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Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs – Band 4 – 3. Kapitel

Aus den Geheimakten des Welt-Detektivs
Band 4
Die Tochter des Wucherers
3. Kapitel

Der goldene Ohrring

»Es ist immer misslich, Harry«, sagte Sherlock Holmes am Abend desselben Tages zu seinem Faktotum und Schüler Harry Taxon, »es ist immer misslich, einen Fall zu bearbeiten, den man nicht frisch übernommen hat. Jeder Tag hat neuen Schnee auf die Wegfährte geworfen, die Spuren find verweht, und man muss erst mühsam den Schneeschaufler spielen, um überhaupt den Weg einigermaßen zu entdecken!«

Harry Taxon war ein junger Mann von achtzehn Jahren. Später werden wir gelegentlich einmal erfahren, auf welche merkwürdige Weise er mit Sherlock Holmes zusammengekommen war, und wie er es fertiggebracht hatte, das unbedingte Vertrauen des berühmten Detektivs zu gewinnen. Sherlock Holmes liebte ihn wie einen Sohn und sah in ihm seinen einzigen Schüler, auf den er sein großes kriminalistisches Wissen, die Ausbeute seiner Erfahrungen und, so gut es gehen wollte, auch seinen wunderbaren Scharfsinn zu übertragen wünschte.

Harry war für seine achtzehn Jahre zierlich gewachsen, nicht allzu groß, aber geschmeidig und sehnig, durch alle sportlichen Übungen in der Gestalt ausgezeichnet ausgebildet.

Sein Gesicht war bartlos und sein Kopf von kurz gehaltenem, blondem Haar bedeckt.

»Gib mir meine Pfeife, Harry«, nahm Sherlock Holmes nach einer kleinen Pause wieder das Wort, »du weißt, mir kommen die besten Gedanken, wenn ich aus meinem Meerschaumkopf die Rauchwolken emporwirbeln sehe. So, ich danke dir, die Pfeife brennt. Und nun, mein Junge, was hältst du von der Geschichte?«

»Mister Sherlock Holmes«, antwortete Harry, »ich glaube, eine Fährte gefunden zu haben.«

»Glaubst du? Nun, ich will dir genau sagen, was du denkst: Du hältst Mrs. Arabella Aberdeen für die Täterin, du glaubst, die Gattin des Wucherers Phineas Aberdeen hat ihre Stieftochter beseitigt.«

»Wie ist es nur möglich, Mr. Sherlock Holmes, dass Ihr die geheimen Gedanken eines Menschen erraten könnt?«, fragte Harry verblüfft.

»Du hast deine Gedanken durchaus nicht so geheim gehalten, mein Junge, wie du glaubst. Ich habe es dir immer gesagt und wiederhole dir nochmals: Du bist zwar schweigsam mit dem Mund, aber deine Augen schwatzen zu viel, du musst sie besser bewachen. Ich werde nun deine Gedanken noch näher ausführen. Du bist der Überzeugung, dass Mrs. Arabella Aberdeen selbst in den schönen Lord Rochester verliebt sei und dass wir es hier mit der gewöhnlichsten und der gefährlichsten aller menschlichen Eigenschaften zu tun haben: mit der Eifersucht.«

»Getroffen, Mr. Sherlock Holmes, das denke ich wirklich.«

»Du baust deine Schlüsse vorläufig noch zu schnell auf«, versetzte Sherlock Holmes, gemütlich an seiner kurzen Pfeife kauend, »auf einen einzigen Blick legst du zu viel Wert. Auch ich habe den Blick gesehen, den Mrs. Aberdeen dem jungen Lord zuwarf, als sie den Zeugenstand verließ und dicht an der Anklagebank vorüberschritt. Ich gebe zu, es war ein hasserfüllter Blick, gebe zu, dass in dem Blick viel Eifersucht lag – aber die Frau ist unschuldig. Du, mein Junge, hast neben mir gesessen und hast den Blick gleichfalls gesehen, denn ich habe deutlich gemerkt, wie ein triumphierendes Lächeln deine Lippen umspielte, als wolltest du sagen: Jetzt ist schon alles gut – jetzt sind wir auf der richtigen Fährte.«

»Und weshalb sollte Mrs. Aberdeen nicht ihre Hand im Spiel haben?«, fragte Harry, »bedenkt doch, Mr. Sherlock Holmes, diese Frau besitzt einen Gatten, der um dreißig oder fünfunddreißig Jahre älter ist als sie. Mrs. Arabella kann sich an seiner Seite nicht glücklich fühlen. Sie hat heimlich den Lord geliebt und begehrt, musste aber sehen, dass dieser Miss Elisabeth bevorzugte, und was eine Frau zu tun imstande ist, wisst Ihr, Mr. Sherlock Holmes, am besten.«

»Es würde zu weit führen, wenn ich dir auseinandersetzen wollte, dass Mrs. Aberdeen trotz allem nicht das Verbrechen begangen hat. Übrigens, mein Junge, haben wir auch keine Zeit, weiter miteinander zu plaudern, denn ich habe einen Auftrag für dich.«

»Ah, einen Auftrag?«

»Keinen sehr angenehmen: Du sollst heute Nacht alle unsere Freunde in der City besuchen, die mit alten Kleidern handeln, mit Waffen, Möbeln und was sonst noch aus zweiter Hand gekauft wird, und sollst dich bei ihnen erkundigen, ob einer von ihnen am 7. Mai, es kann auch am 6. oder 3. gewesen sein, die Ausrüstung eines Schornsteinfegers an jemand verkauft hat. Mit dieser Erkundigung wirst du um Mitternacht fertig sein, und dann erwartest du mich an der Ecke der Blackwall Road und Shadwell Street, dort, wo die Taverne Zum Beefsteak- John liegt. Geh jetzt und sei pünktlich. Also um Mitternacht.«

Als Harry den Detektiv verlassen hatte, saß dieser noch eine Viertelstunde im ledergepolsterten Sessel, rauchte seine Pfeife und hüllte sich immer mehr und mehr in Rauchwolken ein, sodass sein scharf geschnittenes, hageres Gesicht wie die Totenmaske eines Julius Cäsar daraus hervorschaute. Plötzlich erhob sich Sherlock Holmes, öffnete einen der Wandschränke, die sich im Zimmer befanden, und musterte seine sehr reichhaltige Garderobe, welche ihm alle möglichen Verkleidungen gestattete.

Er wählte einen Matrosenanzug, eine weite, bequeme, dunkelblaue Hose und ein grobleinenes, gelbliches Hemd, das er über der Brust zurückschlug. Dann zog er eine kurze, von Teer starrende Jacke an, und auf sein kurzgeschnittenes Haar drückte er eine Matrosenmütze, von der zwei kleine Bänder herabfielen und auf deren Sturmband die Worte eingewirkt waren: Ihrer Majestät Schiff Kanada. Sein Gesicht zierte ein Vollbart.

Vor dem Spiegel stehend, legte Sherlock Holmes ein wenig Rot auf die Wangen, ließ durch einige geschickte Pinselstriche seine Brauen sich schärfer hervorheben und malte sich dann mit blauer Farbe einen Anker auf die Brust, unter welchen er das Wort Kanada schrieb, sodass es das Aussehen hatte, als wäre ihm der Anker und dieses Wort eintätowiert.

Nachdem er noch einige Dinge zu sich gesteckt hatte, die er auf derartigen Wegen immer mitnahm – einen sechsschlüssigen Revolver, einen Schlagring, eine Stoppuhr, ein Notizbuch und einen Bleistift – verließ er sein Haus.

Wer den Matrosen nun breitbeinig mit schwankendem Seemannsschritt über die Straße hätte gehen sehen, die Hände in den Taschen versenkt, mit neugierigen Blicken alles musternd, was die Aufmerksamkeit einer ehrlichen Teerjacke in London erregen kann, der hätte wahrlich nicht in ihm den Detektiv Sherlock Holmes vermutet.

In einer Nebenstraße angelangt, kletterte Sherlock Holmes mit großer Gewandtheit auf das Deck eines schwerfälligen Omnibusses hinauf, mit dem er eine Stunde lang durch die Straßen und Gassen von London fuhr. Endlich schien Sherlock Holmes sein Ziel erreicht zu haben, denn er verließ den Omnibus und tauchte in eine schmale Gasse hinein, deren Häuser alt, vernachlässigt, klein und schmutzig waren.

Nachdem er diese Gasse durchschritten hatte, gelangte er in die Blackwall Road, welche womöglich noch unfreundlicher und vernachlässigter aussah. Aus einem der schiefstehenden Häuser der Blackwall Road tönte Sherlock Holmes schon von weitem Lärmen und Schreien, das Klappern von Messern und Gabeln, das Klirren von Tellern und Gläsern entgegen.

Über dem Eingang dieses Hauses, das durch eine grüne Laterne beleuchtet wurde, standen auf einem goldenen Schild die Worte Zum Beefsteak-John. Sherlock Holmes betrat das saalartige Gemach, das sich im Erdgeschoss befand, und in welchem vor Tabakqualm kaum die Lichter zu erkennen waren. Langsam schritt er zwischen den Tischreihen, an denen sich Männer und Frauen drängten, hindurch, bis er einen Tisch gefunden hatte, der ihm zu behagen schien; dort nahm er Platz.

Mit einem schnellen Blick musterte er seine Umgebung. Es waren die gewöhnlichen Gäste des Beefsteak- John. Diebe, wie man sie immer hier fand, schlecht bezahlte Kommis, die sich hier eine billige Mahlzeit verschafften, heruntergekommene Leute aller Art, Studenten, Künstler, die mit einem sehr knappen Einkommen zu rechnen hatten, oder solche, welche sich ihr Einkommen selbst verkleinerten, indem sie es mit einem weiblichen Geschöpf teilten. Aber es gab auch in dieser Taverne recht gefährliche elegante Verbrecher mit ihren Kumpanen, gewalttätige, halb betrunkene Matrosen und Vertreter jenes Gelichters, das sich immer in der Nähe des Hafens herumtreibt.

Sherlock Holmes gegenüber saß ein junger Mann von etwa fünfundzwanzig Jahren mit einem hübschen, nur recht verlebten und blass aussehenden Gesicht. Das Haupthaar hatte dieser junge Mann, der nicht schlecht gekleidet war, vielleicht einer Laune der Mode folgend, sich abrasieren lassen, sodass der Kopf so glatt war wie der eines Chinesen.

Neben diesem jungen Mann saß ein Mädchen, dem man die Dirne sofort ansah, trotzdem konnte man aber nicht leugnen, dass sie Spuren von Schönheit besaß, ja, dass das von rötlichblonden Haaren umrahmte Gesicht sogar einen lieblichen Ausdruck besaß. Auch das Mädchen war nicht übel gekleidet. Es trug eine seidene Bluse, die von einem schmalen Gürtel gehalten wurde, einen dunkelblauen Stoffrock und gelbe Schuhe. Auffallend waren die großen runden Goldohrringe von orientalischer Fasson.

Sherlock Holmes hatte kaum Platz genommen, als er auch schon bemerkte, dass dieses Paar während des Essens einen stillen, aber wie es schien, sehr energischen Streit führte, und während er sich scheinbar damit beschäftigte, ein ziemlich zähes Beefsteak zu zerschneiden und zu zerkauen, hielt er den Kopf vorgeneigt und lauschte auf das Gespräch der beiden.

»Ich sage dir, Betsy, du gibst sie mir«, raunte der junge Mann seiner Geliebten zu, »zum Teufel, ich habe sie dir ja geschenkt, und nun willst du mir mit den Dingern nicht einmal aus der Verlegenheit helfen.«

»Man fordert ein Geschenk nicht zurück«, antwortete Betsy, »überlege es dir genau, Bob, wenn du mir diese Ohrringe ins Pfandhaus trägst, so sind wir geschiedene Leute.«

»Du scheinst dir überhaupt nicht mehr viel aus mir zu machen. Sage es doch wenigstens offen, dann lasse ich dich deiner Wege gehen; du kannst ja wieder nach Whitechapel zurückgehen, woher ich dich geholt habe.«

»Nun ja, wenn du es denn hören willst, ich kann dich nicht mehr leiden.«

»Natürlich«, presste Bob mit knirschenden Zähnen hervor, »wenn das Geld alle ist, dann fliegt auch die Liebe aus dem Fenster hinaus, das ist eine alte Geschichte. Und nun nehme ich mir, verdammtes Frauenzimmer, was ich dir gegeben habe, und ein Andenken lasse ich dir dazu.«

In demselben Augenblick, in welchem der kahlgeschorene Mann diese Worte sprach, packte er den Ohrring, den er zunächst erreichte, dann ein Riss, und der brutale Mensch hatte dem Mädchen den goldenen Reif aus dem Ohrläppchen herausgerissen. Aus der Wunde schoss sofort das Blut hervor, und Betsy stieß einen gellenden Schrei aus.

Bob war aufgesprungen und wollte sich auf das Mädchen stürzen. In demselben Moment erschien plötzlich der Matrose, der dem Paar gegenübergesessen hatte, an seiner Seite, packte den Oberarm des Burschen und rief mit streng klingender Stimme: »Stopp! Du bist ein Nichtswürdiger!«

Ein Schrei der Wut entrang sich den Lippen Bobs, dann flogen seine Rockärmel empor, er streifte das Hemd bis zu den Schultern auf und schrie: »Da hat einer Lust, mit einem eingeschlagenen Schädel nach Hause zu gehen! Verdammte Teerjacke, was mischst du dich in Dinge, die dich nichts kümmern. Hast du Lust zu boxen?«

»Very well«, antwortete Sherlock Holmes und begab sich sofort in Boxerpositur, »einem ehrlichen Matrosen kommt es auf ein paar Fausthiebe nicht an, besonders, wenn sie auf den Magen eines Mädchenschinders niederfallen können.«

Ein ungeheurer Tumult entstand im Speisesaal des Beefsteak-John. Alle Gäste erhoben sich von ihren Plätzen, strömten herbei und gruppierten sich um die beiden Kämpfenden, die noch beobachtend dastanden.

»Gib’s ihm, Bob«, riefen einige Männer, die offenbar Freunde des Burschen waren. Die anwesenden Frauenzimmer aber überschrien diese Sympathieäußerungen für den brutalen Menschen und riefen Sherlock Holmes zu: »Schlagt zu, blauer Junge, zeigt ihm, dass man nicht ungestraft ein Frauenzimmer misshandeln darf.«

In rasender Wut stürzte sich Bob auf den Detektiv, der zuerst nur kaltblütig die Angriffe des Wütenden abwehrte; dann sah Sherlock Holmes einen günstigen Moment, und während er mit der geballten Linken scheinbar auf den Magen seines Allgreifers zielte, verletzte er diesem, als jener auf seine Finte einging und seinen Leib schützen wollte, einen gewaltigen Faustschlag mitten ins Gesicht hinein.

Dies war ein so gewaltiger Hieb, dass das linke Auge Bobs aus der Höhle heraustrat und blutrot anschwoll und dass Bob vor Schmerz wankend zusammenbrach.

Sherlock Holmes aber kannte diese Leute; er wusste, dass ihn nun die Freunde Bobs attackieren würden, und plötzlich bemächtigte er sich des Sessels, auf dem die Dirne gesessen hatte, hob ihn hoch über sein Haupt empor und rief mit donnernder Stimme in den Saal hinein:

»Wenn einer glaubt, sein Schädel sei zu fest, so könnte er leicht zu einer guten Operation kommen. Potz Fockmast und Ankerspill, wenn einer hier lumpig genug sein sollte, einen Weiberschinder zu verteidigen, so will ich ihm seinen Kopf in zwei Teile spalten, als ob er eine Eierschale wäre!«

Bekanntlich ist nichts leichter, als dem Pöbel durch eine energische Sprache zu imponieren. Die Freunde Bobs bemühten sich nun, denselben aufzuheben und aus dem Lokal hinauszutragen.

Da erschien aber auch schon die rächende Nemesis in der Gestalt des Tavernenwirtes Beefsteak-John, eine kleine fettleibige Gestalt, der den Matrosen von der Canada unverblümt aufforderte, so schnell wie möglich das Lokal zu räumen, sonst würde er ihn von einem halben Dutzend Kellnern hinausbefördern lassen.

»Ich gehe ja schon«, murmelte Sherlock Holmes, den Beleidigten spielend, »aber morgen kehre ich mit einem Dutzend Kameraden hierher zurück, und da zertrümmern wir Euch alles, was nicht niet- und nagelfest ist. Hier ist Geld für das Stück Leder, das ich heruntergeschluckt habe. Hole Euch der Teufel!«