat, in die sie immer wieder hineinbiss. Fraglos war es eine gefährliche Giftschlange, sodass Melproves Schicksal besiegelt war, wenn das Pendel einmal weit genug ausschlug und seinem Kopf nahekam.

Wie hypnotisiert starrte nun auch ich auf dieses raffiniert ersonnene Mittel, einen Menschen dauernd in Todesangst zu halten. Melproves Augen wandten sich zuweilen blitzschnell mit einem Ausdruck stummen Flehens uns zu. Dann drang auch stets jenes dumpfe, qualvolle Stöhnen aus seiner Brust hervor, das wir vorhin gehört hatten.

Nur Sekunden konnte ich dieses entsetzliche Bild vor mir beobachten. Dann – in unserem Rücken eine leise, tiefe Stimme, die das Englische merkwürdig abgehackt sprach, wie jemand, der die Sätze auswendig gelernt hat.

»Melprove, das ist die Strafe, weil Sie sich mit Harst eingelassen haben. Wir wollen jedoch dieses Mal noch gnädig sein. Wenn Sie jetzt tun, was man von Ihnen verlangt, dann sollen Sie Ihr Leben behalten und Ihre Töchter und die Miss wiedersehen. Wollen Sie bis Montag das Geld flüssig machen?«

Melprove nickte eifrig.

Worauf der Unsichtbare hinter uns erklärte: »Sie beide aber werden die Strafe erleiden, die allen Störenfrieden und Schnüfflern Ihrer Art gebührt.«

Dann erlosch das Laternenlicht. Eine Hand drückte mir von hinten abermals einen mit Chloroform getränkten Lappen auf den Mund. Doch ich hatte von früher her so manches gelernt. Ich war nicht so töricht, mich allzu kräftig durch Kopfbewegungen zu wehren. Ich tat so, als wäre ich schnell betäubt worden, ließ den Kopf matt nach vorn sinken und erreichte, sodass der Rauschzustand nur Sekunden währte. Ich wollte bei Besinnung sein, ich musste es, denn ich sagte mir, dass die Leute, mit denen wir es hier zu tun hatten, uns nicht schonen würden.

Mein Kopf war nun mit einem Tuch umhüllt, welches mir um den Hals durch eine Schnur festgebunden war. Zwei Leute trugen mich davon. Ich erlangte die volle Besinnung wieder zurück, als ich eine Treppe emporgeschleppt wurde. Ich hörte das leise Knarren einzelner Stufen und jenes besonders geartete, knisternde Geräusch, das die aus Java so viel verwandten Reisstrohläufer beim Darüberschreiten hervorrufen. Dann wurde ich auf kahle Dielen gelegt. Ich merkte, dass die beiden Leute sich entfernten. Sie erschienen jedoch bereits nach drei Minuten abermals neben mir. Nur Harald Harst konnte es sein, den sie nun herbeigebracht und neben mich gelegt hatten. Ich vernahm Flüstern, vernahm andere Geräusche. Dann hob man mich empor. Es war ein Strohsack, der nun mein Lager bildete. Meine Arme und Beine wurden nacheinander von den Stricken befreit und anders gefesselt. Unter den Kopf schob man mir ein Bündel Stoff.

Nach einer Weile wieder das vorsichtige Schließen einer Tür. Dann Stille. Nur das Stroh unter mir raschelte. Meine Handgelenke waren nun bei zur Seite gestreckten Armen offenbar mit Riemen an Haken gebunden, die man in den Fußboden eingeschraubt hatte. Meine Beine, gleichfalls etwas gespreizt, mussten in derselben Weise an Haken befestigt sein. Die Lage war nicht allzu unbequem.

Genau vor mir dasselbe Rascheln von Stroh. Dort würde wohl Harst liegen. Nun – ein leises Räuspern. Er war es! Unsere Strohsäcke mussten sich an den Fußenden berühren – ich gab ebenso leise Antwort. Auf mein Hüsteln hin wurde jedoch rechts von mir eine Tür aufgerissen und eine Stimme flüsterte drohend: »Wenn Ihr euch nicht still verhaltet, bekommt Ihr wieder die Chloroformlappen auf den Mund!«

Dann fühlte ich abermals den kühleren Luftzug, der durch das Schließen der Tür entstand. In unserem Kerker herrschte nämlich eine fürchterliche stickige Hitze. Ich roch trotz des Tuches, das mich am Sehen hinderte und das recht dick war, ganz deutlich die Ausdünstungen harzigen von der Sonne erhitzten Holzes.

Ich lag still. Ich war so müde und abgespannt, dass ich sehr bald gegen meinen Willen einschlief.

Plötzlich fuhr ich zusammen. Ich fühlte, wie man mir das Tuch vom Kopf nahm. Ich war noch zu schlaftrunken, um mich sofort in die Wirklichkeit zurückzufinden. Ich erinnerte mich nur allmählich an das Vorgefallene.

Dann – dicht an meinem Ohr Harsts Stimme.

»Na – ganz munter, mein Alter?«

Ich wollte mich aufrichten. Aber ich war noch gefesselt.

Harst zog mir nun den Knebel aus dem Mund.

»Liege ruhig«, fuhr er fort. »Ich darf dich leider noch nicht befreien.«

»Und du selbst? Du bist doch frei!«

»Ja – es sind blutige Anfänger, die uns diesen Streich gespielt haben; fraglos schlau und rücksichtslos; aber nicht schlau genug. Es ist mir gelungen, die beiden Haken, an die meine Hände festgebunden waren, herauszudrehen. Nachher drehe ich sie wieder in dieselben Löcher ein. Dann merkt niemand, dass ich jede Minute loskommen kann.«

Ich hatte den Kopf etwas zur Seite gedreht. Dort fiel nämlich ein schmaler, langer Streifen Sonnenlicht in diese Finsternis hinein. Von Harst sah ich nichts. Es war hier im Übrigen stockdunkel.

»Wo befinden wir uns?«, fragte ich schnell. »Weißt du, Harald, ich mag mich ja täuschen«, fügte ich sofort hinzu. »Aber mir scheint, wir sind noch jetzt in Melproves Bungalow. Ich war kaum halb betäubt, und die Leute, die mich forttrugen, legten nur einen sehr kurzen Weg zurück – auch eine Treppe empor …«

»Sieh da, du hast es also auch gemerkt, lieber Alter! Es stimmt, wir sind Melproves Gäste, freilich Gäste besonderer Art.«

Gewiss – ich hatte es vermutet, dass man uns gar nicht zum Haus hinausgeschafft hätte. Nun aber, wo mir Harald dies mit einer so ironischen Redewendung bestätigte, war ich doch förmlich sprachlos. Und ich konnte dann nur wie ungläubig wiederholen: »Gäste, Gäste besonderer Art?«

»Tja, mein Alter«, meinte Harald, »es soll Leute geben, die, wenn sie vor dem Konkurs stehen, auf die seltsamsten Tricks kommen, um einen guten Freund zur Hergabe eines ansehnlichen Darlehens zu bewegen. Van Diemen ist gleichfalls mehrfacher Millionär.«