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Das Gespensterbuch – Fünfte Geschichte Teil 4

Das Gespensterbuch
Herausgegeben von Felix Schloemp
Mit einem Vorwort von Gustav Meyrink
München 1913

Wenn wir gestorben sind …
von Frédéric Boutet

Fortsetzung …

Die Gesellschaft neigte sich indessen ihrem Ende zu, der größere Teil der Gäste hatte sich bereits zurückgezogen. Die letzten Erfrischungen wurden umhergereicht.

Auf den Arm ihres Freundes gestützt, hatte die Gräfin mit lächelndem Interesse das junge Paar beobachtet, das jetzt still und nachdenklich nebeneinandersitzend lange zärtliche Blicke miteinander wechselte. »Sagen Sie mir, Baron«, bemerkte die Gräfin nun, »finden Sie nicht auch, dass es den Anschein hat, als ob Ihr Verwandter sich lebhaft für meine junge Freundin Adrienne interessiere?«

»Aber … aber … das scheint mir doch nicht der Fall zu sein«, stammelte der Baron, der die Sache ebenfalls bemerkte und ebenso erstaunt wie peinlich berührt davon war.

»Nun, nun, Baron, deshalb brauchen Sie sich nicht zu beunruhigen«, erwiderte ein wenig boshaft die Gräfin. »Das ist ganz außer Frage. Außerdem ist es auch sehr nett. Dass Ihr Verwandter ein vollendeter Edelmann ist, erkennt man beim ersten Blick, und was meine kleine Adrienne betrifft, so kennen Sie die ja auch und wissen, dass sie der Liebe des ausgezeichnetsten Mannes würdig ist.«

»O gewiss, gewiss.«

»Sie ist ebenso tugendhaft, wie sie schön ist«, fuhr die Gräfin fort, »und sie hat sich niemals mit den sogenannten Flirts befasst, die heute bei den jungen Damen so sehr in Mode sind und die manchmal wirklich etwas zu weit gehen. Herr de Léonce muss unbedingt einen sehr starken Eindruck auf sie gemacht haben. Selbst der Stiftsamtmann hat dies bemerkt, obwohl gerade die Eltern in solchen Dingen gewöhnlich sehr blind sind. Nicht wahr, Herr Stiftsamtmann?«

»Frau Gräfin wünschen?«, fragte der Stiftsamtmann, der ein wenig taub war, sich umwendend.

»Scheint es Ihnen nicht auch, als ob Ihre Tochter und dieser neuangekommene feine junge Kavalier, der ein Verwandter unseres Barons ist, sich sehr gut miteinander verstehen?«

»So, so! Umso besser. Meiner Treu, mich freut das von Herzen. (Der Vater Adriennes, der in Wirklichkeit bisher noch gar nichts gemerkt hatte, schien sehr zufrieden zu sein.) Bisher hat dieses kleine spröde Frauenzimmerchen sich Herren gegenüber noch niemals entgegenkommend gezeigt, obwohl es ihr keineswegs an Bewerbern gefehlt hat. So oft ich sie gedrängt habe, ihre Wahl zu treffen, hat sie dies doch stets hartnäckig verweigert unter dem Vorwand, dass sie für keinen ihrer Verehrer Liebe empfände, und dass sie unter allen Umständen warten wolle, bis der Mann sich um sie bewerben würde, den sie als den Auserwählten ihres Herzens anzuerkennen bereit wäre. Ich wusste schon gar nicht mehr, was ich mit ihr anfangen sollte. Wenn Herr de Léonce der Auserkorene ihres Herzens sein sollte, so würde mich dies sehr freuen. Er ist ein Verwandter des Barons, und das ist eine volle Garantie für die Reinheit seiner Familie. Ich erinnere mich sogar, seinen Großonkel, den General, gekannt zu haben. Adrienne de Léonce! Meiner Treu, das klingt gut, es ist ein nobler Name. Sehr gut, sehr gut! Wissen Sie, es ist stets eine heikle Sache, wenn man seine Tochter standesgemäß verheiraten will.«

»Ziehen Sie keine voreiligen Schlüsse«, sagte der Baron, den diese Wendung des Abenteuers ernstlich beunruhigte. »Bis jetzt ist nichts entschieden.«

»Bah! Wir wollen sie noch heute Abend miteinander verloben.« Der Stiftsamtmann Hilarion rieb vergnügt seine Fingerknochen aneinander. »Hier weiß man gute Gelegenheiten zu benutzen und macht voran! Wir sind nicht so einfältig wie diese Lebenden, die ihre kurze Existenz damit verzetteln, über die Möglichkeit eines Glückes zu grübeln, das sie vielleicht niemals erreichen. Wir haben die Zeit, warten zu können, aber eben deshalb warten wir nicht.«

Er glaubte mit diesen Worten eine tiefe Wahrheit gesagt zu haben und lachte vergnügt – es klang, als ob eine schlecht geölte Kapellentür knirschte.

»Vergessen wir jedoch nicht«, bemerkte die Gräfin, »dass noch längere Zeit darüber vergehen wird, ehe Herr de Léonce fertig sein kann … Indessen stehe ich für Adrienne und die Lauterkeit ihrer Gefühle ein. Diese Frist wird ihrer Liebe keinen Abbruch tun, sie wird im Gegenteil dadurch noch größer werden.«

»Natürlich, das ist ganz gewiss, es wird eine durchaus glückliche Ehe werden«, sagte stolz der Vater.

Der Baron La Rose wusste nicht mehr, was er sagen sollte. »Gestatten Sie mir, ein paar Worte mit Herrn de Léonce zu sprechen«, stotterte er.

Er näherte sich dem verliebten Paar, das Gegenstand seiner Sorgen war. Adrienne und Adhémar saßen immer noch dicht beieinander und flüsterten sich Liebesworte und Treueschwüre zu. Herr La Rose sagte dem jungen Mädchen, dass die Gräfin mit ihr zu sprechen wünsche, und schob seinen Arm unter den Adhémars.

»Mein lieber Freund«, sagte er ziemlich barsch, »sind Sie sich der Tragweite Ihres Handelns wohl klar bewusst?«

»Ich liebe sie«, antwortete Adhémar, der vor Freude strahlte und im siebenten Himmel zu sein schien.

Der Baron sah ihn ganz verblüfft an.

»Bei meinem Ehrenwort«, sagte er, »Sie sind bewunderungswürdig! Was, vor kaum zwei Stunden erst haben Sie um Ihrer verlorenen Liebe willen mein Brustbein mit heißen Tränen benetzt, und ich habe mir die größte Mühe gegeben, Sie in Ihrer Verzweiflung zu trösten … und jetzt … jetzt finde ich Sie lächelnd und trunken vor Freude. Ich gebe mir die Mühe, Sie auf die kompromittierenden Folgen der Torheit aufmerksam zu machen, die zu begehen Sie im Begriff sind, und Sie antworten mir: ›Ich liebe sie‹, und Sie erklären mir das mit einer Ruhe und Sicherheit, als ob es die selbstverständlichste, normalste Sache der Welt sei.«

»Ich habe die andere niemals geliebt«, antwortete Adhémar mit der größten Ruhe, »ich habe sie allerdings zu lieben geglaubt, aber ich erkenne jetzt, dass dies ein Irrtum war. Erinnern Sie mich nicht mehr daran. Ich verbanne jeden Gedanken an jene Zeit für immer aus meinem Gedächtnis. Es ist Adrienne, die ich anbete. Verstehen Sie mich wohl: Ich bete sie an! Sie ist ein Engel, sie bedeutet mir so viel wie die Quelle allen Glücks, ich neige mich vor ihrer göttlichen Reinheit und werde niemals von ihr lassen. Ich bete sie an! Oh, wie schwach und ungenügend ist die Sprache, um auszudrücken, was ich für sie empfinde. Sie können das nicht begreifen.«

»Natürlich.«

Der Baron schien wütend zu sein.

»Wahrhaftig«, sagte er, »die Liebe macht die gescheitesten Leute zu Idioten. Aber sind Sie sich auch klar bewusst, wen Sie lieben, kleiner Unglücksmensch? Sind Sie sich dessen klar bewusst?«

»Ich liebe Adrienne«, antwortete Adhémar.

»Das weiß ich. Das haben Sie mir schon gesagt. Aber wissen Sie auch, wer und was Adrienne ist – wissen Sie das? Sie ist eine der unsrigen! Eine der unsrigen! Verstehen Sie das wohl. Kommen Sie doch zu Verstand. Sie ist eine der unsrigen! Und Sie, Sie gehören dem Leben an! Sapristi!«

»Aber was macht das, wenn ich sie liebe«, antwortete eigensinnig der junge Mann.

»Was das macht? Auf Ehrenwort, er hat den Verstand verloren«, schrie der Baron beinahe in aufgeregtem Ton. »Es würde ja allerdings gar nichts machen, wenn Sie sie liebten, ohne dass sie es wüsste, und, wenn dies der Fall wäre, würde ich mich auch in keiner Weise deshalb beunruhigen – aber sie scheint ebenfalls in Sie verliebt zu sein, und das ist das Unglück …«

»Ja«, antwortete stolz Adhémar, »so ist es, sie selbst hat mir dieses süße Geständnis gemacht. Es war ein göttlich schöner Augenblick, als sie es tat, und mein Glück ist nun ein vollkommenes.«

»Aber die Situation, die Situation«, seufzte der Baron entwaffnet. »Überlegen Sie sich doch die seltsame Lage, in der Sie und auch ich uns befinden. Was sollen wir nur anfangen? Vor allem, wie soll ich mich aus dieser Affäre ziehen, ich, der ich die Torheit begangen habe, Sie hierhin zu bringen! Ich, der ich in jeder Weise für Ihr Auftreten in unseren Kreisen verantwortlich bin.«

»Sie werden niemals Veranlassung haben zu bedauern, dass es geschehen ist, Baron«, sagte Adhémar in stolzem Ton.

»Aber, was soll ich nur anfangen? Machen Sie sich doch nur klar, in welch prekäre Lage ich geraten bin. Wenn ich die Wahrheit sage – und ich bin ja doch gezwungen, dies zu tun –, so blamiere ich mich vor unserer ganzen Aristokratie, die ich aus Schwäche für Sie verraten habe. Man wird alle Türen vor mir verschließen, und ich werde wenigstens zwanzig Duelle mit dem Stiftsamtmann und all den anderen Verwandten auszufechten haben. Und das wäre noch lange nicht das Schlimmste, aber wie wird die Gräfin die Sache auffassen? Was wird sie von mir denken? Bedenken Sie doch, dass wir ihre Gäste sind! Und diese arme kleine Adrienne, die Sie wirklich lieb zu haben scheint, deren erste Liebe Sie sind. Wie furchtbar kompromittieren Sie dies arme Mädchen. Sie hat ein Verhältnis mit einem Lebenden angefangen. Ich bin mitschuldig an diesem Unglück – ich bin wirklich mitschuldig. Welch furchtbare Lage! O Gott, was soll ich nur anfangen?«

»Sagen Sie nur ruhig die ganze Wahrheit«, antwortete gelassen Adhémar.

»Die Wahrheit sagen? Nun ja, das muss ich wohl, und ich darf keinen Augenblick damit zögern. Aber welche Schande ist das für mich«, murmelte der Baron niedergeschlagen.

»Aber ganz und gar nicht«, sagte Adhémar heiter, »kommen Sie nur mit mir.«

Er fasste den Armknochen des Barons und führte ihn zu der Gräfin, die, in vertraulicher Gruppe mit Adrienne und dem Stiftsamtmann plaudernd, den beiden freundlich entgegen lächelte. Der Stiftsamtmann vermochte es kaum, seine helle Freude zu unterdrücken, als er die beiden Freunde auf sich zukommen sah, denn er dachte, dass Adhémar ihn um die Hand seiner Tochter bitten würde.

»Es freut mich sehr. Sie wieder zu sehen, lieber Herr von Léonce«, sagte er, ihm entgegenkommend, die Hand Adhémars ergreifend und sie verbindlich zwischen seine harten Handknochen drückend. »Aber«, bemerkte er dann plötzlich ganz erstaunt, »wie warm sind Sie … und wie seltsam Ihre Augen leuchten …?«

»Sie werden sofort erfahren, wie das zusammenhängt«, antwortete höflich Adhémar. »Der Baron La Rose hat Ihnen eine Mitteilung zu machen.«

»Nun, und was wäre das«, sagte der Stiftsamtmann.

»Jede uns vom Baron La Rose gemachte Mitteilung wird uns sehr interessieren«, sagte die Gräfin, einen Schritt vortretend, während Adrienne, die sehr verlegen zu sein schien, sich ein wenig zurückzog. »Übrigens«, fügte die Gräfin von Talk hinzu, »hat meine junge Freundin mir und dem Stiftsamtmann schon halb und halb verraten, was Sie uns sagen wollen.«

»Das, das glaube ich kaum«, murmelte der Baron, dessen Stirn sich vor Aufregung mit einer feuchten Ausdünstung bedeckte.

»Doch, das glaube ich ganz gewiss«, sagte die Gräfin munter. »Also reden Sie, Baron. Sie können sich frei aussprechen. Alle meine Gäste haben uns verlassen. Wir sind ganz unter uns.«

»Ja, reden Sie, Baron«, sagte auch der Stiftsamtmann, sich in die Pose eines aristokratischen Vaters werfend, was er ja auch wirklich war.

»Nun also – also – ich weiß nicht recht, wie ich es Ihnen beibringen soll.« Herr La Rose schien wirklich in großer Verlegenheit zu sein. »Nun also«, sagte er endlich verzweifelnd, »also, ich habe Sie verraten, gnädige Frau. Ich habe unsere ganze Gesellschaft verraten. Herr de Léonce – Herr de Léonce ist lebendig.«

»Lebendig, ach, wie entsetzlich«, rief die Gräfin.

»Lebendig? Was? Einer dieser Pöbelbande in unserem Kreis, und meine Tochter hat sich mit ihm eingelassen«, brüllte der Stiftsamtmann. »Baron, dafür werden Sie mir Genugtuung geben.«

»Lebendig, er, mein Gott«, seufzte Adrienne mit gebrochener Stimme.

Es waren nur ihre Worte, auf die Adhémar lauschte. Er stürzte auf sie zu, um das arme Kind in seinen Armen aufzufangen, denn sie sank um wie eine Blume, die der Sturm geknickt.

»Zurück«, schrie wütend der Stiftsamtmann, auf ihn zustürzend. »Ein Lebender soll meine Tochter nicht berühren.«

»Beruhigen Sie sich.« Adhémar, dessen linker Arm das ohnmächtige Mädchen umschlungen hielt, machte mit der rechten Hand eine gebieterische Bewegung und trat dem Stiftsamtmann mit einer Würde und Hoheit entgegen, die ihre Wirkung nicht verfehlte. »Beruhigen Sie sich«, wiederholte er und blickte den alten Herrn offen und mit edlem Stolze an. »Lebendig! Gewiss, das bin ich. Ich kann das nicht leugnen, und ich habe meine Lippen auch noch nie mit einer Lüge befleckt. Ich bin lebendig – aber, wenn der Baron sich dadurch strafbar gemacht, dass er mich hier eingeführt hat, so sei Ihnen sein lauterer Charakter Bürgschaft dafür, dass nur der Edelmut seiner Seele und die große Güte seines Herzens ihn schuldig gemacht haben. Er hat sein Vertrauen als Edelmann auf die Ehre eines Edelmannes gesetzt, der sich dessen nicht unwürdig erweisen wird, das können Sie mir glauben! Ich bin augenblicklich noch lebendig, aber das ist doch von gar keiner Bedeutung, da ich in wenig Augenblicken aufgehört haben werde zu leben.«

»Was«, sagte die Gräfin, »Sie wollen?«

»Mein großmütiger Freund«, rief der Baron, »ich hoffte, dass es so kommen würde; aber mein Zartgefühl verbot mir, mit Ihnen darüber zu reden.«

»Sehr gut, junger Mann!« Und der Stiftsamtmann schnäuzte sich.

»Mein edler Adhémar«, seufzte Adrienne, die aus ihrer Ohnmacht erwacht war.

»Engel«, sagte Adhémar, zärtlich das schlanke reizende Kind an das Herz drückend. »Es gibt nichts, was ich nicht vollbringen könnte, wenn es dich zu erringen gilt. Ganz abgesehen davon, erscheint es mir kein Opfer zu sein, für dich zu sterben. Ich bin des Lebens und seiner plumpen verräterischen Frauen überdrüssig. Hier habe ich die Ehre, die Liebe, die Freundschaft gefunden. Hier bleibe ich.«

»Welche Freude für uns, dass Sie bei uns bleiben wollen«, rief die Gräfin. »Ihr Eintritt in das Reich der Toten ist wirklich romantisch, mein Herr, und wird Ihnen Glück bringen.«

»Mein Freund, ich bin tief gerührt«, und der Baron umarmte den jungen Mann zärtlich, er war so verwirrt, dass er aus Versehen auch die Gräfin in die Arme schloss.

»Mein Schwiegersohn.« Der Stiftsamtmann küsste Adhémar auf die andere Backe. Diese dummen Menschen würden alle nicht mehr leben wollen, wenn sie sähen, welches Glück wir hier genießen.«

»Ich lieb dich«, murmelte Adrienne so leise, dass nur Adhémar es vernahm.

»Nun aber ans Werk, so schnell wie möglich«, rief der junge Mann begeistert.

»Wäre es da nicht vielleicht doch besser, wenn die Damen sich zurückziehen wollten«, warf der Stiftsamtmann ein.

»Woran denken Sie«, protestierte der Baron. »Das kann nicht hier in der Wohnung der Gräfin von Talk gemacht werden. Die Schicklichkeit erfordert, dass das draußen geschieht, und wir werden uns deshalb jetzt verabschieden.«

»Ja«, sagte Adhémar eifrig, »gehen wir, so schnell wie möglich.«

»Auf baldiges Widersehen, Herr de Léonce«, sagte die Gräfin gerührt zu dem jungen Manne. »Lass ihn gehen, liebe Adrienne«, fügte sie hinzu, denn das junge Mädchen hielt den Hals ihres Geliebten umklammert und wollte sich nicht von ihm trennen.

»Noch einen Kuss«, bat Adhémar, sie fest an das Herz drückend. Sie gewährte ihn mit schmerzlicher Freude und ließ sich dann von der Gräfin fortführen.

»Wird es ihm sehr wehe tun?« flüsterte angsterfüllt das zärtliche Kind, matt an das Schlüsselbein der Gräfin sinkend.

»Aber nein, es ist nichts«, antwortete diese, das junge Mädchen stützend und nur mühsam ihrer eigenen Erregung Herr werdend.

Adhémar, Herr La Rose und der Stiftsamtmann hatten die Kapelle verlassen. Der Nebel, der sich bei Annäherung des Morgens immer mehr verdichtete, hing schwer und eiskalt wie ein Leichentuch über der Erde. Adhémar zitterte vor Kälte.

»Das ist ein alter Rest der Schwachheiten des schmutzigen Lebens«, brummte der Stiftsamtmann durch seine falschen Zähne.

Sie hatten einen verlassenen kleinen Platz mit einer bequemen Bank erreicht, auf der sie sich niederließen.

»Was für ein Mittel gedenken Sie anzuwenden, lieber Freund«, fragte ihn liebevoll der Baron.

»Ich habe verschiedene mitgebracht, denn ich war, als ich hierherkam, von Anfang an entschlossen, nicht mehr von hier wegzugehen. Die feige Verzweiflung, die mich hierhergetrieben, erscheint mir jetzt allerdings unwürdig und sogar lächerlich, aber ich verdanke es ihr, dass ich nun mit allem Nötigen versehen bin«, antwortete Adhémar.

Er zog einen Revolver, einen Dolch, mehrere kleine Fläschchen und einen Brief aus seiner Tasche. »Dieses Kuvert«, sagte er zu seinen Begleitern, »enthält das, was die Lebenden ihr Testament nennen. Ich treffe darin die Verfügung, dass man mir hier für alle Zeiten eine Gruft und ein Monument sichert. Da ich sehr reich bin und keine näheren Verwandten habe, wird das keine Schwierigkeiten machen. Die Welt wird denken, dass ich mir aus Verzweiflung über den Tod jener kleinen koketten Person das Leben genommen habe«, sagte er vertraulich zu dem Baron, »aber das ist mir gleichgültig.«

»Die Meinung der Lebenden hat nicht die geringste Bedeutung«, erklärte der Baron. »Was aber Ihre künftige Wohnung betrifft, so mache ich Sie darauf aufmerksam, dass zwei Schritt von hier ein Eigentum zu verkaufen ist. Bemerken Sie daher, dass Sie die Grabstätte Nr. 28, Allee D., bevorzugen. Es ist eine gute Lage und durchaus passend für eine junge Haushaltung.«

»Und bestellen Sie sich ferner zwei Särge, einen von Blei und einen von Eichenholz, man liegt besser darin«, bemerkte der umsichtige Stiftsamtmann, »aber betonen Sie besonders, dass sie nicht ausgepolstert sein dürfen, das bröckelt ab und gibt Hustenreiz.«

»Gut«, sagte Adhémar. Er öffnete den Brief, und, das Papier auf sein Knie legend, fügte er mit dem Bleistift noch ein paar Zeilen hinzu.

Nachdem dies geschehen, richtete er sich entschlossen, aber doch etwas bleich und zitternd auf.

»Jetzt, meine Freunde, werde ich Ihnen bald angehören.« Er zielte mit dem Revolver auf seine Stirn.

»Nicht dahin zielen«, rief der Baron, ihm den Arm festhaltend. »Sie würden sich ja Ihren ganzen Schädel zerschmettern. Adrienne würde trostlos darüber sein.«

»Ach, wirklich!« Adhémar richtete die Mündung seiner Waffe gegen seine Brust.

»Nehmen Sie doch Ihre Rippen in Acht«, meinte der Stiftsamtmann, »es entstellt das ganze Skelett, wenn ein paar davon verletzt werden.«

»Aber, wie soll ich es denn machen?«, fragte Adhémar, ganz verwirrt den Revolver ansehend, als ob der ihm Rat erteilen könne.

»Mein Lieber, legen Sie so besonderen Wert darauf, diese brutale und Lärm erregende Waffe zu gebrauchen«, fragte ihn der Baron. »Ich habe eben ein gewisses kleines Fläschchen in Ihren Händen gesehen.«

»Gift! Aber das verursacht große Schmerzen und ist auch keineswegs ganz sicher«, sagte der Stiftsamtmann. »Nein! Glauben Sie mir, junger Mann, es ist am sichersten und besten, sich der blanken weißen Waffe, Ihres guten Dolches, zu bedienen. Es geht nichts über die treue scharfe Klinge unserer Ahnen! Man durchbohrt sich kühn das Herz damit, und alles ist in Ordnung.«

»Sie haben recht, Stiftsamtmann«, rief der Baron. »Der Dolch! Ja, das ist die anständigste Todesart, und man weiß, was man tut.«

Adhémar zog einen entzückend scharf geschliffenen Dolch, dessen Heft reich verziert war, aus der Scheide.

»Glauben Sie«, fragte er mit einem leichten Schauder, »glauben Sie, dass es mir gleich gelingt? Ganz allein – mit dem ersten Stich?«

»Ich werde Ihnen herzlich gern diesen kleinen Dienst erweisen«, sagte der Stiftsamtmann, lebhaft den Dolch ergreifend und die Schärfe der Spitze an dem ersten Knöchel seines Daumens prüfend.

»Versichern Sie sich ganz genau der richtigen Stelle und stoßen Sie dann kräftig zu; ich werde unseren lieben Freund festhalten.«

So sprechend glitt der Baron hinter Adhémar.

»Wir werden«, sagte er zu ihm, »Ihr Testament neben Sie auf diese Bank legen, und, wenn die Aufseher morgen den ersten Rundgang machen, wird man Sie finden. Wir werden zweifellos das Vergnügen haben, Sie in zwei Tagen wiederzusehen, denn man wird Sie ganz gewiss provisorisch hier beisetzen.«

»Beeilen wir uns, der Morgen naht«, sagte ungeduldig der Stiftsamtmann, den Dolch zückend.

»Ja, beeilen wir uns«, stammelte nervös Adhémar, den der Baron jetzt kräftig unter die Arme gefasst hatte.

»Sie gestatten, dass ich die Kleider ein wenig voneinander schiebe«, sagte der Stiftsamtmann, seinen Rock und die Weste öffnend.

Er nahm eine bequeme Stellung ein und hielt die Spitze des Dolches auf Adhémars entblößte Brust, genau auf die Stelle des Herzens.

»Wenn es Ihnen jetzt recht ist?«, sagte der Stiftsamtmann mit ritterlicher Höflichkeit, die jedoch nicht ganz frei von einer vielleicht unbewussten wilden Grausamkeit war.

Adhémar schluckte krampfhaft.

»Stoßen Sie zu«, sagte er.

»Ach«, röchelte er, nachdem der Stiftsamtmann sein Herz durchbohrt, jäh, aufzuckend und einen letzten Seufzer aushauchend. »Ach … das Leben …«

Als er tot niedersank, krähte der Hahn.