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Der Welt-Detektiv Band 6

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Die drei Musketiere – Zwanzig Jahre danach – 11. – 14. Bändchen – Kapitel III

Alexandre Dumas
Zwanzig Jahre danach
Elftes bis vierzehntes Bändchen
Fortsetzung der drei Musketiere
Nach dem Französischen von August Zoller
Verlag der Frankh’schen Buchhandlung. Stuttgart. 1845.

III. Whitehall

Das Parlament verurteilte, wie vorhergesehen, Karl Stuart zum Tode. Politische Gerichte sind beinahe immer leere Förmlichkeiten, denn dieselben Leidenschaften, welche die Anklage veranlassen, veranlassen auch die Verurteilung.

Obwohl unsere Freunde die Verurteilung erwarteten, so waren sie doch tief gebeugt darüber. D’Artagnan, dessen Geist nie mehr Hilfsquellen besaß als in der äußersten Not, schwor abermals, er würde alles versuchen, um die Entwicklung dieser blutigen Tragödie zu verhindern; doch durch welche Mittel? Dies sah er noch nicht klar vor sich. Mittlerweile musste man, um Zeit zu gewinnen, um jeden Preis verhindern, dass die Hinrichtung am zweiten Tag, wie dies die Richter beschlossen hatten, stattfand. Das einzige Mittel war, dass man den Henker von London entfernte, denn zumindest dauerte es einen Tag, bis man den Henker aus der nächsten Stadt holen ließ, und ein Tag bedeutet unter solchen Umständen vielleicht die Rettung. D’Artagnan übernahm dieses äußerst schwierige Geschäft.

Nicht minder wesentlich war es, Karl Stuart davon in Kenntnis zu setzen, dass man ihn zu retten versuchen wollte, damit er seine Verteidiger unterstützte oder wenigstens ihren Bemühungen nicht entgegenarbeitete. Aramis übernahm diesen gefährlichen Auftrag. Karl Stuart hatte verlangt, dass man dem Bischof Juxon erlauben sollte, ihn in seinem Gefängnis in Whitehall zu besuchen. Mordaunt war an demselben Abend bei dem Bischof erschienen, um ihm das religiöse Verlangen des Königs sowie der Erlaubnis Cromwells zu eröffnen. Aramis beschloss, den Bischof durch Einschüchterung oder Überredung dahin zu bringen, dass er ihn an seiner Stelle und mit seinen priesterlichen Insignien angetan nach Whitehall gehen ließe. Athos übernahm es, für den Fall des Misslingens oder des Gelingens die Mittel zur Abreise aus England in Bereitschaft zu halten.

Der Palast von Whitehall wurde durch drei Regimenter und besonders durch Cromwells beständige Sorge bewacht, der beständig kam und ging und jeden Augenblick seine Generäle und Agenten schickte.

Allein in seinem gewöhnlichen und von zwei Kerzen beleuchteten Zimmer schaute der zum Tode verurteilte Monarch traurig auf den Luxus seiner vergangenen Größe, wie man in seiner letzten Stunde das Bild des Lebens glänzender und holder sieht als je.

Parry hatte seinen Herrn nicht verlassen und seit seiner Verurteilung nicht aufgehört zu weinen.

Mit dem Ellbogen auf einen Tisch gestützt, betrachtete Karl Stuart ein Medaillon, auf dem die Porträts seiner Gemahlin und seiner Tochter nebeneinander waren. Er näherte das Porträt seinen Lippen und murmelte dabei nacheinander die Namen seiner Kinder. Manchmal war es ihm, als müsse dies alles nur ein böser Traum sein, dann wieder sehnte er sich nach dem versprochenen Priester und wünschte, dieser möchte ein Mann von edlem und großem Geist sein. Er erwartete zuerst Juxon und nach Juxon das Märtyrertum.

Es war eine neblige, kalte Nacht. Die Glocke schlug langsam im Turm der benachbarten Kirche. Die bleiche Helle zweier Kerzen ließ in dem großen, hohen Gemach Phantome erscheinen, die von seltsamen Reflexen beleuchtet waren. Diese Phantome waren die Ahnen König Karls, die sich aus ihren goldenen Rahmen lösten. Die Reflexe rührten von dem letzten bleichen, spiegelnden Schimmer eines Kohlenfeuers her, das im Erlöschen begriffen war.

Eine unsägliche Traurigkeit bemächtigte sich des Königs. Er begrub seine Stirn in seinen Händen, dachte an die Welt, die so schön ist, wenn man sie verlässt, oder vielmehr, wenn sie uns verlässt, an die Liebkosungen der Kinder, die so süß und zart sind, besonders wenn man von diesen Kindern getrennt ist, um sie nie mehr zu sehen, dann an seine Gattin, ein edles, mutiges Geschöpf, das ihn bis zu seinem letzten Augenblick unterstützt hatte.

Plötzlich schreckte ihn das Geräusch von Tritten auf, die Tür öffnete sich, Fackeln füllten das Gemach mit ihrem rauchigen Licht, und ein Geistlicher in bischöflichem Gewand trat ein, gefolgt von zwei Wachen, denen Karl mit der Hand ein gebieterisches Zeichen machte. Die zwei Wachen entfernten sich, das Gemach versank abermals in Dunkelheit.

»Juxon!«, rief Karl. »Juxon! Ich danke, mein letzter Freund, Ihr kommt zu gelegener Zeit.«

Der Bischof warf einen unruhigen Seitenblick auf den Menschen, der in einem Winkel des Kamins schluchzte.

»Auf! Parry«, sagte der König, »weine nicht. Gott kommt zu uns.«

»Wenn es Parry ist«, versetzte der Bischof, »so habe ich nichts zu fürchten. Erlaubt mir also, Sire, Eure Majestät zu begrüßen und ihr zu sagen, wer ich bin und aus welchem Grund ich komme.«

Bei diesem Anblick, bei dieser Stimme war Karl ohne Zweifel im Begriff zu rufen, aber Aramis legte den Finger auf die Lippen und verbeugte sich tief vor dem König von England.

»Der Chevalier!«, murmelte Karl.

»Ja, Sire«, unterbrach ihn Aramis, die Stimme erhebend, »ja, der Bischof Juxon, ein getreuer Ritter Christi, der sich den Wünschen Eurer Majestät fügt.«

Karl faltete die Hände; er hatte Aramis erkannt, und eine tiefe Rührung ergriff ihn gegenüber diesen Fremdlingen, die ohne einen anderen Grund, als eine Gewissenspflicht, so gegen den Willen eines Volkes und das Geschick eines Königs ankämpften.

»Ihr seid es«, sprach er, »Ihr! Wie seid Ihr bis hierher gelangt? Mein Gott, Ihr wäret verloren, wenn sie Euch erkennen würden.«

»Denkt nicht an mich, Sire«, sagte Aramis, dem König abermals durch eine Gebärde Stillschweigen empfehlend, »denkt nur an Euch, Eure Freunde nahen. Was wir tun werden, weiß ich noch nicht, aber vier entschlossene Männer sind viel zu tun imstande. Schließt indessen das Auge nicht, erschreckt über nichts, seid auf alles gefasst.«

Karl schüttelte den Kopf und erwiderte: »Freund, wisst Ihr, dass Ihr keine Zeit zu verlieren habt, dass Ihr Euch beeilen müsst, wenn Ihr handeln wollt? Wisst Ihr, dass ich morgen um zehn Uhr sterben soll?«

»Sire, es wird bis dahin etwas geschehen, was eine Hinrichtung unmöglich macht.«

In demselben Augenblick vernahm man unter dem Fenster des Königs ein Geräusch, wie von einem Holzwagen, der abgeladen wird.

»Hört Ihr?«, sprach der König. Auf dieses Geräusch folgte ein Schrei des Schmerzes.

»Ein Schrei … ich weiß nicht, wer ihn ausstoßen konnte, aber das Geräusch will ich deuten«, sagte der König. »Wisst Ihr, dass ich vor diesem Fenster hingerichtet werden soll?« fügte er bei, die Hand nach dem düsteren, öden, nur von Soldaten und Schildwachen besetzten Platz ausstreckend.

»Ja, Sire, ich weiß es.«

»Nun, das Holz, das man bringt, besteht aus den Balken und Brettern, aus denen mein Schafott errichtet werden soll. Es wird sich ein Arbeiter beim Abladen verwundet haben.«

Aramis bebte unwillkürlich.

»Ihr seht, dass Ihr vergeblich auf Eurem Willen beharrt«, sprach Karl, »ich bin verurteilt, lasst mich meinen Tod erleiden!«

»Sire«, antwortete Aramis, der seine einen Augenblick gestörte Ruhe wiedergewann, »sie mögen ein Schafott errichten, aber sie können keinen Henker finden.«

»Was wollt Ihr damit sagen?«

»Dass der Henker zu dieser Stunde entführt ist; morgen wird das Blutgerüst bereit sein, aber der Henker wird fehlen, und man muss die Hinrichtung auf übermorgen verschieben.«

»Und dann?«

»Morgen in der Nacht retten wir Euch.«

»Ihr seid in der Tat wunderbare Menschen«, sprach der König, »und ich würde nicht daran geglaubt haben, wenn man mir solche Dinge erzählt hätte.«

»Nun hört mich an, Sire«, sprach Aramis. »Vergesst keinen Augenblick, dass wir für Euer Heil wachen; beobachtet alles, horcht auf alles, erklärt Euch alles, den geringsten Gesang, das kleinste Zeichen.«

»Oh! Chevalier, was soll ich Euch sagen?«, rief der König. »Kein Wort, und käme es aus der tiefsten Tiefe meines Herzens, vermöchte meine Dankbarkeit auszudrücken.«

Aramis wollte dem König die Hand küssen, aber der König ergriff die seine und drückte sie an sein Herz.

Um jeden Verdacht zu vermeiden, entfernte sich Aramis bald; der König geleitete ihn bis zur Tür. Hier erteilte der Franzose aufs Würdevollste den Segen, worauf er zum erzbischöflichen Palast zurückkehrte.

Juxon erwartete ihn voll Angst, doch Aramis beruhigte ihn mit den Worten: »Alles ging gut; jeder hielt mich für Euch, und der König segnet Euch, bis Ihr ihn segnen werdet.«

Aramis wechselte seine Kleider und verließ den Bischof. Kaum hatte er zehn Schritte auf der Straße gemacht, so bemerkte er einen verhüllten Menschen, der ihm folgte. Es war Porthos, der den Auftrag erhalten hatte, seinerseits Aramis bei seinem kühnen Unterfangen nach Kräften zu bewachen.

Beide eilten zum Gasthof, wo die vier Freunde sich um elf Uhr zu treffen verabredet hatten. Aramis und Porthos waren die Ersten; nach ihnen kehrte Athos zurück.

»Alles geht gut«, sagte er, ehe seine Freunde Zeit hatten, ihn zu befragen.

»Was habt Ihr getan?«, sprach Aramis.

»Ich habe eine kleine Feluke gemietet, die so schmal ist wie eine Piroge und so leicht wie eine Schwalbe. Sie erwartet uns in Greenwich mit einem Patron und vier Mann, die gegen eine Bezahlung von fünfzig Pfund Sterling drei Nächte hintereinander zu unserer Verfügung sind. Einmal mit dem König an Bord, benutzen wir die Flut, fahren die Themse hinab und sind in zwei Stunden auf offener See. Als wahre Piraten folgen wir sodann der Küste, verbergen uns an den unzugänglichen Ufern und steuern, wenn das Meer frei ist, nach Boulogne. Für den Fall, dass ich getötet würde, bemerke ich Euch, dass der Patron des Schiffes Roger ist und dass die Feluke Der Blitz heißt. Ein an den vier Enden geknüpftes Taschentuch ist das Erkennungszeichen.«

Einen Augenblick nachher kam d’Artagnan ebenfalls.

»Leert Eure Taschen«, sagte er, »bis die Summe von hundert Pfund Sterling voll ist; denn die meinen (d’Artagnan kehrte seine Taschen um) sind ganz leer.«

Die Summe war in der Sekunde beisammen. D’Artagnan ging hinaus und kehrte sogleich wieder zurück.

»Das ist abgemacht«, sagte er, aber es hat Mühe gekostet.«

»Der Henker hat London verlassen?«, fragte Athos.

»Jawohl. Aber es war dies nicht sicher genug; er konnte zu einem Tor hinausgehen und zum andern wieder hereinkommen.«

»Wo ist er jetzt?«, sprach Athos.

»Im Keller.«

»In welchem Keller?«

»Im Keller unseres Wirtes. Mousqueton sitzt auf der Schwelle, und hier ist der Schlüssel.«

»Bravo«, sagte Aramis. »Aber wie habt Ihr ihn vermocht, zu verschwinden?

»Womit man alles in dieser Welt vermag, mit Geld. Es kostete mich viel, aber er willigte ein.«

»Wieviel hat es Euch gekostet, Freund?«, fragte Athos, »denn Ihr begreift nun, da wir nicht mehr ganz arme Musketiere ohne Hab und Gut sind, müssen alle Ausgaben gemeinschaftlich sein.«

»Es hat mich zwölftausend Livres gekostet«, erwiderte d’Artagnan.

»Wo habt Ihr diese gefunden? Besaßet Ihr denn eine solche Summe?«

»Der berühmte Diamant der Königin«, antwortete d’Artagnan mit einem Seufzer.

»Mit dem Henker selbst ist also die Sache gut abgelaufen«, sagte Athos, »leider aber hat jeder Henker seinen Knecht, seinen Gehilfen, was weiß ich?«

»Dieser hatte auch einen; aber das Glück war uns günstig.«

»Wie dies?«

»In dem Augenblick, wo ich glaubte, ich hätte ein zweites Geschäft abzumachen, brachte man den Burschen mit gebrochenem Schenkel zurück. Aus übermäßigem Eifer begleitete er den Wagen, der die Bretter und Balken führte, bis unter die Fenster des Königs. Einer von diesen Balken fiel ihm auf das Bein und zerschmetterte es.« »Ah«, sprach Aramis, »er hat also den Schrei ausgestoßen, den ich im Gemach des Königs vernahm.«

»Das ist wahrscheinlich«, sagte d’Artagnan. »Da er aber ein Mensch von Überlegung ist, so versprach er bei seiner Entfernung, an seiner Stelle vier erfahrene, geschickte Arbeiter zu senden, um die andern zu unterstützen, und als er bei seinem Herrn angelangt war, schrieb er sogleich an Tom Lowe, einen ihm befreundeten Zimmermann, er möge sich zur Erfüllung seines Versprechens nach Whitehall begeben. Hier ist der Brief, den er durch einen Express abschickte, der ihn um zehn Pence besorgen sollte, aber um einen Louis d’or an mich verkaufte.«

»Was, zum Teufel, wollt Ihr mit dem Brief machen?«, fragte Athos.

»Ihr erratet es nicht?«, versetzte d’Artagnan mit glänzenden Augen.

»Bei meiner Seele, nein.«

»Wohl, mein lieber Athos, Ihr, der Englisch spricht wie John Bull, Ihr seid Meister Tom Lowe, und wir sind Eure drei Gesellen. Begreift Ihr es nun?«

Athos stieß einen Schrei der Bewunderung und Freude aus, lief in ein Kabinett und nahm Arbeiterkleider, welche die vier Freunde alsbald anzogen, worauf sie, Athos mit einer Säge, Porthos mit einer Zange, Aramis mit einer Axt und d’Artagnan mit einem Hammer und Nägeln den Gasthof verließen.

Der Brief des Henkerknechtes diente bei dem Zimmermeister zur Beglaubigung, dass sie die Erwarteten seien.