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Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs – Band 4 – 4. Kapitel

Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs
Band 4
Die Tochter des Wucherers
4. Kapitel

Die Dirne von Whitechapel

Ein Matrosenlied pfeifend, die Hände in beiden Taschen, schritt Sherlock Holmes hoch aufgerichtet dem Ausgang zu. Als er nun den Hausflur betrat, fühlte er sich von zwei vollen, weichen Armen umschlungen.

Eine Frauenstimme rief ihm zu: »Ich danke dir, Matrose, das hast du gut gemacht – wenn du willst, so gehe ich mit dir.«

Sherlock Holmes erkannte sofort Betsy, die Dirne mit den großen Ohrringen. Sie drückte noch das Taschentuch auf das blutende Ohr, aber Sherlock Holmes sah ihre Augen auf sich gerichtet, und diese leuchtenden Augen waren ein beredtes Zeichen, dass er mit seiner Heldentat einen starken Eindruck auf das Mädchen gemacht hatte.

Da Sherlock Holmes immer der Meinung war, dass niemand zu schlecht und zu gering sei, um ihm etwas Wissenswertes und Interessantes mitzuteilen, so sagte er: »Wenn du willst, so kannst du mich ein Stück begleiten.«

»Nur ein Stück? Bedenke nur, Teerjacke, man nennt mich die rote Betsy, das hübscheste Mädel von ganz Whitechapel.«

»So, da muss ich mich sehr wundern, dass du dich an einen so faden Burschen weggeworfen hast. Hast du dir denn keinen besseren aussuchen können, als diesen Bob, der jetzt vierzehn Tage lang durch das blaue Auge, das ich ihm geschlagen habe, als eine besondere Schönheit gelten kann?«

»O, Bob war schön wie ein Dandy, als ich ihn kennenlernte«, gab Betsy, ein wenig in ihrer Eitelkeit gekränkt, zur Antwort. »Mit hässlichen Männern gebe ich mich überhaupt nicht ab, es sei denn, dass sie viel Geld haben. Als ich Bob kennenlernte, besaß er ja auch Geld; er hatte ein Einkommen und sagte, dass er mich heiraten würde.«

»Was war denn Bob? Der wird wohl auch etwas Rechtes gewesen sein!«

»Bitte sehr, er war Schreiber bei dem Advokaten Thornhill.«

Die Dirne nannte einen achtbaren Advokaten der City Londons; Sherlock Holmes kannte ihn ganz genau.

»Bei Thornhill war er?«, erwiderte der Detektiv. »Nun, Advokatenschreiber können nicht allzu viel verdienen, und wenn dein Bob über Geld verfügt hat, so hat er wahrscheinlich einen Griff in die Kasse seines Prinzipals getan.«

»O, nein, er hatte eine gute Unternehmung.«

»Eine gute Unternehmung? Worin bestand denn dieselbe? Hatte er gefleddert oder gefischt oder hat er auf ähnliche Weise Massematten1 gemacht?«

»Oho, Matrose«, stieß Betsy ein wenig misstrauisch hervor, »du redest ja Rotwelsch, als wärst du in Whitechapel geboren.«

»Wer sagt dir denn, dass ich dort nicht das Licht der Welt erblickt habe?«, antwortete Sherlock Holmes und lachte dabei. »Es gibt auch in Whitechapel Leute, die auf die See gegangen sind. Aber sehr neugierig wäre ich, wie Bob zu Geld gekommen ist. Vielleicht kann man es auch so machen.«

»Ganz ehrlich, ich weiß es nicht, woher er das Geld hatte; aber er besaß plötzlich hundert Pfund Sterling.«

»Teufel, das ist viel Geld, da habt ihr gewiss gute Zeiten gehabt?«

»Das will ich meinen«, versetzte die Dirne. »Wir haben gegessen und getrunken, als wären wir Lord und Lady. Und getanzt haben wir jede Nacht, und es wäre alles gut gewesen, wenn Bob sich nur nicht so abscheulich entstellt hätte.«

»Ah, du meinst mit den Haaren? Ja, es sieht hässlich aus, wenn man sich den Schädel rasieren lässt. Hat denn Bob früher nicht eine andere Frisur getragen?«

»Das will ich meinen, er hat sogar sehr schöne volle braune Haare gehabt, aber plötzlich hat er alles wegschneiden und wegrasieren lassen.«

»Das war wahrscheinlich an demselben Tag, an welchem er das viele Geld besaß«, erwiderte Sherlock Holmes. »Er wollte gewiss ganz wie ein Dandy von Westend erscheinen. Also weißt du nicht, was der Bob getan hat, um die hundert Pfund Sterling zu verdienen?«

»Sieh, Matrose, ich würde es dir doch sagen, denn du hast dich wacker für mich herumgeschlagen; es war aber von Bob nichts herauszubekommen. In den zärtlichsten Stunden fragte ich ihn danach, aber da wurde er grob und rief: ›Sei zufrieden, wenn du alles hast, was dein Herz begehrt, das andere kümmert dich nichts.‹ Dann küsste er mich und ich fragte ihn nicht weiter.«

In diesem Augenblick ertönte plötzlich von der Ecke der Blackwall Road und Shadwell Street her ein leiser Pfiff. Sherlock Holmes horchte auf und wandte sich dann hastig an die Dirne.

»Betsy, erwarte mich hier an dieser Laterne; ich habe mit dir zu reden, und ich sage dir, Mädel, du kannst heute Nacht so viel verdienen, wie du sonst in siebzig Nächten zusammen nicht einnimmst.«

»Oho, Matrose, du sprichst ja, als wärst du ein Millionär.«

»Vielleicht bin ich so etwas Ähnliches«, gab ihr Sherlock Holmes zur Antwort, »also ich finde dich hier wieder; es handelt sich nur um fünf Minuten. Du bist einverstanden, Betsy? All right – das war Harry Taxons Pfiff.«

Diese letzten Worte murmelte Sherlock Holmes heimlich vor sich hin, als er nun so schnell wie möglich auf die Straßenkreuzung zueilte.

Hier stand an einen alten, steinernen Brunnen gelehnt ein in Lumpen gehüllter Mensch, den man etwa für einen Zeitungsjungen, wie sie zu Tausenden die Straßen Londons bei Tag und Nacht unsicher machen, hätte halten können.

»He, Harry«, sagte Sherlock Holmes, schnell an den jungen Mann herantretend, »was gibt es – hast du den Zweithändigen2 einen Besuch abgestattet?«

»Ich habe es getan, Meister«, gab Harry mit leiser Stimme zur Antwort. »Samuel Pings in der Circus Street hat am 7. Mai die Ausrüstung eines Schornsteinfegers verkauft. Vollständiger Anzug, Besen, Leiter und Kappe.«

»Wer kaufte sie?«, stieß Sherlock Holmes hastig hervor, und in seinen Augen blitzte eine Flamme auf, wie in den Augen eines Jägers, wenn er die Fährte eines Wildes gefunden hat. »Kannte Samuel Pings den Namen des Mannes, welcher der Käufer war?«

»Die Zweithändigen fragen niemals nach den Namen, wie Ihr wisst«, gab Harry Taxon zur Antwort. »Aber er konnte mir eine gute Beschreibung des Burschen geben: mittelgroß, blasses, bartloses Gesicht und volles braunes Haar, ziemlich krause Locken, ähnlich wie Negerhaar.«

»Das ist nicht wahr«, stieß Sherlock Holmes hervor, »der Mann muss, als er die Circus Street wieder verlassen hatte, überhaupt keine Haare auf dem Kopf gehabt haben; er muss ganz glatt geschoren gewesen sein.«

»Bei Juve, Mr. Sherlock Holmes, Ihr seht durch die Wände«, rief Harry Taxon, indem er vor Verwunderung einen Sprung machte. »Samuel Pings hat mir erzählt: Nachdem dieser junge Mann die Ausrüstung gekauft hatte, ist er zum Barbier gegangen, der an der Ecke der Circus Street seine buntbemalte Stange aufgepflanzt hat3, und ließ sich dort den Kopf rasieren.«

Sherlock Holmes rieb sich vergnügt die Hände und rief: »Alles geht gut, den Schornsteinfeger haben wir schon. Jetzt handelt es sich nur noch um den Mann, der diese schmutzige Arbeit bezahlt hat. Komm mit mir, Harry.«

Aber in demselben Augenblick, in welchem er sich allschicken wollte, seinem Meister zu folgen, packte ihn Sherlock Holmes und riss ihn zurück, indem er ihm zuflüsterte: »Schnell in den Brunnen hinein; verbergen wir uns.«

Der steinerne Brunnen, an welchem diese Unterredung Sherlock Holmes mit seinem Faktotum stattgefunden hatte, war längst außer Betrieb gesetzt. Dort, wo das Wasser emporgestiegen war, befand sich nun ein hölzerner Verschlag, und Sherlock Holmes und sein Schüler sprangen hinter die steinerne Umfassungsmauer und duckten sich dort nieder; Harry ohne zu wissen, weshalb dies eigentlich geschah.

In diesem Augenblick schritt hart an dem Brunnen eine hohe weibliche Gestalt vorüber, die in einen langen Abendmantel gehüllt war. Die Dame bemühte sich, einen Schleier fest an ihr Gesicht zu halten, denn ein ziemlich heftiger Wind hatte gerade eine Minute vorher dieser Frau den Schleier vom Kopf heruntergerissen.

»Mrs. Arabella Aberdeen«, flüsterte Sherlock Holmes Harry zu. »Sie bleibt vor Paulsens Hotel stehen, das vor Beefsteak-Johns Restaurant liegt. Sie zieht die Glocke – man öffnet – sie tritt ein.«

»Sagte ich es nicht, Meister, dass es mit dieser Frau eine eigene Bewandtnis hätte?«, stieß Harry in triumphierendem Ton hervor.

»Nur ruhig«, gab ihm Sherlock Holmes zur Antwort, »damit ist die Schuld Arabella Aberdeens nicht bewiesen. Das Erscheinen dieser Frau in dieser verrufenen Gasse, ihr Besuch des berüchtigten Hotels Paulsen beweist mir nur, dass das Netz viel weiter gesponnen ist, als ich anfangs annahm und dass wir Mühe haben werden, es zu entwirren. Jetzt heraus aus dem Brunnen.«

Sherlock Holmes sprang leicht und gewandt über die Brunnenmauer hinweg und wandte sich dann an Harry, der ihm den Sprung natürlich ohne Mühe nachgemacht hatte.

»Siehst du die Dirne dort drüben an der Laterne stehen?«

»Ich sehe sie, sie ist verteufelt hübsch.«

»Du versteckst dich hier hinter dem Brunnen«, befahl Sherlock Holmes, »lässt aber dieses Frauenzimmer nicht aus den Augen. Verlässt sie diesen Platz, so verfolgst du sie, wohin es auch sei. Sie wird wahrscheinlich mit einem Mann zusammenkommen, dessen Kopf ganz glatt rasiert ist. Lass dieses Paar nicht mehr aus den Augen, und wenn du etwas Wichtiges erfährst oder wenn du mich heute Nacht noch brauchst, so schicke einen unserer kleinen Freunde, einen Zeitungsjungen oder Straßenreiniger zu dem Boston-Saloon auf der Baker Street. Ich werde im Laufe der Nacht dort anfragen, ob eine Botschaft für mich eingetroffen ist. Du hast doch deinen Revolver bei dir? Es wäre möglich, dass du ihn heute Nacht brauchen könntest. Die Dirne wird dich vielleicht in gefährliche Gesellschaft bringen.«

»Und wenn sie in die Hölle ginge«, antwortete Harry Taxon, »ich würde ihr auch zum Teufel folgen.«

»Es ist immerhin möglich, dass du mit Teufeln Bekanntschaft machst«, versetzte Sherlock Holmes; dann wandte er sich zum Gehen, während Harry wieder in den Brunnen hineinschlüpfte, um von dort aus die Dirne zu beobachten.

Harry sah nun, wie sein Herr und Meister langsam nach Paulsens Hotel hinüberschlenderte, wie er dort die Glocke zog und wie die Tür geöffnet wurde; dann hörte er – denn das Hotel befand sich nur dreißig Schritte von dem Brunnen entfernt – Sherlock Holmes in schläfrigem, gähnendem Ton mit schwerer Zunge rufen: »Verfluchter Knickerbocker! Das Zeug macht selbst eine Teerjacke so besoffen, dass sie nicht einmal auf zwei Beinen stehen kann. Hier ist Geld, gebt mir ein Zimmer für diese Nacht. Ich muss schlafen.«

»Tritt ein,« antwortete die Stimme des Mannes, der die Tür geöffnet hatte, »du sollst ein Bett haben.«

Sherlock Holmes’ schwankende Matrosengestalt verschwand hinter der Tür des Hotels, die sich sogleich wieder schloss.

Harry hatte noch gute zwanzig Minuten Zeit, bis die Dirne dort drüben an der Laterne ungeduldig wurde. Sie schritt zuerst vor der Laterne auf und nieder und blickte in die Shadwell Street hinein, als erwarte sie von dort jemand. Doch nach zwanzig Minuten setzte sie sich in Bewegung und kam dicht an dem Brunnen vorbei. Der junge Mann warf sich flach auf den Boden nieder und hielt den Atem an.

»Er hat mich also doch geprellt«, murmelte die Dirne, »ich glaubte schon einen guten Fang an dieser Blaujacke zu tun. Er schien Geld zu haben. Schade, aber ich glaube, ich tue am besten, ich gehe wieder zu Bob zurück. Schließlich ist er doch ein unternehmender Junge, ich hätte ihm diese dummen Ohrringe überlassen sollen, denn das Geld, welches er im Pfandhaus dafür bekommen hat, hätte er mit mir verjubelt, und wer weiß, ob er nicht schon morgen die Taschen voller Dollar hat. Ah, ich werde ihn aufsuchen.«

Dann wandte sie sich kurz um und ging.

Mit einer zierlichen Pirouette war Harry über den Brunnenrand gesprungen und folgte dem Mädchen in einer Entfernung von zehn Schritten, ohne sie aus den Augen zu lassen.

Einmal wandte sich Betsy um, aber als sie nur einen zerlumpten Zeitungsjungen gewahrte, setzte sie ihren Weg fort, ohne ihm weitere Aufmerksamkeit zu schenken.

Show 3 footnotes

  1. In der Verbrechersprache: geraubt, gestohlen, Beute gemacht
  2. Secondhands nennt man in England und Amerika die Trödler, welche sich mit dem Verkauf alter Sachen befassen – Sachen aus Zweiter Hand
  3. Ein in England und Amerika übliches Zeichen der Barbiere