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Der Detektiv – Band 25 – Das Siegellacktröpfchen – Kapitel 1

Walter Kabel
Der Detektiv
Band 25
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Das Siegellacktröpfchen

Kapitel 1

Der Junge im Koffer

Wir saßen auf dem Balkon, der zu unserem Wohnsalon im Hotel de Paris in Pondicherry gehörte. Harald Harst hatte mir soeben die Teetasse aufs Neue gefüllt und sagte nun, indem er auf die im Sonnenlicht glitzernde, endlose Wasserfläche des Meerbusens von Bengalen deutete, wie der zwischen den Halbinseln Vorder- und Hinterindien liegende Teil des Indischen Ozeans genannt wird.

»Bedauerst du noch, lieber Schraut, bereits um halb sieben dein Bett verlassen zu haben? Ist dieser Morgen nicht herrlich! Man sollte in den Tropen eigentlich stets mit Sonnenaufgang den Tag beginnen.«

Wer Harst so kennt wie ich, der merkt jedoch auch, dass in diesen Lobpreisungen ein gewisses Zuviel war, genau wie bei den Handbewegungen, die seine Worte begleiteten.

Ich muss noch erwähnen, dass das Hotel de Paris nur durch die Strandpromenade mit ihren schmalen gärtnerischen Anlagen vom Meer getrennt ist und dass die Hotelterrasse unter unserem Balken sich bis dicht an die Promenade heranzog. Durch das Milchglasdach der Terrasse waren die Stämme mehrerer Fächerpalmen hindurchgeleitet, sodass die Palmenkronen den hässlichen Anblick des von Eisenschienen in kleine Quadrate geteilten Terrassendaches einigermaßen verhüllten.

Harst deklamierte nun mit überlauter Stimme einen englischen Vers aus Miltons Verlorenem Paradies, ließ plötzlich die Stimme sinken und fügte, noch immer im Versmaß des Vorausgegangenen, auf Deutsch hinzu:

»In der dritten Palmenkrone rechts, halb verborgen, hinterm Stamme, hockt ein kleiner brauner Bengel, den ich fangen möchte …«

Er stand auf und verließ den Balkon. Ich tat weiter harmlos, griff nach einer Zeitung, schaute scheinbar hinein und äugte dabei unauffällig zu der Palmenkrone hin. Aber ich entdeckte nichts. Ich erhob mich, langte nach Harsts Krimstecher1, der auf dem Tisch lag, richtete ihn tief unten auf die Promenade, sodass ich nun auch die Palmenkrone im Sehfeld des Glases hatte. Doch auch so bemerkte ich nichts von einem braunen Burschen. Ich gab nun das Versteckspiel auf, beugte mich weit über das Balkongeländer und versuchte mit bloßem Auge diesen kleinen Bengel zu erspähen, in dem Harald doch fraglos einen Spion oder dergleichen witterte.

Leute wie wir müssen stets argwöhnisch und auf ihrer Hut sein. Dieses ewig wache Misstrauen wird einem bald zur zweiten Natur, wenn man wie wir nun bereits seit zwei Jahren fast ununterbrochen den Kampf gegen Verbrecher, Schwindler, Hochstapler und ähnliche fragwürdige Ehrenmänner als Lebenszweck erwählt hat.

Zurzeit allerdings war es mir unbegreiflich, wer für uns ein so starkes Interesse haben könnte, dass er sogar einen Spion in Gestalt eines indischen Knaben dort in jene Palmenkrone geschickt haben sollte.

Während ich mir dies noch überlegte, sah ich, dass vom Vorplatz des Hotels eine Leiter an das Glasdach gestützt wurde. Gleichzeitig öffnete sich eine der Luftscheiben des Daches und einer der eingeborenen Kellner in blendend weißem Anzug kletterte auf das Dach, während ein zweiter auf der Leiter sichtbar wurde.

Da – nun endlich regte sich etwas in der Palme. Aus den grüngelben Blättern der Krone löste sich eine winzige, in einen enganschließenden, ebenfalls grüngelben Zeugfetzen gehüllte Gestalt los und lief mit affenartiger Gewandtheit auf den Nebenbalken zu, der wie der unsrige etwa anderthalb Meter über dem Glasdach lag.

Ich will nicht allzu eingehend hier schildern, was alles von Harst, mir und den Hotelbedienten angestellt wurde, um des Jungen habhaft zu werden. Eine volle Stunde war das ganze Hotel des braunen Bengels wegen in Aufregung.

Schließlich musste die Jagd als zwecklos eingestellt werden. Harst gab den Hotelbedienten Trinkgelder und kehrte in unseren Wohnsalon zurück. Ich war dicht hinter ihm, drückte nun die Tür ins Schloss und wollte gerade fragen, weshalb ihm der kleine Bursche denn so wichtig erschienen sei, um ein ganzes Hotel seinetwegen zu alarmieren, als er mich sanft beiseiteschob, die Tür von innen verschloss und mir zuraunte: »Tu dasselbe mit der unseres Schlafzimmers und zieh den Schlüssel ab.«

Unser Schlafzimmer hatte ebenfalls zwei Fenster und ging gleichfalls nach vorn hinaus. Als ich die Tür versperrt hatte, winkte Harst mir schweigend zu. Er stand in der Verbindungstür der beiden Räume und deutete nun auf den größten unserer Koffer, in dem wir unsere Anzüge einzupacken pflegten, die nun aber im Kleiderschrank hingen. Der Koffer war leer und stand auf einem Gestell neben dem Waschtisch.

Oben auf dem Koffer lagen eine Kleiderbürste und einer von Harsts weichen Kragen.

»Sehr geschickt gemacht«, flüsterte Harst und behielt den Koffer dauernd im Auge. »Als wir auch unsere Zimmer vorhin durchsuchten, wollte der eine Kellner den Koffer da öffnen. Du meintest aber, wenn der Junge dort hineingekrochen wäre, könnten wohl kaum Bürste und Kragen oben auf dem Deckel liegen, was dem Kellner einleuchtete und was doch ein Irrtum war. Der braune, kleine Bursche steckt nämlich trotz Bürste und Kragen darin! Er hat beide Gegenstände sehr gewandt wieder auf den Deckel gelegt, nachdem er diesen dreiviertel zugeklappt hatte. Bitte, woran erkennt man, dass der Koffer nicht leer ist?«

Derartige Fragen sollte Harst sich getrost sparen. In den seltensten Fällen wird sie ihm jemand beantworten können. Ich schwieg, worauf er erklärte: »Nun, lieber Alter, das Koffergestell hat oben zwei Gurte, auf denen der Koffer ruht. Würde ein leerer Koffer diese Gurte so straff spannen, wie es dort der Fall ist?«

Dann schritt er auf den Koffer zu und schlug mit kurzem Ruck den Deckel hoch.

Ich war Harst die wenigen Schritte gefolgt; ich sah nun genau wie er in dem Koffer eng zusammengekrümmt den kleinen Inder liegen; wartete wie er, dass der Junge sich rühren würde.

Nichts geschah. Da griff Harst nach dem linken Arm des Knaben, ließ den Arm wieder fallen. Und dieser Arm schien wie gelähmt.

»Tot!«, sagte Harst leise. »Tot! Lieber Alter, ich habe nicht zu Unrecht diesem kleinen Spion sofort eine ganz besondere Bedeutung beigemessen. Bitte rufe doch durch unser Zimmertelefon den Hoteldirektor herbei. Ich möchte die Leiche nicht anrühren, bevor nicht die Polizei hier ist. Dass das arme Kind tot war, sah ich sofort an den zusammengekrampften Fäusten – und noch an etwas.«

Er schloss den Kofferdeckel wieder. Eine Viertelstunde darauf war unser alter Bekannter, Kommissar Jean Dalbott, mit dem Polizeiarzt bei uns. Nachdem Harst ihm die Vorgänge am Morgen kurz mitgeteilt hatte, öffnete Dalbott mit einem seine ganze Ratlosigkeit wiedergebenden Kopfschütteln den Koffer und hob den kleinen Toten heraus, legte ihn auf den Boden und ließ ihn durch den Arzt untersuchen.

»Was halten Sie von alledem?«, fragte er Harst und zog ihn an das eine Fenster. »Wie in aller Welt kann der Junge so schnell in dem Koffer erstickt sein? Wie ist dies möglich gewesen? Der kleine Bursche hätte doch den Deckel jederzeit lüften können!«

»Erstickt?«, meinte Harst »Nein, der Junge ist ermordet worden.«

Dalbotts Kopf schnellte hoch. Auch ich konnte eine Bewegung des Staunens nicht unterdrücken.

»Ermordet?«, rief der Kommissar nun so laut, dass auch der Polizeiarzt aufschaute.

»Allerdings!«, konstatierte Harst. »Ermordet durch eine in Indien nicht ganz unbekannte, sehr heimtückische, lautlos arbeitende Schusswaffe.«

»Ah, ein Blasrohr«, sagte Dalbott schnell.

»Ja, durch einen vergifteten Blasrohrpfeil!«

»Und dieser vergiftete Pfeil dürfte irgendwo auf dem Dach der Terrasse liegen«, erklärte Harst. »Ich behaupte, der Knabe wurde durch den Pfeil getroffen, als er über das Dach auf den Nebenbalkon zulief. Der Schütze muss, da die Wunde an der linken Halsseite sich befindet, irgendwo aus einem Fenster des Hotels rechts von unseren Zimmern geschossen haben, vermutlich aus dem Raum neben unserem Schlafzimmer, da ein Blasrohr doch nur eine geringe Tragweite hat. Ich würde Ihnen raten, Monsieur Dalbott, sofort einmal diese Räume rechts von den unsrigen in Augenschein zu nehmen. Vielleicht ist gar unser Zimmernachbar zur Rechten – es war ein offenbar sehr reicher, europäisch gekleideter Inder mit vielen Brillantringen – plötzlich abgereist.«

Dalbott verließ uns schleunig, wir aber gingen nun auf Harsts Vorschlag auf den Balkon. Harst schritt voraus. Ich bemerkte, dass er von unserem Frühstückstisch hastig etwas aufhob und in die Brusttasche seines hellgrauen Flanellanzugs steckte.

Wir drei – der Polizeiarzt, Harst und ich – suchten nun mit den Augen das Glasdach ab. Der Arzt erspähte den gefiederten, kurzen Blasrohrpfeil zuerst, der unter dem Nebenbalkon lag.

»Der arme Junge hat natürlich sehr wohl gespürt, wie ihm der Pfeil in den Hals fuhr«, meinte Harst. »Er hat ihn schnell herausgerissen und fallen lassen. Erst im Koffer wirkte das Gift dann. Dieses Ranadatra soll ja nach 2 bis 3 Minuten blitzartig zunächst eine Lähmung der Gliedmaßen herbeiführen.«

Der Arzt gab Harst recht. »Es kann ja nur so gewesen sein«, sagte er nachdenklich. »Weshalb aber hat man den Jungen getötet?«, fügte er hinzu. »Dieser Mord ist so merkwürdig, dass Sie doch eigentlich sich damit näher beschäftigen müssten, Monsieur Harst. Hier liegt fraglos irgendetwas ganz Besonderes …«

Hinter uns da des Kommissars Stimme: »Ich bin zu spät gekommen – leider! Der Inder von nebenan ist abgereist – vor einer Stunde etwa. Er wollte angeblich den Küstendampfer nach Madras benutzen. Ich habe schon angeordnet, dass die Polizeibarkasse dem Dampfer nachfährt …«

»Das hätten Sie sich sparen können«, meinte Harst achselzuckend. »Ich bitte Sie, bester Dalbott, ein Mann, der hier einen Mord beging, wird doch nicht so dumm sein und den Tourdampfer besteigen! Sie werden diesen Menschen kaum finden. Wie nannte er sich denn?«

»Kaufmann Rabindra ben Misore aus Bangalore.«

»Und wohnte hier seit wann?«

»Seit gestern früh.«

»So so …«

Wir kehrten dann zu der Leiche zurück. Dalbott zog dem kleinen Toten den schmierigen, grüngelben Zeugstreifen ab. Der Junge trug darunter nur noch eine zerrissene hemdartige Jacke mit weiten Ärmeln.

»Ein Kind aus den ärmsten Volksschichten«, meinte Dalbott und zeigte auf die Schwielen der Fußsohlen und die abschreckende Magerkeit des Körpers. »Können Sie mir irgendwie erklären, Monsieur Harst, ob dieser Knabe gerade auf Sie irgendwie aufpassen sollte?«, wandte er sich dann an Harst.

»Oh – wie soll ich das wohl wissen, bester Dalbott?! Es kann sein – kann auch nicht sein!«

Dass Harst, wenn er gewollt hätte, dem Kommissar ganz anders zu antworten in der Lage gewesen wäre, davon war ich fest überzeugt. Sehr bald erhielt ich hierüber auch Gewissheit.

Dalbott und der Polizeiarzt verabschiedeten sich gleich darauf. Dann wurde auch die kleine Leiche abgeholt. Auch der Koffer musste mit zur Polizeidirektion.

Wir waren nun wieder allein. Inzwischen war es zehn Uhr vormittags geworden.

»Gehen wir spazieren«, meinte Harst. »Das Hotel hier ist mir verleidet. Wir werden mit dem Nachmittagszug nach Madras weiterreisen.«

Wir setzten uns auf eine leere, schattige Bank und dann – dann bekam ich die Siegellacktröpfchen zu sehen, die, so harmlos sie zunächst wirkten, uns doch zu dem seltsamsten unserer indischen Abenteuer verhelfen sollten.

[1]

Show 1 footnote

  1. Krimstecher, Art Feldstecher oder Fernrohr, wie sie im Krimkrieg in Aufnahme kamen.