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Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs – Band 4 – 6. Kapitel

Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs
Band 4
Die Tochter des Wucherers
6. Kapitel

Unter den Sandsackmännern

Harry Taxon war der Dirne Betsy über eine Stunde lang nachgegangen. Immer mehr tauchte Betsy in das Gewirr von Gassen und Gässchen, die sich am Ufer der Themse aufbauen und die ihrer Gefährlichkeit wegen voll jedem anständigen Bewohner Londons in der Nacht rigoros gemieden werden.

Näherte man sich doch hier dem Hafen von London, Greenwich, und treibt sich doch in der Nähe eines Hafens immer verdächtiges Gesindel herum, ganz besonders aber in London, wo die ankommenden Schiffe den Auswurf so vieler Nationalitäten ans Land speien.

Die Dirne schien sich in dem Gewirr von Gassen vortrefflich zurecht zu finden, denn sie schritt mit großer Schnelligkeit und Sicherheit vorwärts. Allen Männern, die ihr auf dem Weg begegneten, wich sie geflissentlich aus, wie eine, die ihr Ziel schnell erreichen will.

Nun befand sie sich in der Nähe der West-India-Docks, der großen Lagerhäuser und Landungsplätze, die der West-India-Company gehören.

Nur wenige Lampen erleuchteten die schmalen Straßen, die zwischen den Lagerhäusern hinführen.

Die Dirne hielt sich möglichst im Dunkeln, begann aber hier vorsichtiger zu werden. Von Zeit zu Zeit blieb sie stehen und lauschte, ob man ihr folge.

Sie machte einen weiten Bogen, um dem oder jenem Dock auszuweichen, und Harry musste seine ganze Geschicklichkeit aufbieten, um von ihr nicht gesehen zu werden.

Glücklicherweise standen hier so viele Fässer und Kisten umher, dass er sich bald da, bald dort verbergen konnte. Und so kam es, dass Betsy trotz ihrer misstrauischen Vorsicht ihn nicht gewahren konnte.

Vor Harimans Zuckerlager blieb sie stehen.

Das war ein großer Schuppen, der mit aus Westindien für die Firma Hariman & Company eingetroffenen Kisten und Fässern voll Zucker gefüllt war.

Harry Taxon warf sich flach auf den Boden, denn er bemerkte, dass die Dirne sich nochmals gründlich umschaute, um sich zu versichern, dass sie auch allein wäre.

Dann wandte sie sich mit energischen Schritten einem alten, halb verfallenen Gebäude zu.

Harry Taxon sprang auf und, einer Weisung gemäß, die Sherlock Holmes ihm ein für alle Mal eingeschärft hatte, zählte er im Gehen die Schritte ab, die zwischen dem Zuckerlager und dem alten Stallgebäude lagen. Es waren siebzig.

Betsy umschritt den alten Stall, und Harry Taxon sah, dass derselbe hart an die Themse stieß.

Die Dirne klopfte an eine Tür, ein kleines Schiebefenster öffnete sich und eine Stimme fragte im Whitechapler Dialekt: »Wer ist da? Gib das Passwort!«

Deutlich hörte Taxon, wie Betsy rief: »Greenwich!«

Dann wurde die Tür geöffnet, die Dirne schlüpfte in das Gebäude hinein und das Licht, das für einen Moment hinter dem Schiebefenster aufgeflammt war, erlosch wieder.

Harry Taxon überlegte einen Moment lang, auf welche Weise er auch nun noch Betsy folgen könnte, denn er hatte von Sherlock Holmes den strengen Befehl erhalten, hinter ihr her zu bleiben und sie nicht aus den Augen zu verlieren.

Er musste also in das Haus hinein, um den Auftrag ausführen zu können. Andererseits aber sagte er sich, dass es für ihn sehr gefährlich sei, wenn er sogleich das Passwort brauchte und eintreten wollte.

Die ganze Sache im Stall schien ihm absolut nicht geheuer zu sein, und Harry, der das nächtliche Leben Londons ganz genau kannte, dachte sogleich an einige der Verbrecherbanden, von denen in der englischen Hauptstadt so viele ihr Unwesen treiben.

Sollte der Stall an den West-India-Docks vielleicht der Versammlungsort irgendeiner Bande sein?

Harry stieg auf einen Baum, der sich am Ufer der Themse erhob, und blickte von diesem auf das Dach des Stalles hinüber.

Es war nur ein Schindeldach, und da das ganze Gebäude sich in großer Verwahrlosung befand, so gab es auch auf dem Dach einige Löcher, durch welche man ohne Zweifel in den Stall hineinblicken konnte.

»Ich muss auf das Dach hinüber«, sagte sich Harry und maß den Abstand zwischen dem Baum und dem Stall mit den Blicken. Die Entfernung war zu groß, um sie zu überspringen.

Im selben Moment, als er wieder an dem Baumstamm herabglitt, hörte er unter sich einen leichten Schrei. Dann sprang eine schlanke Gestalt zurück, und eine Stimme rief: »Oho, ist das denn eine Art, einem Menschen auf den Kopf zu springen? Ah, ich sehe, es ist ein alter Bekannter. Wo kommst du denn her, Harry? Was machst du denn hier an den West-India-Docks für eine Promenade den Baum hinauf und hinunter?«

Harry erkannte in dem Sprecher einen der Zeitungsjungen, von denen ihm die meisten persönlich gut bekannt waren.

Er hatte sich, als er jünger war, viel unter sie gemischt und sie hielten ihn für einen der ihren, zu ihrer Zunft gehörig.

»Höre, Willy«, sagte Harry zu dem etwa zwölfjährigen Jungen, »du könntest mir einen Gefallen tun.«

»Ich bin dazu bereit, Harry!«

»So lass mich auf deine Schultern klettern, und von da aus will ich auf das Dach gelangen.«

»Nichts leichter als das«, versetzte der stämmige kleine Bursche, »krieche nur auf meinen Rücken und schwinge dich dann hinauf.«

Eine halbe Minute später stand Harry auf den Schultern Willys, und mit einer Pirouette kugelte er sich auf das Dach hinauf und kroch sogleich auf demselben weiter vor.

Unter sich hörte er ein dumpfes Gewirr von Stimmen, aber er musste erst bis zu einer Öffnung im Dach gelangen, um sehen zu können, was sich unter demselben zutrug.

Nun hatte er, flach auf dem Bauch liegend, eine Lücke im Dach erreicht. Er schaute hinunter und sah in einem stallartigen Raum etwa achtzehn Männer und Burschen versammelt, welche Betsy, die Dirne, umstanden.

Sie erzählte mit lauter Stimme, sodass Harry jedes Wort hören konnte, von dem Matrosen der Canada, der Bob beim Beefsteak-John niedergeschlagen hatte, und mit dem sie dann ein Stück Weges gegangen war.

»Er hat mich ausgefragt. Ich fürchte, ich habe ihm zu viel erzählt«, stieß Betsy hervor. »Jungs, ich glaube, er ist ein Polizeispitzel! Aber wo ist Bob, ist er denn noch nicht hier?«

»Wir erwarten ihn«, antworteten die Burschen, »es gibt heute sehr wichtige Dinge zu besprechen. Man bietet uns ein sehr gutes Geschäft an.«

In diesem Augenblick ertönte draußen vor dem Stall ein eigentümliches Gurren, wie die Wildtaube es hören lässt. Sogleich rief Betsy: »Da ist Bob, kommt. Dreimal Hurra für Bob!«

Oben auf dem Dach machte sich Harry so unsichtbar wie nur irgend möglich; er krümmte sich zusammen, um ja nicht von dem Ankömmling gesehen zu werden.

Im nächsten Augenblick fesselten ihn schon wieder die Vorgänge, die sich unten in dem durch einige alte Laternen erleuchteten Stall abgespielt hatten.

Auf das mit lauter Stimme gegebene Passwort Greenwich hatte die Stalltür sich geöffnet, der glatzköpfige Bob war eingetreten und wurde nun von seinen Kumpanen stürmisch begrüßt.

»Alle Hagel, da bist du ja auch, Mädel«, rief Bob, als er Betsy erblickte, »ich dachte, wir beide hätte miteinander nichts mehr zu tun?«

»Ich bin gekommen, um dich um Verzeihung zu bitten«, sagte Betsy mit demütig klingender Stimme, »einen Ohrring hast du mir aus dem Ohr schon herausgerissen. Da hast du den anderen, mach, was du willst; es war unrecht von mir, sie dir zu verweigern.«

»Du bist ein famoses Frauenzimmer,« rief Bob und drückte Betsy einige schallende Küsse auf die Lippen. »Seht, Jungs, so muss man sich die Weiber erziehen. Übrigens wirst du dir deinen Ohrring morgen wieder aus dem Pfandhaus holen können, denn ich habe gehört, dass es ein großes Geschäft für die Sandsackmänner gibt. Wer weiß etwas Genaueres darüber?«

Ein schwindsüchtig aussehender, achtzehnjähriger Junge trat vor und rief mit ziemlich lauter Stimme: »Kennst du, Bob, einen Mann, der sich Kapitän Miller nennt?«

Der Glatzköpfige fuhr leicht zusammen.

»Kapitän Miller? Hast du ihn gesprochen, Titus, hat er mich gesucht und wann?«

»Er hat dich in der Taverne Zum Chinamann gesucht, und als er dich nicht fand, fragte er mich nach dir. Als ich ihm sagte, dass ich dich heute noch sprechen würde, flüsterte er mir zu: ›Sage Bob, es gäbe wieder ein gutes Geschäft für ihn. Zweihundert Pfund Sterling sind dabei zu verdienen. Es soll ein Brett in der Themse schwimmen. Bob soll mit sechs von den Sandsackmännern morgen Nacht um elf Uhr beim Greenwich-Hospital mich erwarten. Dort werde ich ihm mitteilen, wo das Brett zu holen ist!‹

Dann fragte er: ›Wie lange schwimmt Holz bei Nacht, wenn ihr es in den Fluss werft?‹

›Sir‹, antwortete ich ihm, ›es schwimmt keine drei Yards, wenn wir wollen.‹

›Umso besser‹, erwiderte der Mann und lachte. ›Vergiss also nicht, Bob auszurichten: Morgen Nacht um elf Uhr beim Greenwich-Hospital!‹

Das war es, was ich dir ausrichten sollte.«

»Hurra«, rief Bob aus, »habt ihr es gehört, Jungs? Zweihundert Pfund Sterling sind zu verdienen. Ich denke, dafür lassen wir ein paar Bretter schwimmen, wenn es nötig ist.«

»Schurke«, stieß Harry Taxon mit leiser Stimme hervor, »die sprechen von einem Mord so ruhig, wie ein anderer von einem zerbrochenen Bierglas. Aber es soll euch nicht gelingen. Sherlock Holmes wird schon dafür sorgen, dass …«

In diesem Moment geschah etwas Schreckliches.

Das mürbe Schindeldach, auf welchem Harry lag, brach an der Stelle, wo er es mit seinem ganzen Gewicht belastete, durch, und kopfüber stürzte der Gehilfe Sherlock Holmes’ in die Tiefe.

»Blitz und Donner, was fällt denn da vom Himmel herunter?«, schrie Bob, indem er zurücktaumelte, denn Harry hatte ihn im Fallen ziemlich heftig gestreift.

»Ah, das ist ein Zeitungsjunge, ein Spion. Packt ihn, Sandsackmänner, er darf uns nicht entgehen.«

»Der ist mir heute schon die ganze Nacht nachgeschlichen«, rief Betsy, »greift ihn, fesselt ihn! Ah, jetzt erinnere ich mich ganz genau, ich habe ihn an der Ecke der Blackwall Road gesehen!«

Ehe Harry sich noch vom Boden erheben konnte, hatten sich zehn Sandsackmänner auf ihn geworfen. Püffe, Fußtritte, Faustschläge hagelten auf ihn nieder, und er vermochte nur mit großer Mühe, sein Antlitz vor den Misshandlungen dadurch zu schützen, indem er beide Arme über demselben kreuzte.

»He, wer bist du?«, rief Bob aus, indem er ihm einen Fußtritt versetzte. »Ich glaube, du bist nicht, was du scheinst. Wer war der Matrose von der Canada?«, riefen Bob und Betsy zugleich, »gib Antwort, du weißt es, – wir müssen es wissen!«

»Und was hattest du hier auf dem Dach unseres Hauses zu tun?«, fragte der schwindsüchtige Titus, »das soll dir sehr schlecht bekommen, mein Junge. Wer nicht zu uns gehört und sich in unsere Festung eindrängt, der verlässt sie lebend nicht wieder.«

»Werft ihn in den Keller hinunter, Jungs«, befahl Bob, »da wir morgen ein Brett schwimmen lassen, so soll es auf ein zweites nicht ankommen. Bis dahin mag er unten hungern, dass sich seine Eingeweide herumdrehen. Falltür auf!«

Sogleich wurde eine Falltür in einem eisernen Rahmen emporgehoben. Harry machte noch einen verzweifelten Versuch, die Tür zu gewinnen, um zu fliehen, aber die Sandsackmänner packten ihn mit ihren rohen Fäusten, zerrten ihn zur Falltür und stießen ihn über eine gebrochene, morsche, hölzerne Treppe in einen abscheulichen Raum hinab.

Harry blieb am Fuß der Treppe einige Minuten lang wie betäubt liegen, aber kaum erlangte er sein klares Denken wieder, als er sofort den Raum zu untersuchen begann.

Es war ein kleiner Keller unter dem Stall, dessen Wände von Feuchtigkeit trieften und in welchem eine abscheuliche Moderluft herrschte.

Aber zu seiner größten Freude entdeckte Harry, dass dieser Raum ein kleines Fenster hatte, das allerdings mit starken Eisengittern versehen war, durch welches das fahlgelbe Licht des Mondes zu ihm hereinleuchtete.

Taxon versuchte, die eisernen Gitter aus dem Fenster herauszureißen, aber vergebens, er erreichte nichts.

Dann stieß er einen leisen Pfiff aus, und sofort wurde derselbe von außen erwidert.

»Haha, Willy ist noch auf seinem Posten«, flüsterte er freudig vor sich hin, »da besteht ja noch Hoffnung auf Rettung! Willy, mein Junge, wirf dich auf den Bauch und schleiche dich heran«, rief Harry mit gedämpfter Stimme.

Willy musste über die Uferböschung hinabkriechen, denn das kleine Kellerfenster führte direkt auf den Fluss hinaus. Der Wasserspiegel der Themse war nur etwa drei Fuß von dem Fenster entfernt und leise plätschernd schlich die schwarze Flut der Themse lauernd an dem Gefängnis Harrys vorüber.

Um mit Harry sprechen zu können, musste Willy beinahe auf dem Kopf stehen.

Er klammerte sich mit beiden Füßen an eine Baumwurzel an, ließ sich dann hinabhängen und erschien so mit dem Gesicht dicht an dem eisernen Gitter.

»Still, mein Junge«, flüsterte Harry ihm hastig zu, »vor allen Dingen darfst du nicht in die Hände der Sandsackmänner fallen!«

»Bist du in ihren Händen, Harry?«

»Ich bin es! Aber wenn du so schnell wie möglich einen Zettel, den ich dir mitgeben werde, zu Lee Bostons Saloon bringst, so werde ich befreit werden!«

»Ich will meine Beine in die Hände nehmen, Harry, verlasse dich nur ganz auf mich«, versetzte der Zeitungsjunge.

Harry zog schnell ein kleines Taschentuch heraus, riss ein Blatt Papier aus demselben und schrieb hastig auf dasselbe die Worte, welche später Sherlock Holmes in so große Erregung versetzten.

Dann faltete er den Zettel zusammen und reichte ihn zwischen zwei Fingern durch die Gitterstäbe dem Knaben.

Willy, der Zeitungsjunge, nahm ihm draußen den Zettel schnell ab.

»Mach, dass du fortkommst. Lauf, was du kannst, auf Wiedersehen, Willy, vergiss mich nicht!«

Willy verschwand vom Eisengitter, und Harry setzte sich ruhig auf die nicht gepflasterte Erde nieder, lehnte den Oberkörper an die Mauer und wartete. Er wusste, er hatte seine Angelegenheit in die besten Hände gegeben – in die Hände Sherlock Holmes.