Heftroman der

Woche

Download-Tipp

Der Welt-Detektiv Band 6

Neueste Kommentare
Archive
Folgt uns auch auf

Der Wildschütz – Kapitel 28

Th. Neumeister
Der Wildschütz
oder: Die Verbrechen im Böhmerwald
Raub- und Wilddiebgeschichten
Dresden, ca. 1875

Achtundzwanzigstes Kapitel

Ein Vermittler – zwei wichtige Personen

Am folgenden Nachmittag saß Herr Lorenz, einer der ausgezeichnetsten Rechtsmänner der Residenz, in seinem Arbeitszimmer, damit beschäftigt, einen großen Aktenstoß durchzusehen, als ihm sein Diener meldete, dass der Graf Praßlin soeben vor seinem Quartier abgestiegen sei und in wenig Minuten eintreten werde.

Der Advokat vernahm diese Meldung mit einiger Verwunderung, dann erhob er sich rasch, schob die Arbeiten beiseite, um den angesehenen Besuch auf gebührende Weise zu empfangen.

Wir dürfen nicht unbemerkt lassen, dass Herr Lorenz die Stelle eines Notars und Rechtsanwalts in den Angelegenheiten des Grafen Praßlin vertrat, ihm wurden von dem Letzteren sämtliche Angelegenheiten seines Hauses überlassen und der Rechtsgelehrte besaß das volle Vertrauen des alten Herrn, das er auch schon eine lange Reihe von Jahren hindurch gerechtfertigt hatte.

Der Graf trat bald darauf in das Zimmer. Herr Lorenz war demselben entgegengegangen und führte ihn zu seinem Armstuhl, in welchem sich jener niederließ.

»Sie staunen über meinen Besuch, mein Lieber«, sagte der Graf, während er noch immer die Hand des Angeredeten in der seinen hielt. »Es sind indessen sehr wichtige Sachen, die mich veranlassten, zu Ihnen zu kommen, und da dieselben keinen Aufschub erleiden, ohne nachteilig für mich zu werden, so konnte es nichts helfen, ich musste schleunigst in die Stadt kommen.«

»Ew. Gnaden haben mich wirklich und zwar sehr angenehm durch die Ehre Ihres unvermuteten Besuchs überrascht«, versetzte der Rechtsanwalt, »und ich bin voll Erwartung, zu vernehmen, welche Ursache die Veranlassung gegeben hat, mich durch Ihre Gegenwart zu erfreuen.«

»Ich bin gekommen, um Ihnen zu sagen, dass ich die Angelegenheit des von uns betretenen Wildschützen betreffend, in Güte beigelegt wünsche. Ich will nicht, dass in dieser Sache noch länger fortgefahren werde.«

»Aber Ew. Gnaden«, bemerkte der Advokat nach kurzem Schweigen, »darf ich fragen, welchen Umständen diese plötzliche Änderung der Gesinnungen zuzuschreiben ist? Es ist bis hierher alles gediehen und es kann nicht fehlen, dass wir den Burschen auf wenigstens 5 bis 6 Jahre außer Stand setzen, eine Büchse zu spannen.“

»Vorausgesetzt, wenn er in unseren Händen wäre«, bemerkte der Graf, »und wenn ich es dann noch wünschte und so haben wollte. Da er jedoch seine Freiheit durch List erlangt und sich nicht so leicht wieder fangen lassen wird, so möchte wohl Verzug eintreten, um ihm dieses Strafmaß bemerklich machen zu können. Da ich nun aber, wie gesagt, nichts gegen ihn weiter zu unternehmen gedenke, so glaube ich die Sache als erledigt ansehen zu dürfen. Sobald Sie imstande sind, werden Sie den Aufenthalt jenes Menschen auskundschaften, den ich kennen lernen will.«

Der Rechtsanwalt konnte sich noch nicht von seinem Staunen erholen.

»Der Grund zu diesem Benehmen gegen einen Menschen, dessen Bestrafung früher einer meiner hauptsächlichsten Wünsche war, muss ein Geheimnis für Sie bleiben«, fuhr der Graf fort, »ich empfehle Ihnen daher, ganz nach meinem Willen zu handeln und alles rückgängig zu machen, was dem jungen Mann zum Nachteil gereichen könnte. Scheuen Sie dabei keine Opfer«, fügte er hinzu, »ich stehe für alles.« Mit diesen Worten legte er eine volle Börse in die Hand seines Anwaltes, dessen Staunen durch dieses Benehmen noch mehr gesteigert wurde.

Der Graf stand im Begriff weiterzusprechen, als der Diener abermals hereintrat und seinem Herrn ein Billet überreichte.

»Der Überbringer war ein junger Mann«, sagte er, »ich kannte ihn nicht und beim Weggehen bat er mich dringend, Ihnen sofort den Brief zu überreichen, weil es eine Angelegenheit von größtem Interesse beträfe. Auch sagte er mir, dass er heute Nachmittag gegen 4 Uhr wieder kommen wolle, um Antwort zu holen.«

»Es ist gut«, sagte Herr Lorenz, während er den Brief empfing, um den Inhalt zu lesen, welcher überhaupt kurz abgefasst war.

Das Schreiben enthielt Folgendes:

Geehrter Herr!

Ein Vorfall von seltener und wichtiger Art bewog mich zu dem Entschluss, bei Ihnen, als einem Mann von anerkannter Berühmtheit, Rat und Unterstützung in einer Sache zu suchen, die von Ihnen geleitet, glücklich durchgeführt werden würde. Ich habe Ihnen sehr wichtige Mitteilungen zu machen. Es handelt sich um die Rettung eines Unschuldigen und um die Bestrafung von Ver-brechern, deren entsetzliche Schuld dem Richter bisher verborgen blieb. Ich kenne eine Person, welche imstande ist, die Mörder des Pächters Andreas genau zu bezeichnen und bitte Sie auf das Dringendste, diese Angelegenheit zu der Ihren zu machen, um den Ruf noch zu erhöhen, der Ihren Namen zu einem Gegenstand allgemeiner Verehrung gemacht hat.

Der Brief war ohne Unterschrift gelassen.

Der Rechtsgelehrte legte den Brief schweigend auf seinen Schreibtisch, dann winkte er mit der Hand. Nachdem sich der Diener entfernt hatte, sagte er: »Ew. Gnaden werden mich gütigst entschuldigen, wenn ich einige Minuten den Gedanken an meinen geehrten Gast aus dem Gedächtnis verloren habe. Ach, Herr Graf«, fuhr er mit einem Seufzer fort, »ein Mann von meinem Fach gehört sich niemals selbst an, unsere Augen, unsere Ohren müssen nur immer dem Übel und dem Wehe der Zeit offenstehen, um zu streiten und zu fechten für das Recht. Ach, wie oft haben wir Pflichten auszuüben, die in ihrer Erfüllung sehr schwer sind.«

»Ich glaube es Ihnen gern, mein lieber Freund«, versetzte der Graf, »und da ich weiß, dass Ihre Stunden streng gemessen sind, so will ich Ihnen nicht länger Ihre Zeit rauben. Leben Sie wohl, mein guter Herr Lorenz«, fuhr er fort, »handeln Sie und wenden Sie alles an, den Ort auszukundschaften, wo sich der Wildschütz aufhält. Sparen Sie kein Geld, aber erfüllen Sie nur meine heutigen Aufträge. Sie können überzeugt sein, dass ich gegen Sie dankbar sein werde.«

Der Graf entfernte sich mit der Bemerkung, den Rechtsgelehrten vor seiner Abreise zu dem einsamen Wohnsitz noch einmal zu besuchen. Nachdem er das Zimmer verlassen hatte und Herr Lorenz wieder allein war, ging er nachdenkend einige Male auf und ab.

»Was hat das zu bedeuten?«, sagte er kopfschüttelnd. »Zuerst dieser grimmige Hass und jetzt ein Verlangen, denselben gut zu machen bei Gott, ich bin ganz irre geworden in dem Grafen; sein Wille ist mit seinen früheren Gesinnungen nimmermehr in Einklang zu bringen. Doch mir kann und soll es einerlei sein, ich will nach seinen Wünschen handeln – er hat es selbst gewollt, und wenn ihm sein plötzliches Stillstehen auf dem Weg, einen Verbrecher zu bestrafen, einmal später Reue verursachen sollte, dann ist es seine eigene Schuld. Am meisten befremdet mich ein Auftrag, jenen Menschen herbeizuschaffen – wie soll ich dies bewerkstelligen?«

Bald darauf vertiefte sich der Rechtsgelehrte wieder in seine beiseitegelegte Arbeit, die er auch vor ihrer Vollendung nicht mehr aus den Händen legte. Die Mittagszeit war längst vorüber, als er endlich damit fertig geworden war. Nun beschloss er, sich einige Ruhe zu gönnen und die Zeit nach dem vollendeten Mittagsmahl zu einem Spaziergang im Freien zu verwenden. Er wählte dazu einen angenehmen, aber etwas einsamen Fußweg, welcher zu einem in der Nähe der Residenz liegenden freundlichen Dorf führte, wohin er oft in seinen Mußestunden wanderte, um eine Tasse Limonade oder Kaffee zu trinken und eine Pfeife zu rauchen.

Das Gasthaus, wo er gewöhnlich einsprach, führte den Namen Zu den drei Linden. Es war ein berühmter Ort, und wer es sich nicht verdrießen ließ, den Weg hierher zu machen, konnte sicher auf gute Bedienung und billige Zeche rechnen.

Da es nicht Sonntag war, so fand unser Wanderer das Gastzimmer Zu den drei Linden ziemlich leer von Gästen, und nur zwei Personen, dem Anschein nach Fremde, hatten an einem Tisch Platz genommen, um ein wohl zugerichtetes Mahl einzunehmen, das ein flinker Kellner soeben aufgetragen hatte.

Die beiden Fremden unterhielten sich bisher in englischer Sprache miteinander und da Herr Lorenz dieselbe geläufig sprach, so verstand er alles, was sie sagten, obwohl er sich so verhielt, als achte er nicht auf das Gespräch, welches, beiläufig bemerkt, laut genug geführt wurde, um alles verstehen zu können.

»Da wären wir endlich wieder in den Hafen eingelaufen, aus welchem wir vor langen Jahren mit allen Segeln davonflogen; hm, wenn ich daran denke, in welcher Gesellschaft es geschah und auf welche Veranlassung. Es war doch ein schlechter Charakterzug der alten Gräfin, das arme Mädchen wie ein Schlachtopfer fortschleppen zu lassen – nun, wir beide dürfen uns weniger Vorwürfe deshalb machen; wir waren allerdings die Werkzeuge, aber die Handlung kann doch nur der Gräfin zur Last gelegt werden.«

Was in aller Welt haben diese hier zu verhandeln, dachte Herr Lorenz bei sich selbst. Wie mir scheint, liegt dieser Sache ein verübtes Bubenstück zu Grunde – nicht selten geht das Laster in stolzer Hülle einher; – ich will doch weiter horchen.

»Wo werden wir ein Asyl für unsere alten, müden Knochen finden?«, fragte der eine von den Fremden, »offen gestanden, ich möchte meine Zeit von nun an in ungestörter Ruhe verleben. Mein erworbenes Vermögen gibt mir die Mittel dazu.« »Ich danke dafür«, sagte der andere, »ich habe lange genug Entbehrungen getragen und will nun auch endlich einmal genießen!«

»Genießen?«, prustete der Erstere los, »nun, bei Gott, wenn du darüber klagen willst, dann will ich schweigen. Bedenke doch, dass du sehr viel Angenehmes in deinem Leben erfahren hast; wie manche Blume erblühte dir auf den Gefilden des herrlichen Indiens.«

Aha, die kommen weit her, dachte Herr Lorenz, sie haben ohne Zweifel die Reise über das Meer gemacht. Der gute Mann wurde durch die Anrede des einen der Fremden in seinem Nachdenken unterbrochen.

»Mein Herr«, sagte derselbe in lustigem Ton, »sind Sie vielleicht imstande, mir zu sagen, ob die Gräfin von Praßlin nach am Leben sein mag?«

»Sie ist es nicht mehr«, versetzte der Rechtsgelehrte, »und ihr Leben ist längst für diese Welt verloschen.«

»So. Hm!«, murmelte der Mann vor sich hin. »Nun, Gott gebe ihr eine sanfte Ruhe – aber«, fügte er fragend hinzu, »der Graf lebt gewiss noch.«

»Ja, er lebt noch, aber er ist vor der Zeit ein alter Mann geworden«, sagte Herr Lorenz.

»Gott sei Dank! Dann kann ich noch meine Obliegenheiten gegen denselben erledigen, und wo wohnt er für gewöhnlich?«

»Er hat ein altes Waldschloss, mehrere Meilen von der Residenz gelegen, zu seinem Aufenthalt gewählt, und wenn Sie ihn sprechen wollen oder etwas an ihn zu besorgen haben, so kann ich Ihnen dabei zu Diensten stehen, indem ich die Ehre habe, mich Ihnen als den Notar des gnädigen Grafen vorzustellen.«

»Ei was! Es ist uns sehr erwünscht«, sagte der andere, »Ihre Bekanntschaft zu machen, und es kann bald geschehen, dass wir Ihre Hilfe in Anspruch nehmen, und wenn Sie uns tüchtig beistehen, dann werden wir Sie gewiss gut bezahlen. Wir können das, denn soeben kommen wir aus einem Land zurück, wo man Goldklumpen in der Größe eines Ziegelsteines findet und es gar nicht der Mühe wert hält, sich danach umzusehen.«

Der Sprecher erfasste das volle Weinglas, dessen Inhalt er schon oft erneuert hatte, um gleichsam den üblen Nachgeschmack seiner Aufschneiderei hinunterzuspülen. Nachdem er getrunken hatte, stand er auf.

»Nun ist es Zeit, dass wir aufbrechen«, sagte er, »ich bin neugierig, die Residenz wiederzusehen. Ich will womöglich meinen Einzug mit voller Vernunft und nüchtern halten, was unmöglich geschehen kann, wenn ich hier bei vollen Flaschen noch länger sitzen bleibe.«

Sein Gefährte war damit einverstanden, und nachdem die Zeche bezahlt und der Wein ausgetrunken war, trafen sie Anstalten, sich zu entfernen.

»Noch eins, mein lieber Freund«, sagte der Aufschneider, sich nochmals gegen den Rechtsgelehrten wendend, »darf ich um Ihre Adresse bitten?«

»Mit Vergnügen stehe ich zu Diensten«, versetzte jener. »Meine Wohnung ist S…straße Nr. 16.«

»Ich werde es in mein Notizbuch vermerken«, sagte der Fremde. »Und nun leben Sie wohl, mein Herr!«

Beide gingen nun miteinander weiter, begleitet von den zweifelhaften Blicken des Advokaten, der ihnen kopfschüttelnd nachsah.

»Nun fürwahr, wenn ich je einen prahlerischen Lümmel in einem besseren Kleid gesehen habe als gegenwärtig, dann müssen mich meine hellen Augen grob getäuscht haben«, sagte er zu sich selbst – der andere schien minder unverschämt zu sein.«

Und mit dem Ende seines Selbstgespräches nahm der Rechtsgelehrte Stock und Hut, gab dem Kellner den Betrag für das Genossene und entfernte sich. Er schlug denselben Rückweg ein, um ein abermaliges und unnötiges Zusammentreffen mit den beiden Fremden zu vermeiden, welche ihm lästig geworden waren und die, wie er von dem Fenster des Gastzimmers aus bemerkte, die Heerstraße zur Hauptstadt einschlugen.

Eine Stunde später saß Herr Lorenz wieder bei seinen Akten.