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Der Detektiv – Band 25 – Das Fernrohr Kapitän Pellertans – Kapitel 4

Walter Kabel
Der Detektiv
Band 25
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Das Fernrohr Kapitän Pellertans

Kapitel 4

Auch das Fernrohr …

Ich hatte in der Kabine schon vorhin die mattrosa Ampel eingeschaltet, nachdem ich den Detektivchef auf den Teppich gelegt hatte.

»Wie fühlen Sie sich, Blindley?«, fragte Harst und beugte sich über ihn, indem er ihm ein nasses Handtuch auf den Hals legte. »Dieses raffinierte Attentat galt natürlich dem Lord. Der Halunke erwischte jedoch den Falschen mit seiner Schlinge. Er muss ebenso geschickt wie kräftig sein. Bedenken Sie, jemandem im Dunkeln, sozusagen nur nach Gehör in einem Ventilator hockend eine Schlinge über den Kopf zu werfen und das Opfer dann urplötzlich mit solcher Gewalt hochzureißen, dass dieses mit dem Schädel hart gegen den Ventilatorrand schlägt – das nenne ich eine besondere Art von Kraftkunststück!«

Blindleys Augen waren auf das offenbar mit einer Blechschere zerschnittene Gitter des Ventilators gerichtet.

»Es … müssen … also sogar zwei Leute sein!«, brachte er mühsam hervor. »Einer stand vor der Kabinentür und lockte den Lord … mich … aus dem Bett! Oh … diese Schufte … diese Schufte!«

»Strengen Sie Ihre Stimme besser nicht so an, lieber Blindley!«, warnte Harst. Dann wandte er sich an mich. »Erneuere die Kompresse. Ich will mal in den Ventilator hineinklettern.«

Er baute aus einem Tisch und drei Stühlen eine Pyramide und verschwand nun mit dem Oberleib in dem senkrecht hochgehenden Rohr. Ich sah, dass er seine Taschenlampe eingeschaltet hatte. Dann warf er das andere Ende des Schlingenstricks herab, auch einen zweiten, der ähnlich wie ein Handgriff zusammengeknotet war. Gleich darauf zog er sich völlig hoch. Auch seine Füße waren nun nicht mehr zu sehen.

Blindley hatte das alles gleichfalls beobachtet.

»Ich habe schon manches erlebt, Master Schraut«, flüsterte er heiser. »Aber so etwas doch noch nicht! Nein – diese Jacht ist eine Mördergrube! Wer sind nur diese beiden Verräter unter der Besatzung, wer? Denn nun wird Harst, wie auch ich eingesehen haben, dass Ambermakry nur einen als Inder herausgeputzten Mann damals im Maschinenraum erblickte.«

Ich nickte nur. Selbst mir leuchtete dies ein.

Blindley stöhnte leise. Er musste starke Schmerzen haben. Dann klopfte es gegen die Kabinentür. Es war Harst. Er nahm sich einen Stuhl und setzte sich neben den Diwan. Sein Gesicht war auffallend ernst, geradezu sorgenvoll.

»Der Mann im Ventilator muss wirklich gewandt wie ein Affe und kräftig wie ein Athlet gewesen sein«, begann er. »An der Innenwand des Ventilators sind zwei Schrauben – inmitten der Außenhandgriffe etwas gelöst, sodass um die Schrauben starke Drähte als Schleifen befestigt werden konnten, an deren einer der Mann an dem Handgriff hing, während an der anderen Sie aufgehängt waren, lieber Blindley. Einen anderen Halt hatte der Mann nicht als den einen Handgriff. Er wird sich mit der Linken festgehalten und mit der Rechten die Schlinge dirigiert und Sie nachher hochgerissen haben. Jedenfalls war das Attentat vorbereitet. Die Schraubenmuttern müssen schon vorher gelockert worden sein. Sie waren eingerostet. Wir hätten es hören müssen, wenn der Mann sie erst in dieser Nacht um drei bis vier Windungen zurückgedreht hätte.«

Blindley erklärte nun Harst dasselbe, was er auch mir vorhin als seine jetzige Überzeugung mitgeteilt hatte, dass zwei Leute der Besatzung infrage kämen.

Harst hatte sich währenddessen eine Zigarette angezündet, formte tadellose Rauchringe und schwieg eine Weile. Dann sagte er zu mir: »Lieber Alter, hole doch mal den Detektiv herein, der diese Nacht draußen im Hauptgang die Wache hat.«

Ich tat es. Der Detektiv hieß Narkolly und war Blindleys bester Beamter.

»Master Narkolly, wiederholen Sie hier vor Blindley das, was Sie mir soeben erwiderten«, meinte Harst.

»Nun, Master Harst fragte, ob ich im Gang draußen irgendjemand bemerkt hätte. Nein, ich habe niemand bemerkt. Ich saß so auf einem Klappstuhl, dass ich sowohl den Haupt- als auch den Seitengang beobachten konnte, in denen wieder Licht brannte, nachdem Seine Lordschaft nebst Familie in Master Harsts Kabine geschlüpft war. Es ist ganz ausgeschlossen, dass ein Mann vor der Tür dieser Schlafkabine gestanden und etwas gerufen haben kann. Ich war gerade heute noch wachsamer als je.«

»Danke!«, sagte Harst, worauf Narkolly wieder auf seinen Posten zurückkehrte.

Blindley und ich schauten uns verdutzt an. Daran hatten wir beide nicht gedacht, dass die Wache im Gang den einen Mann unbedingt hätte bemerken müssen.

Wenn nun aber kein Mensch von draußen gerufen hatte, wie sollte man dann eine einleuchtende Erklärung für die Stimme finden, die doch ganz unzweifelhaft von der Kabinentür, und zwar von außen den Lord durch den Zuruf hatte wecken wollen?

Blindley richtete sich nun halb auf, flüsterte ganz kopflos und verstört: »Harst … bester Harst … soll etwa gar Narkolly mit zu den …«

Harald hatte schon sehr energisch abgewinkt. »Tun Sie doch Narkolly nicht so bitter Unrecht! Die Lösung ist sehr einfach.«

»Ah – Bauchredner!«, rief Blindley wie befreit. »Natürlich, natürlich, nur so kann es gewesen sein! Ich habe selbst schon verschiedentlich indische Gaukler gesehen, die sich unter eine Palme stellten und sich mit einem scheinbar in der Krone versteckten Gefährten unterhielten.«

Allerdings, diese Lösung war verblüffend einfach. Es blieb somit auch Harsts Behauptung voll bestehen, dass ein einzelner Mann, und zwar ein Inder hier sein Unwesen trieb. Harst schien diese meine Gedanken erraten zu haben, sagte nun: »Es ist ein unheimliches Gefühl, nicht zu wissen, wo dieser Mensch steckt, der so vielseitig ist. Ich will doch mal …«

Auf Deck hatte plötzlich eine Pfeife geschrillt. Wir hörten oben mehrere Leute hin und her laufen. Dann neigte die Jacht sich stark nach Backbord über; gleichzeitig drang ein fernes dumpfes Brüllen an unser Ohr.

»Der Sturm kommt!«, rief Blindley. »Pellertan hat ihn richtig vorausgesagt.«

Harst und ich eilten nach oben. Im Norden blitzte es unaufhörlich. Die Stöße des Orkans fegten immer häufiger über die See hin. Wir griffen mit zu, halfen die Sturmsegel hissen. Dann prasselte eine wahre Sintflut von Regenguss herab. Die Jacht raste vor dem Sturm nach Südost. Man konnte auf Deck nicht mehr die Hand vor Augen sehen. Nach einer halben Stunde waren wir aus dem Sturmzentrum glücklich heraus. Wir hatten bisher auf der Brücke im Steuerhäuschen gestanden. Als nun über uns wieder der klare Sternenhimmel blinkte und die India bei dem noch immer kräftigen Wind stolz und sicher mit ihrer Zweimastschonertakelung dahinjagte, als im Osten bereits der erste helle Streifen des heraufziehenden neuen Tages erschien, da ereignete sich das, was mich veranlasst hatte, diesem Abenteuer den Titel Das Fernrohr Kapitän Pellertans zu geben.

Genauer gesagt: Es hatte sich bereits etwas ereignet. Dieses Geschehnis wurde jedoch jetzt erst entdeckt.

Pellertan hatte einen Matrosen zu seiner Kajüte geschickt, um sein Fernrohr holen zu lassen. Gleichzeitig hatten wir dem Kapitän erklärt, wir würden, sobald es Tag sei, das Schiff nochmals durchsuchen. Was in der Schlafkabine inzwischen geschehen war, hatten wir ihm verheimlicht. Wir wollten nun im Salon in den Sesseln noch eine Stunde schlafen. Pellertan war aber argwöhnisch geworden.

»Master Harst – nur heraus damit, es ist etwas passiert«, meinte er, uns scharf fixierend.

Da kam der Matrose zurück. »Das Fernrohr ist nicht zu finden, Käpt’n«, meldete er.

Harst trat sofort vor. »Wo lag es denn, Pellertan?«, fragte er hastig.

»Auf dem Wandbrett. Unsinn – es muss ja da sein«, brummte der Kapitän.

»Warten Sie, Schraut und ich werden es suchen«, sagte Harst. »Ist die Kajüte unverschlossen? Und seit wann?«

»Seit den ersten Sturmanzeichen«, erklärte Pellertan. »Verdammt, bester Harst, Sie machen einen ganz nervös. Sollte nun etwa auch mein altes Fernrohr …«

Harst eilte schon die Brückentreppe hinab. Ich war dicht hinter ihm. Pellertans Kajüte lag im Mittelaufbau nach Backbord zu.

Nun – das Fernrohr blieb verschwunden. Als dies nicht mehr anzuzweifeln war, setzte sich Harst auf das Wandsofa und winkte mich neben sich. Wir waren allein in der Kajüte.

»Was bedeutet das nun wieder?«, fragte ich kleinlaut. »Fraglos hat ja doch dieser geheimnisvolle Mörder nun auch das Fernrohr gestohlen. Bei der Dunkelheit und dem Wirrwarr an Deck während des Orkans konnte er recht gut hier in die Kajüte schlüpfen.«

Harst antwortete erst nach einer längeren Pause. »Lieber Alter, wenn ich wüsste, was das bedeutet! Was gäbe ich darum! Du glaubst nicht, wie sehr ich in Sorge unser aller wegen bin. Der Mörder Ambermakrys spielt mit uns wie die Katze mit der Maus! Er ist ein Inder, und er wird wohl auch ein Thug sein. Es gibt nur diese eine Erklärung für diese, über einen Zeitraum von fünfzig Jahren sich ausdehnenden Nachstellungen gegen eine einzige Familie.« Wieder eine Pause. Harst legte mir die Hand fest auf den Arm. Seine Stimme klang fast rau, als er dann fortfuhr: »Ich habe das Gefühl, dass sich hier ein entsetzliches Unheil vorbereitet, dass die Feinde Lord Wolpoores nun zum letzten Schlag ausholen. Sie müssen alles so sorgfältig vorbereitet haben, dass sie ihrer Sache völlig sicher sind. Sie müssen sich doch selbst sagen, dass dieses Verschwinden der Ferngläser auffallen musste, dass ferner, wenn das Attentat auf den Lord geglückt wäre, nach dem Mörder wie nach einem eingekreisten Raubtier hier an Bord gesucht worden wäre. Sie machen sich nichts aus einer solchen Suche! Sie wissen eben: Der, den sie hier auf die India als ihr Werkzeug schickten, kann nicht gefunden werden. Und weil dieser Mann eben nicht zu fassen ist, deshalb werden sie ihm den Befehl gegeben haben, diese für sie so günstige Situation auch voll auszunutzen. Erst sollte der Lord durch die geweihte Schlinge sterben; dann die seinen, Frau und Kinder. Und mit diesen sehr wahrscheinlich alles Lebende hier an Bord. Die India soll auf den Grund des Meeres geschickt werden, soll verschwinden, ohne dass jemand ahnt, wo sie ihr nasses Grab gefunden hat.«

Ich saß wie gelähmt da. Schon einmal hatte der Lord diese Möglichkeit einer Vernichtung des ganzen Schiffes nebst Besatzung kurz gestreift. Aber damals erschien mir die Gefahr gering – sogar übertrieben von seiner Seite. Jetzt ging es mir wie ein Eiseshauch über den Rücken; jetzt starrte ich Harst an und merkte, wie mir der kalte Schweiß auf die Stirn trat.

Kein Wunder, dass ich erschrocken hochfuhr, als nun plötzlich die Kajütentür aufgerissen wurde und Kapitän Pellertan hereinstampfte, als hinter ihm Chester Blindley mit umwickeltem Hals sichtbar wurde und dann noch Detektiv Narkolly folgte, alle drei mit seltsam erregten Gesichtern.

»Master Harst!«, rief Pellertan, »jetzt … jetzt ist hier an Bord ganz und gar der Deubel los! Denken Sie sich: Es gibt auf der India kein einziges Fernglas mehr, wenigstens kein brauchbares.«

Sehr bald wussten wir dann, was inzwischen geschehen war. Blindley war zu Narkolly in den Gang hinausgetreten, um ihn nochmals zu fragen, ob er auch wirklich sorgfältig gewacht hätte und nicht vielleicht für Sekunden eingenickt wäre. Bei diesem Gespräch hatte Narkolly erwähnt, dass er erst abends festgestellt hätte, dass aus seinem Krimstecher zwei Linsen fehlten, sodass das Fernglas nicht mehr zu benutzen war. Da hatte Blindley ihn sofort herumgeschickt und bei den anderen Detektiven anfragen lassen, wie es mit deren Ferngläsern stände. So war herausgekommen, was die davon Betroffenen bisher selbst nicht wussten: In den schärferen Ferngläsern fehlten zwei der Linsen, bei den minderwertigeren eine. Jedenfalls: Auf der India existierte zurzeit kein einziges brauchbares Glas!

Pellertan trat nun an den Schrank, wo die Instrumente zur Berechnung der jeweiligen Schiffsposition aufbewahrt wurden. Bekanntlich gehört dazu auch ein besonderes Instrument mit einem kleinen Fernrohr.

Der alte Kapitän stieß einen gräulichen Fluch aus. »Auch weg – auch beseitigt!«, brüllte er und wandte sich zu Harst um.

Der hatte nun den Kopf gesenkt und die Augen geschlossen. Auf seiner Stirn standen drei senkrechte Falten. Ich winkte Pellertan schnell zu. Ich kannte Harald. Ich kannte diese starre Ruhe an ihm, diese Stirnfalten. Es war stets das Zeichen, dass er einen neuen Weg zur Lösung irgendeines dunklen Rätsels gefunden hatte.

Wir schwiegen und warteten. Minutenlang regte sich niemand, dann …