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Stephen King – Fairy Tale

Stephen King
Fairy Tale

Roman, Hardcover mit Schutzumschlag, Heyne Verlag, München, September 2022, 880 Seiten, 28,00 EUR, ISBN: 9783453273993, aus dem Amerikanischen von Bernhard Kleinschmidt

Stephen King, der … Märchenonkel? Nüchtern betrachtet, war das der Gute schon immer; waren die Welten des Mannes von Anfang an Treff- und Sammelpunkte für Fantasie- und Märchengestalten von Rang und Namen, wenngleich bei King meistens deren Diesseits mit dem unsrigen kollidierte. Eine so bewusste wie unverhohlene Aufwartung zum Märchen, wie es King nun mit seinem 63. Roman tut, gab es bislang noch nicht. Fairy Tale also. Wo selbst der Titel Programm ist. Doch warum? Warum jetzt?

Was man King nicht vorwerfen darf, ist die Angst vor Veränderungen; die Furcht, neues Terrain zu betreten. Auffällig besonders in den letzten Jahren, etwa mit der Aufwartung zum Hardboiled-Krimi und den Groschenromanen vergangener Jahrzehnte (Joyland, 2013), der Affinität zum klassischen Thriller (Mr. Mercedes, Finderlohn, Mind Control, 2014-2016) oder dem Versuch als Herausgeber einer thematisch vorgegebenen Anthologie (Flug und Angst, 2019). Insofern mutet da eine Märchengeschichte plötzlich nicht mehr so abwegig respektive irrwitzig an. Oder steckt doch mehr dahinter? Betrachtet man das Wesen der Märchenerzählung, erkennt man neben den mannigfaltigen Symbolismen vor allem das Allegorische; etwa auf Gesellschaftsformen, auf Unterdrückung, auf Ungerechtigkeit. Und wer mit Kings Werken einigermaßen vertraut ist, der weiß eines: Reine Unterhaltungsliteratur sind sie schon längst nicht mehr, dafür zuweilen hochgradig sozial- wie politikkritisch; weißglühende Schüreisen, die in den schwelenden Wundbränden stochern, die Leute wie Donald Trump hinterlassen haben. Oder ist es letzten Endes doch lediglich das Herbeisehnen eines ehrlichen Mannes im Spätherbst des Lebens nach der guten alten Zeit?

Wer King kennt und die Ausmaße des Buches – fast 900 Seiten – richtig assoziiert, der weiß: Hier wird sich Zeit genommen bis zu des Pudels Kern. Und so ist es auch. Aber diese Zeit hat sich der Held des Buches, der 17-jährige Charlie Reade auch redlich verdient; ein junger Mann, der die Unbeschwertheit der Jugend viel zu früh verloren hat: erst durch den schrecklichen Unfalltod seiner Mutter, unmittelbar gefolgt von der Alkoholsucht des Vaters. Kurzum bleibt Charlie gar nichts anderes übrig, als zum Herrn des Hauses zu werden, auch wenn diese Bürde bisweilen schier unüberwindbar anmutet. Gleichwohl treten Charlies beste Wesenszüge hervor und eben diese sind es auch, die Sorge tragen, dass er einen der verschrobenen Einwohner des eigenen Heimatstädtchens, Howard Bowditch, näher kennenlernen darf. Mehr noch, rettet er dem grummeligen alten Knaben sogar das Leben. Doch es bleibt nicht bei einer einzigen Begegnung. Auch aus Empathie, doch insbesondere, weil Charlie davon überzeugt ist, dass er dem Schicksal noch einige Rechnungen schuldet und demzufolge einiges wettmachen muss. Peu à peu, wenngleich mit Startschwierigkeiten, rücken Alt und Jung näher, erkennt Charlie, dass Bowditchs bewusster Eremitenstatus womöglich weniger Charakterzug denn pure Absicht ist. Was hat es denn mit all den gesammelten Zeitungen diverser Jahrzehnte auf sich? Oder mit den sonderbaren Goldkügelchen überall im Haus? Was befindet sich im verrammelten Schuppen drüben im Garten?

Wenig später und unter ebenso dramatischen wie notwendigen Umständen, erfährt Charlie nicht nur Mr. Bowditchs Geheimnis, sondern gelangt in eine andere Welt; in ein märchenhaftes Reich namens Empis. Neben Wunder erwartet ihn dort allerdings – buchstäblich – ein Kampf ums Überleben …

So zu Herzen gehend, so hinreißend und so persönlich besagte Passagen in der unsrigen Welt sind (besonders der Part mit Charlies Vater George, da hier der einstige Alkoholsüchtige King wohl mehr als nur ein bisschen aus dem Nähkästchen redet und man sich durchaus wie ungern ausmalen kann, was dessen Familie einst durchleiden musste), so blutleer mutet eingangs Charlies Erkundung der Märchenwelt an; wird manches einfach viel zu schnell abgehakt, hätten manche Pro- wie Antagonisten ein bisschen mehr Screentime durchaus verdient. Doch King fängt sich wieder. Mehr noch, ist das finale Drittel von Fairy Tale eine Fantasy-Wildwasserfahrt, die gekonnt Elemente der Dystopie, des Gladiatorenkampfs, der Fantasy und des Horrors zu etwas Schmackhaftem verarbeitet, wie es eben nur ein Stephen King vermag, der hier bewusst auf Konventionen pfeift und so ziemlich alles in den Topf schmeißt, was ihm vor die Flinte gerät. Hätte Lovecraft einst den Versuch gewagt, einen Fantasyroman zu verfassen, das Resultat hätte wohl starke Ähnlichkeiten zu Fairy Tale aufgewiesen. Kein Wunder also, das King ihn nicht nur mehrmals erwähnt, sondern auch diverse Lovecraftsche Elemente einsetzt.

Ist Fairy Tale also eher Durchschnitt – oder gar eine Enttäuschung? Weder das eine noch das andere. Allerdings reicht es auch nicht an die Klassiker vom Schlage Es, The Stand oder Der Anschlag. Wobei zu bedenken gilt, das hier nicht von irgendeinem Autor die Rede ist. Spricht man von Stephen King, gelten andere Regeln und Vorgaben. Nach wie vor spielt der Mann in seiner eigenen Liga. Punkt. Ihn mit anderen Autoren zu vergleichen ist nahezu ausgeschlossen. Ergo? Zelebriert King sein 75. Lebensjahr mit einem erwachsenen, modernen Märchen, das dennoch niemals die Ursprünge ignoriert; einer Erzählung, die trotz einzelner Schwächen vollgepackt ist mit Wundern, Sehnsüchten und Melancholie. Und dafür sollte man mehr als dankbar sein.

(tsch)