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Der Detektiv – Band 25 – Das Fernrohr Kapitän Pellertans – Kapitel 2

Walter Kabel
Der Detektiv
Band 25
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Das Fernrohr Kapitän Pellertans

Kapitel 2

Der bunte Seidenfaden

Chaprin war ein älterer Mann mit einem stets tadellos gepflegten Knebelbart. Er hatte bereits dieselbe Stellung bei dem Vater Lord Edwards innegehabt, der so auch ermordet worden war wie alle Wolpoores, sodass jetzt nur noch von der Familie drei männliche Mitglieder vorhanden waren: der Lord und seine beiden Söhne.

Chaprin erblasste, stieß ein angstvolles Mon Dieu – etwa ein Attentat? hervor und stierte Harst geradezu hilfeflehend an.

»Attentat?«, meinte dieser. »Noch nicht! Noch – nicht! Aber es kann sich eins vorbereiten!«

Dann zu mir gewandt. »Schraut, schließe die Kombüsentür zum Gang. So nun möchte ich Sie einiges fragen Chaprin. Haben Sie, seit wir Madras mit der Jacht vor drei Tagen verließen, jemals hier in Ihrem Küchenreich etwas Besonderes bemerkt? Denken Sie genau nach. Sehr genau. Es kommt auf jede Kleinigkeit an.«

Der Koch verneinte.

»Besinnen Sie sich«, sagte Harst wieder.

Chaprin schaute grübelnd vor sich hin.

»Hm«, meinte er dann, »ob Sie das gerade interessieren wird …«

»Was denn?«

»Wir haben wieder Ratten im Schiff, obwohl doch letztens in Madras Kapitän Pellertan alle Räume mit dem Gasapparat hat säubern lassen. Es wurden auch nur sechs tote nachher gefunden. Und jetzt – jetzt müssen wieder eine Anzahl von den Bestien an Bord sein. Gestern haben sie mir abermals das frische Brot angenagt, und auch von der Reisspeise von vorgestern Mittag fraßen sie eine gehörige Menge weg.«

»Und sonst ist Ihnen nichts aufgefallen?«

»Wirklich – gar nichts!«

»Haben Sie denn schon Ratten hier oder im Vorratsraum zu Gesicht bekommen, Chaprin?«

»Nein, Master Harst, nicht eine. Aber es sind welche da, das ist sicher.«

»So so. Nun, sprechen Sie zu niemandem von dem, was wir hier soeben verhandelten. Schraut und ich werden uns jetzt nochmals den Proviantraum ansehen. Haben Sie ein Metermaß zur Hand?«

»Gewiss. Bitte – hier ist eins.«

»Danke. Falls Blindley nach uns fragt, sagen Sie nur, wir seien an Deck gegangen.«

Wir waren im Proviantraum allein. An den Wänden standen Regale und Kisten und Fässer; in der Mitte erhob sich der schwarz lackierte Trinkwassertank, der gut 2 ½ Meter Durchmesser hatte und fast bis an die Decke reichte, wo sich die Umrahmung einer großen Ladeluke abzeichnete.

Seltsamerweise raunte Harst mir jetzt sehr leise zu: »Schweig!« Und antworte auf meine Fragen nur ganz ausweichend. »Hier ist eine böse Teufelei im Gange!«

Dann nahm er den Meterstock, stellte das Fässchen unter den Haken, an dem sich Ambermakry erhängt hatte, maß die Entfernung vom Deckel des Fässchens bis zum Ende des durchschnittenen Strickes, stieg auf das Fässchen, betrachtete den Strick, nahm ihn vom Haken und steckte ihn in die Tasche.

Nachdem er wieder hinuntergestiegen war, meinte er zu mir: »Ich fürchte, ich habe soeben eine sehr schwerwiegende Entdeckung gemacht.«

Ich wusste nicht recht, was ich erwidern sollte, und sagte nur: »Vielleicht irrst du dich auch.« Diese Antwort war doch gewiss unverfänglich.

»Du magst recht haben«, meinte er darauf, trat dicht an die Tür, die ins Mannschaftslogis führte, holte seine Taschenlampe hervor und beleuchtete das Schloss, klappte dann sein Messer auf, wickelte sein Taschentuch eng um die Klinge und schob sie so in das Schlüsselloch.

Als er sie wieder herauszog und das Taschentuch besichtigte, wies er stumm auf ein paar Ölflecke auf dem blendend weißen Batisttuch.

Was all das sollte, begriff ich nicht recht.

Er lehnte sich nun an die Tür und ließ seine Augen langsam von Gegenstand zu Gegenstand gleiten. Es brannten hier an der Decke vier elektrische Birnen, die jeden Winkel erleuchteten.

Wohl fünf Minuten verstrichen so. Harst regte sich nicht. Ich kannte diese völlige Bewegungslosigkeit schon an ihm. Dann durfte ich ihn nicht stören; dann wandelte sein scharfer Geist Pfade, die den meisten Menschen ungangbar sind.

Endlich schien er wie aus einem Traum zu erwachen.

»Gehen wir«, meinte er. »Wir werden jetzt –«, und diese zweite Hälfte des Satzes sprach er schon in der Küche, »den Maschinenraum besuchen.«

Ich hatte zu Anfang dieser Schilderung unseres Abenteuers mit dem Fernrohr Kapitän Pellertans eine Bemerkung eingeflochten, die dem aufmerksamen Leser unbedingt hatte aufstoßen müssen. Leider werden aber wohl die meisten Freunde meiner kleinen Erzählungen, die unter dem Gesamttitel Der Detektiv veröffentlicht sind und in denen Harald Harsts Erfolge in anspruchsloser Form wiedergegeben sind, diese meine schriftstellerischen Versuche genauso überfliegen wie etwa einen Liebesroman oder eine Abenteuergeschichte. Leider …! Denn jeder soll doch schließlich aus jedem Buch etwas lernen! Und gerade Detektiverzählungen sind oft recht geeignet dazu, zum Nachdenken anzuregen und das zu schärfen, was man als Kombinationstalent bezeichnet.

Hand aufs Herz, lieber Leser! Ist dir aufgefallen, dass es vorn auf der ersten Seite heißt: »Die India schaukelte auf und ab …?« Und die India ist doch eine Motorjacht, also unabhängig vom Wind! Aber … »Sie schaukelt träge auf und ab«! Das sagt man doch nur von Schiffen, die nicht in Fahrt sind!

Was folgt daraus? Nun – entweder lag die India absichtlich mit abgestoppten Maschinen still, oder diese Maschinen waren in Unordnung. Zu Ersterem war bei dem glutheißen Wetter kein Grund vorhanden. Im Gegenteil: Der bei schneller Fahrt entstehende Luftzug wäre nur angenehm gewesen! Mithin – und dies hätte der Leser sich selbst herausklügeln müssen – mithin schien etwas an den Motoren der India nicht in Ordnung zu sein, worauf ja auch später der blauleinene, ölfleckige Arbeitsanzug des übermüdet aussehenden Ingenieurs Moore hindeutete. Denn für gewöhnlich trägt ein Ingenieur einer eleganten Milliardärsjacht nicht gerade einen solchen schmierigen Anzug.

Ja – die Motoren der India hatten tatsächlich plötzlich versagt. Einzelne Teile hatten sich heiß gelaufen, sogar die Lager der Schraubenwellen, wodurch ein Bruch der Lagen eingetreten war, der erst durch Einfügen von Ersatzteilen ausgeglichen werden musste.

Moore hatte schließlich auch herausgefunden, dass das Maschinenöl an alledem die Schuld trug. Es war so minderwertig, dass die Zuleitungen der selbsttätigen Ölzuführung nicht funktioniert hatten.

Als wir nun die eiserne Treppe zum Maschinenraum hinabstiegen, kam uns der Obermaschinist Blonk entgegen, machte aber sofort kehrt und sagte dann zu Harst ganz aufgeregt: »Denken Sie, Master Harst, soeben habe ich festgestellt, dass nur gerade der Ballon Schmieröl, den wir jetzt benutzen, verdorben ist: Ich wette, jemand hat in den Ballon irgendeine Säure hineingegossen. Die anderen drei Ballons sind tadellos. Ich will niemand verdächtigen. Aber merkwürdig bleibt es doch, dass sich Ambermakry gerade jetzt erhängt hat! Er hatte die Ölausgabe unter sich. Ich werde jetzt sofort dem Kapitän Meldung erstatten.«

»Tun Sie es!«, forderte Harst. »Gehen wir wieder mit nach oben, Schraut. Blonk hat bereits das ermittelt, was ich argwöhnte, dass das Öl absichtlich verunreinigt worden war.«

In Pellertans Kajüte fanden wir diesen, Blindley und auch den Lord vor.

Lord Wolpoore saß mit düsterem Gesicht in einem der Korbsessel, rief Harst nun sofort zu: »Weshalb in aller Welt hat sich der wackere Ambermakry nur erhängt? Ach – ich werde meines Lebens wirklich nicht mehr froh! Sein Tod geht mir sehr nahe! Wie oft hat er uns durch seine kleinen Lieder mit Ziehharmonikabegleitung erheitert!«

Harst erwiderte nichts, wandte sich nur an Blonk und bat ihn, doch einmal zur Kabine Ambermakrys zu gehen und dessen Körperlänge genau festzustellen.

Als der Obermaschinist mit etwas verdutztem Gesicht verschwunden war, sagte Harst zu Lord Wolpoore: »Mylord, ich darf Ihnen nicht verhehlen, dass hier an Bord der India sich Dinge abspielen, die nur einen einzigen Schluss zulassen. Gestatten Sie, dass ich diese Dinge etwas näher erörtere. Zunächst sind hier drei Ferngläser verschwunden. Sie gehören Moore, Halfing und Sinclair. Die Frage, wo sie geblieben sind, kann ich noch nicht beantworten. Aber diese Antwort ergibt sich nachher vielleicht von selbst. Nun zu dem angeblichen Selbstmord Ambermakrys.«

Lord Wolpoore war zusammengezuckt.

»Angeblich – angeblich?«, entfuhr es ihm.

»Ja, Mylord. Es ist so. Der Maschinist wurde zunächst mit einer Schlinge, wahrscheinlich mit einem zu einem Strick gedrehten Tuch, halb erdrosselt und dann in die Strickschlinge am Haken hineingehoben.«

Chester Blindley war ehrlich genug, nun zu rufen: »Ich ahnte so etwas! Ich fand nur nicht die Beweise dafür!«

»Oh – die sind sehr einfach und sehr ins Auge fallend«, erklärte Harst. »Als ich die Proviantkammer betrat und mit den Augen die Größe der Leiche abschätzte, dazu die ganze Länge des durchschnittenen Stricks und die Höhe des Fässchens, das Ambermakry umgestoßen haben sollte, fehlten nach meinem Augenmaß zehn Zentimeter etwa, um es als möglich erscheinen zu lassen, dass der Maschinist, auf dem Fässchen stehend, sich selbst hätte die Schlinge um den Hals legen können, zehn – Zentimeter an seiner Körpergröße! Meiner Überzeugung nach hätte er bei der Länge des benutzten Strickes sich die Schlinge, selbst wenn er sich auf den Fußspitzen hochgereckt haben würde, nur bis zur Hälfte der Nase etwa über den Kopf ziehen können.«

Es klopfte. Obermaschinist Blonk trat ein und meldete: »Master Harst, Ambermakry ist 1,52 Zentimeter groß.«

»Danke, Blonk. Bleiben Sie nur hier. Ich brauche Sie noch. Mylord, Sie haben soeben gehört: 1,52 Zentimeter! Dann fehlen sogar 13 Zentimeter mindestens! Ambermakry hätte nur die Schlinge sich selbst umtun können, wenn er geschickt wie ein Akrobat auf dem Fässchen stehend einen Sprung in die Höhe gemacht hätte. Und hiermit dürfen wir nicht rechnen. Es ist denn doch zu schwierig, es so einzurichten, dass die Schlinge dabei auch wirklich bis zum Hals hinabrutscht. Selbst wenn ihm dies nun gelungen wäre, dann hätte er ja mit den Füßen über dem Fässchen geschwebt, hätte dieses also nicht mehr umzustoßen brauchen. Und es lag doch umgekippt unter dem Haken! Der zweite Beweis ist der Befund der sogenannten Strangulationsmarke am Hals. Der Maschinist war klein und hager, wog vielleicht alles in allem 115 Pfund. Bei diesem Gewicht hätte die Schlinge sich nie so ungeheuer tief in den Hals eindrücken können, dass sogar blutrünstige Stellen entstanden sind. Nein – derjenige, der den Maschinisten in die Strickschlinge hob, hat den Körper des Unglücklichen mit starkem Ruck nach unten gerissen, sodass die Schlinge sich mit übergroßer Gewalt zuzog. Weiter noch: Unterhalb der Genickwirbel sind auf der Haut zwei Flecke zu erkennen, die nur von den Daumenspitzen dessen herrühren dürften, der Ambermakry mit den Händen und einer Tuchschlinge halb erdrosselte und dabei die Daumen in das Genick einstemmte, um den Druck zu verstärken.

»Die … die übliche Mordart der … Thug!«, flüsterte der Lord geistesabwesend und mit völlig verstörtem Gesicht.

»Schließlich der letzte Beweis«, fügte Harst hinzu und fasste in die Tasche, holte das Strickende hervor, das er vorhin vom Haken genommen hatte. »Mylord, Blindley, hier um diesen Strick ist ein Seidenfaden gewickelt – in sehr langen Windungen, ein Seidenfaden, der aus vier einzelnen farbigen Fäden besteht. Ich habe nun einmal irgendwo über die Thug gelesen, dass sie für ihre zu Ehren der blutigen Göttin Kali ausgewählte Opfer zumeist geweihte Seidentücher benutzen. Vielleicht ist der Mörder des Maschinisten ein Thug? Vielleicht hat er den Strick mit Fäden seines geweihten Tuches umschlungen, damit wenigstens ein Teil dieses dem Opfer den Tod gab.«

Lord Wolpoore starrte Harst entgeistert an. »Dann … dann müsste ja dieser Mörder hier an Bord sein!«, sagte er langsam und bewegte die nervös zitternde Hand hin und her, als wollte er die Länge der Jacht andeuten. »Hier an Bord! Blindley, sogleich Ihre Leute zur Bewachung meiner Frau und …«

»Das wird nicht nötig sein«, fiel ihm Harst ins Wort. »Der Mörder ist an Bord, gewiss! Aber er wird sich jetzt kaum sehen lassen!«

»Ja, ja, Halfing ist ja auch bei meiner Frau und den Knaben«, erwiderte Wolpoore und versuchte seine Angst und Aufregung zu unterdrücken.

»Der Mörder war es auch«, fuhr Harst fort, »der das Maschinenöl absichtlich verdorben hat, um die Jacht in dieser Windstille, die seit gestern früh herrscht, an denselben Platz zu fesseln. Blonk, nun sprechen Sie!«

Der Obermaschinist tat es.

»Das Öl muss genau untersucht werden«, befahl der Lord dem Kapitän. »Es muss doch festzustellen sein, was der Schurke in das Öl hineintat, damit es so schnell dick und körnig wurde.« Dann blickte er wieder auf Harst.

Dieser erklärte nun, indem er sich an Joe Pellertan wandte: »Kapitän, halten Sie es für möglich, dass trotz der kürzlich vorgenommenen Säuberung der Jacht von Ratten bereits so viele dieser Nager wieder hier sich eingeschlichen haben können, dass sie dem Koch Brot angenagt und Reis weggefressen haben? Er behauptet, er spüre ihre Anwesenheit schon recht unangenehm, wenn er auch noch keine gesehen hätte.«

»Ausgeschlossen!«, rief Pellertan. »Ganz ausgeschlossen.«

»Nun, dann dürfte ich wohl nicht ganz fehl gehen mit meiner Vermutung, dass Ambermakrys Mörder hier die Ratten vorstellt, das heißt, dass er von Speisen und so weiter nascht, aber dabei ebenso vorsichtig ist, den Anschein zu erwecken, als hätten es Ratten getan. Wenn wir nun noch an die drei verschwundenen Ferngläser denken, dann …«

Lord Wolpoore war aufgesprungen. »Die Jacht wird sofort durchsucht. Kein Winkel bleibt undurchforscht, keine Kiste, keine Tonne!«, sagte er mit einer Energie, die ihm wohl die Angst um die seinen eingab. »Der Schurke kann uns alle in die Luft sprengen! Vielleicht ist er schon dabei …«

»Halt, Mylord, halt, keine Überstürzung!«, unterbrach Harst ihn. »Diese Durchsuchung muss insofern vorbereitet werden, als wir verhindern müssen, dass der Mensch Gelegenheit findet, womöglich aus einem noch nicht durchsuchten Raum in einen bereits durchsuchten zu schlüpfen und uns so zu entgehen. Es müssen Wachen verteilt werden – überall in den Gängen auf Deck, auf den Treppen und so weiter. Ich selbst will mit Blindley und Schraut das Schiff von oben bis unten durchsuchen. Wir drei genügen. Nur noch zwei der Detektive sollen uns mit Werkzeugen begleiten, damit wir Kisten, Fässer usw. öffnen können.«

Der Lord war sehr einverstanden damit, drückte Harst wiederholt die Hand und meinte: »Mein lieber Harst, wenn wir Sie nicht hätten! Welches Unheil hätte entstehen können!«

»Wir werden den Mann finden, Mylord!«, sagte Harst sehr bestimmt. »Ich glaube – im Proviantraum! Dort stehen ein Paar große Kisten. Und dort ist auch das Schloss der Tür ganz frisch geölt, die zu dem Mannschaftslogis führt. Haben Sie das Schloss ölen lassen, Kapitän? Nur Sie haben doch den Schlüssel dazu.«

»Ich – nein! Niemals!«, erklärte Pellertan. »Es ist ein englisches Kunstschloss übrigens. Mit einem Dietrich lässt es sich nicht öffnen.« Er trat an seinen Schreibtisch, zog ein Schubfach auf, rief dann: »Verdammt – der Schlüssel ist weg.«

»Nun also!«, meinte Harst. »Mithin ist Ambermakrys Mörder selbst hier bei Ihnen gewesen. Kapitän.«