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Der Welt-Detektiv Band 6

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Die wundersamen Märlein vom Berggeist Rübezahl – 1. Kapitel

Heinrich Döring
Die wundersamen Märlein vom Berggeist Rübezahl
Verlag C. F. Schmidt, Leipzig, ca. 1840

Ich, Rübezahl, hab’
jederzeit an Possen und Schwänken mich erfreut.
Stets lass’ ich meinem Humor den Zügel,
kurzum, ich bin im Geisterreich
das ungefähr, was, Menschen, unter euch
der kluge Schalksnarr Eulenspiegel.
S. G. Bürde

Erstes Kapitel

Wie der Berggeist sich in die schöne Tochter des Fürsten Bersanuph verliebt und wie er sie aus ihres Vaters Schloss entführte

Es war ein schöner Frühlingstag. Die Vögel zwitscherten, die Käfer summten, die Quellen rieselten und Bäume und Gebüsch, von leisem Hauch bewegt, schienen traulich miteinander zu flüstern. Da begab es sich, dass der mächtige Berggeist, der seit undenklichen Zeiten in dem Riesengebirge hauste, aus seinen unterirdischen Höhlen und Schluchten hervortrat, wo er sich aus Scheu vor der List und dem Trug der Menschen verborgen hatte. Als er nun vom Gipfel der Schneekoppe in das anmutige Tal, das mit seinem bunten Blumenteppich sich weit unsichtbar vor seinen Blicken hinabstieg, da gewahrte er einen Kreis von jungen Mädchen, die fröhliche Lieder sangen, Blumenkränze flockten und sich in allerlei anmutigen Spielen ergingen. Es war aber eine von jenen Jungfrauen von so wundersamer Schön­heit, dass sie wohl eher für einen Engel als für ein sterbliches Wesen zu halten war. Sie aber, die vor allen anderen durch Anmut und Liebreiz so hochbegabt, war nichts weniger als eine Prinzessin, Emma geheißen, des Fürsten Bersanuph Tochter, der damals in einem Teil von Schlesien gebot, und wohl der mächtigste Fürst seiner Zeit genannt werden konnte.

Es ergab sich aber, dass plötzlich in dem munteren Kreis eine Stille eintrat. Der Prinzessin Händen entsank der Kranz, den sie eben geflochten hatte. Tief in sich versunken lauschte sie den lieblichen Tönen einer sanft flötenden Nachtigall. Auch ihre Gespielinnen lauschten mit ihr. Als nun auf des Berg­geistes Gebot plötzlich in dem nahen Gebüsch ein vielstimmiger Chor von Nachtigallen sich hören ließ, da kannte der Prinzessin Entzücken keine Grenzen. Sie gab es durch manchen freudigen Ausruf kund. Aber ihr Erstaunen vermehrte sich noch. Kaum traute sie ihren Augen, als überall Veilchen und Hyazinthen und noch andere lieblich duftende Blumen zu ihren Füßen emporsprossen und liebliche Rosengirlanden den Platz einschlossen, wo sie mit ihren Gespielinnen verweilte. Noch hatte sich ihr Erstaunen – nicht durch Worte – kund gegeben, als der Berggeist in eines wunderschönen Jünglings Gestalt sichtbar hervortrat.

Er näherte sich der Prinzessin und sprach: »Ich liebe dich, du holdes Wesen; sage mir, liebst du mich wieder?«

Eine glühende Röte flog über der Prinzessin Antlitz. Scheu senkte sie den Blick zu Boden, aber sie erhob ihn sogleich wieder und ihr schwarzes, leuchtendes Auge traf den zudringlichen Fremdling mit den zür­nenden Worten: »Wie dürft Ihr Euch unterfangen, auf so unziemliche Weise um mich zu werben und mein Ohr durch Eure Liebesanträge zu verletzen? Wisst, dass ich Emma geheißen, die Tochter des mächtigen Fürsten Bersanuph …«

»Verzeih«, sprach, sie unterbrechend, der Berggeist. »Eure Sitten und Gebräuche kenne ich nicht. Ich weiß nur, dass ich dich liebe. Komm, du Holdselige, verlasse die Umgebungen, die deiner unwürdig, und folge mir in reinere Regionen. Herrschen sollst du dort unter mächtigen Wesen, herrschen über mich, das mächtigste unter allen. Sieh mich nicht so finster an; ich weiß, du liebst, du kannst mich lieben.«

So sprechend, schlang der Berggeist seinen Arm um die Prinzessin. Hoch in die Lüfte sich mit ihr emporschwingend, erreichte er in einem Augenblick den Gipfel der Riesenkoppe. Namenloser Schrecken aber ergriff Emmas Gespielinnen, als ihre Herrin ihnen auf so wundersame Weise entrissen worden war. Sie eilten in das Schloss des Fürsten Bersanuph und er­zählten ihm, was sich begeben hatte. Der aber geriet in grenzenlose Verzweiflung. Er rang die Hände, rannte in den Gemächern seines Schlosses umher und wollte sich nicht trösten lassen, denn die Prinzessin war sein einziges Kind und er hatte sie so lieb.

Pracht, Glanz und Überfluss herrschten in dem Palast, den der Berggeist auf dem Gipfel der Riesenkoppe hervorgezaubert hatte. Aber die Prinzessin, die all diese Herrlichkeiten sehen sollte, schloss noch immer ihre holdseligen Augen, gefesselt von einer tiefen Ohnmacht, die sie befallen hatte, als der Geist sich mit ihr in die Lüfte schwang. Sie erwachte endlich.

»Wo bin ich denn?«, sprach sie, ängstlich umherschauend. Als sie nun aus des Berggeistes Mund erfuhr, dass sie sich in dem Palast eines der mächtigsten Gnomenfür­sten befinde, der sie innig liebe und wieder von ihr geliebt zu werden wünsche, da warf sich die Prinzessin ihm zu Füßen und flehte jammernd, dass er sie wieder an ihres Vaters Hof zurückkehren lassen möchte, und sie mit seiner Liebe verschonen solle, die sie doch nicht erwidern könnte.

Da wurde der Berggeist traurig, sich so verschmäht zu sehen, denn er hatte ihr erklärt, dass sie nach Willkür über alle seine Untertanen und über ihn selbst herrschen solle.

Als er daher seine Liebesanträge wiederholte, da rief die Prinzessin zürnend: »Hinweg, Unhold, hinweg aus meinen Augen!«

Da verschwand der Berggeist vor der Prinzessin Augen in einen leichten Nebel zerfließend.

Mehrere Tage vergingen, er ließ sich nicht wieder blicken. Unsichtbar umschwebte er die Trotzige, die ihn und seine Liebe verschmähte. Ihre leisesten Wünsche wurden erfüllt und von Geisterhänden schnell für sie herbeigeschafft, was ihr irgend noch bei all dem Glanz und Überfluss, der sie umgab, mangeln konnte. Als sie nun durch die prachtvollen Gemächer des Palastes umherwanderte, die aufgehäuften Schätze und Herrlichkeiten bewundernd, da traten die hellen Tränen in ihre Augen. Sie meinte vor Wehmut zu vergehen, wenn sie an ihres Vaters Schloss und an ihre treuen Gespielinnen zurückdachte. In dem ganzen Palast war kein lebendes Wesen zu erblicken. Sie erschrak oft bei dem Schall ihrer eigenen Tritte.

»Soll ich hier sterben vor Langerweile?«, rief sie trostlos. »Erscheine du, der du mich gebannt in diese Einöde!«