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Der Welt-Detektiv Band 6

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Carrier, der Erzteufel – Teil 12

Carrier, der Erzteufel, in eine Menschenhaut eingenäht, der in wenigen Monaten in der französischen Stadt Nantes mehr als fünfzehntausend Menschen von jedem Alter und Geschlecht erwürgen, ersäufen, erschießen, martern und guillotinieren ließ, ein blutdürstiges Ungeheuer und höllischer Mordbrenner
Zur Warnung vor blutigen Revolutionen
Von Dr. F. W. Pikant (Friedrich Wilhelm Bruckbräu)
Verlag der J. Lutzenbergerschen Buchhandlung, Altötting, 1860

Das Grabmal

Im Inneren der zerstörten Seitenkapelle der ehemaligen Klosterkirche erhob sich links ein kleines Grab­mal mit verwitterter Inschrift auf einem niedrigen Sockel, vier Fuß hoch. Oben in der Mitte stand ein Totenkopf auf zwei gekreuzten Knochen, rechts, mehr im Vordergrund, ein eisernes Tor, im Hin­tergrund ein spitzbogenförmiges Schlupftorlein, bei dessen Aufschließen man Riegel klirren und Ketten rasseln hörte. Eugenie, Vernet und ein Kerker­knecht traten ein.

»Vorwärts, barmherzige Schwester«, sagte, Vernet mit verstellter Rauheit zu Eugenie, »du wirst genug zu tun bekommen, und die Zeit ist kostbar!« Dann zu dem Kerkerknecht: »Sperr hinter dir zu und warte, bis ich dich rufe, wenn ich zurückkehre!«

»Wo ist mein Vater?«, fragte Eugenie.

»Still! Wir dürfen keinen Augenblick zögern. Sieh dieses Grabmal! In einer finsteren Nacht belauschte ich Sarot, als er hier heimlich einen Bo­ten auf unterirdischem Weg aus der Stadt sendete. Ich will sehen, ob es sich wieder so machen lässt.«

Er fasste den Totenkopf mit beiden Händen und drehte ihn gegen seine linke Hand ganz um. Man hörte eine Feder knarren und die Vorderseite des Grabmales öffnete sich wie ein Türflügel.

»Mit deinem Vater steige diese Treppe hinunter«, sagte Vernet, »die durch einen langen schmalen Gang vor die Stadt hinaus in einen Wald in der Nähe einer Fischerhütte an der Loire führt. Dort ange­kommen, ruf laut den Namen Thouvin!« Er wird mit dem Namen Vernet antworten. Thouvin ist mein treuer Freund, ein Fischer, mit dem ich deine und deines Vaters Flucht verabredete, im Falle euch das Schicksal in diesen Kerker führen sollte. Er wird euch dann die Loire stromabwärts zu den Vorposten der Vendeer bringen.«

Nach einer schnellen, zärtlichen Umarmung schloss Vernet das eiserne Tor der Niederlage des Gefängnisses auf, durch welches Eugenie eintrat, sperrte es wieder zu und steckte den Schlüssel in seine Tasche.

Über das Bedenkliche der Lage nachsinnend, stand Vernet da, als er plötzlich draußen Sarot dem Kerkerknecht zurufen hörte: »Holla, Bursche!«

Vernet zog rasch den Schlüssel aus seiner Tasche und steckte ihn wieder in das Schloss des eisernen Tores.

»Da bringe ich dir zwei Soldaten«, sagte Sarot zu dem Kerkerknecht, »die dir Gesellschaft leisten sollen. Ist Vernet hinein, wie ich dir sagte?«

»Ja.«

»Schon lange?«

»Seit einer Viertelstunde.«

»Allein?«

»Nein, mit der barmherzigen Schwester.«

»Sind beide noch nicht zurückgekommen?«

»Nein.«

»Das ist langweilig. Ich will doch nachsehen.«

Vernet hörte einen Bund Schlüssel klirren.

»Jetzt ist alles aus!«, murmelte er. »Zur Flucht ist nicht mehr Zeit, und wenn Sarot das eiserne Tor da öffnet, so rennen die beiden Unglücklichen ihm in die Hände!« »Teufel!«, fluchte Sarot draußen, »ich habe ein dringendes Schreiben an den Präsiderten Fouquet auf meinem Tisch liegen gelassen, das ich sofort noch übergeben muss, bevor ich an etwas anderes denken darf. Da drinnen wird ohnehin alles in Ordnung sein. Auf Vernet kann ich mich verlassen. Ich eile in meine Stube hinauf, werde aber gleich wieder zurückkommen.«

»Gott sei Dank«, rief Vernet aus, »die drin­gendste Gefahr ist vorüber!«

Er öffnete das eiserne Tor und trat hinein. Nach einer kurzen Pause ging es wieder ein wenig auf. Euge­nie und ihr Vater, der Vicomte Margot schlichen heraus. Ihnen folgte unbemerkt eine Frau. Eugenie drehte den Totenkopf um. Das Grabmal öffnete sich.

»Mir nach, lieber Vater«, sagte sie, »schnell, schnell!« Die Frau erblickend, fügte sie bei: »O Himmel, wir sind verraten!«

»Gewiss nicht«, erwiderte die Frau, »ich bin eine unglückliche Witwe namens Armaran, die Mutter eines einzigen Sohnes. Ich hörte Sie mit diesem Mann, den Sie Vater nannten, von Flucht spre­chen und folgte Ihnen. Bei Gott beschwöre ich Sie, retten Sie mich, lassen Sie mich mit Ihnen fliehen!«

Sie sank Eugenie zu Füßen, die sie freundlich aufrichtete und mit einem andächtigen Blick zum Himmel ausrief: »Selig sind die Barmherzigen! Kommen Sie, arme Frau, wenn Sie unser Schicksal teilen wollen!«

Sie stiegen über die geheime Treppe des Grab­males hinunter.

Vernet trat aus der eisernen Tür, die er zu­sperrte, und schaute rasch zum Grabmal. »Sie sind fort! Wenn sie nur auch schon geret­tet wären!« Durch Umdrehen des Totenkopfes schloss er das Grabmal.

»Nun ins Magazin, um die Namen zu verlesen!«

In diesem Augenblick hörte man den General­marsch schlagen.

»Was soll der Generalmarsch bedeuten? Und Ka­nonendonner?«

Pause.

»Ah, richtig! Carrier wird sich der Stadt nähern. Dieses blutdürstige Ungeheuer soll festlich empfan­gen werden. Der schwere Gang in das Magazin ist mir also erspart.«

Er trat zum Schlupfpförtlein und rief: »Aufgemacht!«

»Wer ruft?«, fragte der Kerkerknecht von außen.

»Sergeant Vernet!«

Vernet ging durch das geöffnete Schlupfpförtlein hinaus.

»Wo ist die barmherzige Schwester, die mit Euch kam?«

»Im Magazin. Schließ zu!« Vernet entfernte sich.

Fünf Minuten später schloss Sarot das Schlupf­pförtlein auf. Er war mit einer Muskete bewaffnet und trug einen Säbel an der Seite. Mit ihm kam Lamberty.

»Es ist so, wie ich sagte, Sarot«, sprach Lam­berty, »mit meinen eigenen Ohren habe ich es gehört, dass Vernet der barmherzigen Schwester schwor, sie und ihren Vater zu retten. Er und Eugenie, wie er sie nannte, lieben sich. Sie lag an seiner Brust.« Lachend erwiderte Sarot: »Diese Liebe müsste schnell entstanden sein, denn Vernet hat das Mädchen heute zum ersten Mal gese­hen. Ich glaube, was du gehört und gesehen zu haben behauptest, Bürger Lamberty, aber ich lege auf Liebesschwüre kein Gewicht. Vernet sollte ein Kaufmann werden«, fügte Sarot wieder lachend bei, »denn wie ich soeben von dir höre, hat er eine große Anlage zum Spekulieren.«

»Lach nur, Sarot, lach nur«, versetzte Lamberty, »du kannst dich um deinen Kopf lachen, wenn Vernet Wort hält. Doch es sind schon Vorkehrungen getroffen und verstärkte Patrouillen nach allen Rich­tungen entsendet worden.«

»Sehr gut!«, sagte Sarot. »Während die Pa­trouillen spazieren gehen, sitzt der Alte mit seiner Toch­ter dort im Magazin. Du kannst beide am Haupt­tor desselben in Empfang nehmen, dessen Bewachung ebenfalls den Soldaten übertragen ist. Durch den Eingang hier entflieht niemand. Du hast meine stren­gen Befehle selbst gehört.«

»Ja. Ich will jetzt die Gefangenen an die Loire abführen lassen«, sagte Lamberty, »denn der große Republikaner, Bürger Carrier, ist bereits in der Nähe. Da wird es sich zeigen, ob Eugenie und ihr Vater noch unter ihnen sind.«

Er ging fort. Sarot schaute ihm kopfschüttelnd nach. »Der verdammte Spürhund Lamberty macht mir wirklich ein wenig Bange«, sagte Sarot. »Wenn es Vernet doch Ernst gewesen wäre mit seinen Liebesschwüren? Möglich! Er ist ein überspannter Kopf. Also Eugenie heißt sie? Nun wird mir alles klar. Diese Eugenie war es, welche Vernet meinte, nicht seine Mutter! Allein der alte Margot muss noch im Magazin sein, wenn er nicht verschwunden ist! Alle Wetter! Der geheime Gang! Pah! Niemand kennt ihn, als ich, und jener Bote, der so pfiffig war, nicht mehr zu kommen.«

Er schloss die Magazintür auf, schaute hinein und schloss sie bald darauf wieder zu. »Ich sehe weder Margot noch Eugenie. Ohne Zweifel sind sie entflohen, und zwar durch das Grab­mal, welches Vernet hinter ihnen geschlossen haben muss. Unsinniger Streich! Sie können nicht ent­rinnen. Zu meiner eigenen Rettung bleibt mir kein anderes Mittel, als ihnen auf dem nämlichen Wege nachzueilen und durch ihre Verhaftung anderen zuvor­zukommen. Ich liebe Vernet wie meinen Sohn. Vielleicht gelingt mir dann noch ein anderer Versuch, Eugenie für Vernet zu retten, und ihren Vater, und dann werde ich mit ihnen ziehen, da ich mit einem guten Werk mein trauriges Amt eines Kerker­meisters beschließen möchte.«

Nach diesen Worten folgte er den Flüchtlingen auf dem nämlichen Weg, den sie kurz zuvor zu ihrer vermeintlichen Rettung betreten hatten, ohne eine Ahn­ung von dem nahen Scheitern ihrer letzten Hoffnung zu haben.