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Marc Hartkamp – Trisha

Trisha

Trisha schreckte aus einem unruhigen Traum zurück in die Realität, blickte sich erschrocken in ihrem Zimmer um und zog sich ängstlich die Bettdecke bis zum Kinn hoch. Sie sah das geöffnete Fenster ihres Zimmers. Ein seichter, warmer Sommerwind wehte in den Raum, bauschte die Vorhänge sanft auf und sog sie abwechselnd leicht durch das Fenster hinaus. Vage Erinnerungen an ihren Traum erfüllten Trishas Gedanken. Da war ihr Vater gewesen. Er winkte sie lächelnd zu sich herüber. Nach dem frühen Tod ihres Vaters war nichts in ihrem Leben so, wie es früher einmal gewesen war. So glücklich und unbeschwert. Sie sehnte sich in diese Zeit zurück. Doch war dort in dem Blick ihres Vaters in ihrem Traum etwas falsch. Seine Augen wirkten starr und böse. Niemals hatte sie sich vor ihrem geliebten Vater fürchten müssen. Sie war seine kleine Prinzessin gewesen und so behandelte er sie auch. Ein wohliges Gefühl durchströmte Trisha, bei dem Gedanke an ihn. Aber sein böser Blick in ihrem Traum …

Sie lag verunsichert wach in ihrem Bett und starrte gedankenversunken zu dem geöffneten Fenster. Wer hatte es eigentlich geöffnet, schoss es in ihren Kopf. Sie schlief niemals bei geöffnetem Fenster. Ihre Unruhe nahm zu. Sie sah sich hektisch im Raum um. Dann nahm sie plötzlich den vagen und dennoch unverkennbaren Geruch von gebrannten Mandeln und Zuckerwatte wahr, der mit dem sanften Wind in ihr Zimmer strömte. Auch glaubte sie plötzlich leise Musik aus der Ferne zu vernehmen, konnte diese Klänge jedoch nicht zuordnen. Vorsichtig richtete sie sich in ihrem Bett auf und starrte auf die wehenden Gardinen. Ihr Traum kam ihr wieder in den Sinn. Ihr Vater winkte sie zu sich heran. Der Traum wurde deutlicher. Vater stand auf einem Jahrmarkt. Hinter ihm blinkten die  bunten Lichter etlicher Karussells auf. Fröhliche Musik erfüllte den Platz.

Die Klänge aus der dunklen Ferne nahmen nun deutlich zu. Trisha erkannte die Musik einer Kirmes und der köstliche Geruch von gerösteten Mandeln lag in der Luft.

Trisha kaute verunsichert und nervös an ihren Lippen herum. Eine Kirmes? Mitten in der Nacht? Vorsichtig streckte sie ihre Beine unter der Bettdecke hervor und schlüpfte in ihre Pantoffeln, die vor ihrem Bett standen. Trisha stand auf und ging unsicher zum Fenster. Der köstliche Geruch nahm zu, wie auch der Klang der Musik. Sie liebte es mit ihrem Vater einmal im Jahr den örtlichen Rummel zu besuchen. Ihr Herz füllte sich wieder mit Glück an diese schönen Erinnerungen. Trisha zog die Vorhänge zur Seite. Und tatsächlich, in der Ferne blinkten und strahlten bunte Lichter in den finsteren Nachthimmel hinauf und zu ihr herüber. Diese lockende und fröhliche Musik überflutete förmlich Trishas Sinne. Unfähig, einen klaren Gedanke zu fassen, stieg sie auf die Fensterbank, durch das Fenster hinaus in die warme Sommernacht und ging, in einem dünnen Nachthemd und Pantoffeln gekleidet, auf die entfernten Lichter zu.

Ihrer körperlichen Bewegungen längst beraubt, glitt das neunjährige Mädchen auf den gewaltigen Torbogen des Rummels zu. Aus dem Toilettenhäuschen nahe am Eingang drangen gedämpft Laute zu ihr heraus. Ein Klanggemisch aus Pein und Freude, das sie nicht so recht zuordnen konnte und sie verwirrte. Im Inneren sehnte sie sich bereits in ihr warmes Bett zurück, doch schien es ihr unmöglich, sich diesem fordernden Drang zu erwehren. Je näher sie dem Jahrmarkt kam, desto träger und unwirklicher tönte die Musik, als spiele man eine Schallplatte mit zu wenigen Umdrehungen ab. Diese lahme Melodie zog an ihren Nerven und sie fühlte sich sehr unwohl. Schließlich stand sie vor dem riesigen Torbogen, auf dem es von Fledermäusen und anderem unsagbarem Getier wimmelte. Als sie hindurchschritt, blickte sie ängstlich nach oben, rechnete jederzeit damit, dass diese Tiere zu ihr herabschießen und sie angreifen würden, sich in ihr langes Haar krallten und unerbittlich zubissen. Aber nichts geschah. Die Tiere nahmen sie kaum zur Kenntnis.

Sie hatte das Tor passiert und bewegte sich in die linke Richtung auf ein schwarzes, seidiges Zelt zu, dessen geöffnete Vorhänge sachte im Wind wehten. Trisha konnte einen Blick in das Zelt werfen und sah eine dunkel gekleidete Frau an einem Tisch sitzen, die sie aus traurigen, trüben Augen anblickte. Trisha kannte diesen leeren Blick bereits aus dem beunruhigenden Traum von ihrem Vater. Die in schwarz gekleidete Frau winkte dem vorbeigehenden Mädchen zu; ihre Bewegungen unwirklich und surreal. Tränen rannen an ihren Wangen herab als sie Trisha nachblickte.

Schließlich passierte sie eine andere Attraktion des Rummels. Ein riesiger, unförmiger Mann stand mit dem Rücken zu ihr, seine Ellenbogen auf eine Ablage gestützt. In seinen mächtigen Händen hielt er ein grotesk großes Gewehr im Anschlag. Abwechselnd ertönten leise Schussgeräusche zu Trisha herüber. Die Schüsse klangen, als schallten sie aus großer Entfernung, obwohl der riesige Kerl keine zwei Meter von ihr entfernt war. Das Mädchen sah sich sie die Szenerie genauer an und zuckte panisch zusammen. Der Kerl schoss auf abgetrennte menschliche Schädel, die auf Metallspitzen gespießt in einer geraden Reihe standen. Sie platzen wie reife Melonen, als die Geschosse in sie eindrangen. Haar, Hirn, Hautfetzen, Blut und Knochensplitter verteilten sich an der kahlen Wand dahinter und rannen gemächlich daran herab. Trisha schrie innerlich laut auf und versuchte sich zurück Richtung Eingang zu bewegen, doch war es ihr unmöglich. Sie schritt gemächlich und leise weinend weiter voran, an der grausigen Schießbude vorbei. Hinter ihr drehte der unförmige Riese seinen Kopf und grinste ihr mit einem grotesk verzerrten Mund und riesigen Zähnen nach.

Trisha zog es direkt auf ein anderes Fahrgeschäft zu, dessen Silhouette sich langsam aus der Dunkelheit verfestigte und sichtbare Formen annahm. Das Mädchen verkrampfte innerlich, als sich, noch in einiger Entfernung, ein Kettenkarussell gemächlich aus der Düsternis formte. Ihr Magen zog sich zusammen bei diesem Anblick. Es sah ihrem Lieblingskarussell aus vergangenen, glücklichen Kindertagen verblüffend ähnlich. Je näher sie ihm kam, desto deutlicher und wahrhaftiger packte Trisha die Erkenntnis. Direkt davor stand ein Mann, hielt eine der Schaukeln an der Kette fest und blickte zu ihr herüber. Ihr Herz begann zu rasen. Es war ihr Vater, der dort vor ihr stand. Ihr Verstand verweigerte sich ihr in diesem Moment einzusehen, dass ihr Vater vor einigen Jahren verstorben war und unmöglich dort vor ihr stehen konnte. Er blickte Trisha aus milchig trüben Augen an und lächelte. Doch hatte dieses  Lächeln nichts Freundliches an sich. Diese Gestalt dort sah ihren Vater im Grunde verblüffend ähnlich, doch schienen seine Gesichtszüge und Körperform der Karikatur eines dem Wahnsinn verfallenen Zeichners entsprungen zu sein.

„P… Papa?“, krächzte Trisha und starrte auf dieses Wesen dort vor ihr.

„Ja, Prinzessin, ich bin es. Sieh nur, ich habe dir deine Lieblingsschaukel freigehalten. Die mit dem roten, samtenen Sitz und den bunten Blumen an den Ketten.“

Seine Stimme klang, als wäre dessen Mund mit etwas Wasser gefüllt. Auch klang sie viel zu weit entfernt und nur sehr leise zu ihr herüber. Dessen Stimme und die verwirrende, nervende Musik um sie herum erzeugten einen Wirbel an Gedanken in ihr. Sie schloss ihre Augen und Fetzen an freudigen Erinnerungen schossen an ihrem inneren Auge vorbei. Da war ihr Vater, der ihr strahlend zuwinkte, als Trisha ihre Runden in dem geliebten Karussellsitz drehte. Doch  nach jeder weiteren Runde an ihrem surreal winkenden Vater vorbei, veränderten sich dessen Gesichtszüge zunehmend und verzerrten schließlich zu einer Fratze mit riesigem Mund und schiefen, dreckigen Zähnen, der nach ihr biss und dem sie nach jeder Drehung bedrohlich näher zu kommen schien.

Als Trisha ihre Augen öffnete und an sich herabblickte, sah sie sich auf dem rot samtenen Polster sitzen. Ihre Hände hielten die Ketten an dem bunte Blumen heraufrankten. Das Kettenkarussell war voll besetzt. Etliche Kinder in ihrem Alter hockten auf den Sitzen und blickten aus milchigen Augen starr geradeaus; ihre Gesichter voller Trauer. Das Karussell begann sich quietschend und knarrend zu bewegen. Die entstellte Gestalt stand etwas abseits, halb in Dunkelheit gehüllt, starrte aus dessen toten Augen und winkte ihnen, nach jeder Drehung, bizarr grinsend zu.

So wird Trisha, wie die anderen, auf ewig ihre Runden drehen, im Karussell der Seelen …