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Der Vampir – Kola Petrovic

Hans Wachenhusen
Der Vampir
Eine Novelle aus Bulgarien, 1878

Kola Petrovic

In Jowan hatte die Angst vor einem nächtlichen Überfall allmählich einem ruhigeren Bewusstsein Raum gegeben, als endlich der Nachthimmel leise im Osten sich zu klären begann.

Er hatte die Nacht hart hindurchgearbeitet. Seine Papiere, seine Bücher lagen geordnet; es hätte die feindseligste Absicht nichts Strafbares selbst in den Briefen finden können, die ihm durch geheime Boten vom jenseitigen Ufer auf weitem Umweg zugegangen waren. Es war eine Korrespondenz mit Feindesland, aber es hatte sich in derselben immer nur um Abwicklung der Geschäfte gehandelt, die er im Vertrauen auf Erhaltung des Friedens unternommen hatte.

Der Mudessarif freilich konnte ihm, wie gesagt, einen Strick daraus drehen, wenn er ihm an den Hals wollte, und darüber durfte er kaum im Zweifel sein. Er vertraute indessen auf den Schutz des Bischofs. Der Pope, zu dem er noch in der Nacht gesandt hatte, musste am frühen Morgen kommen.

Inzwischen trug er selbst, von Marinka unterstützt, eine Anzahl Säckchen mit österreichischen Dukaten und türkischen Irmeliks in das Versteck in den Kellerräumen, die schwer von Nichteingeweihten zu entdecken waren. Erst als all das in Ordnung war, schritt er, von dem Mädchen gefolgt, die Leuchte in der Hand, in die Lagerräume, in welchen er seine Maisvorräte aufstapelte und von denen ein geheimer Gang in das etwa zweihundert Schritte hinter seinem Gehöft befindliche Gestrüpp führte, das über den dort im Kreis aufgehäuften rohen Felssteinen wucherte.

Der Tag brach an, die ersten Sonnenstrahlen glühten auf den Felszacken über dem Tal. Im Zigeunerlager wurde es lebendig. Die halb zerlumpten, wilden Gesichter verließen ihre Zelte, die mageren, verhungerten Esel wurden von ihren Pflöcken losgekoppelt, ein Rauchwirbel stieg inmitten der Zelte aus dem während der Nacht kaum erkalteten Feuerplatz.

Marinka saß in demselben groben Hemd auf dem Divan und schaute angstvoller, je weiter die Sonne heraufstieg, durch das Holzgitter des Fensters. Die Arbeit der Nacht hatte sie ermüdet; die Kühle des Morgens durchfröstelte sie. Oft sanken die Wimpern über die dunklen Augen, aber die Furcht scheuchte sie stets wieder auf. Jedes leiseste Geräusch draußen machte sie zittern. Sie hüllte sich in den Shawl, sie zog die nackten Füße an sich; ihr Kinn fiel zuweilen auf die Brust. Ein eisiger Schauder durchbebte sie, wenn sie an Selwas Schicksal, an sich selbst dachte und an das, was auch ihr der Tag bringen konnte.

Beim ersten Zeichen der Gefahr sollte sie durch die Hinterpforte des Gehöftes fliehen und sich in den Zigeunerzelten verstecken, wo man sie kaum suchen werde.

Sie vernahm die schleppenden, schleichenden Tritte Markos, der eben erst seinen Posten im Tschardack verlassen hatte.

»Der Adjunkt des Popen kommt eben aus der Stadt«, meldete er mit sorgenschwerer Miene.

Marinka schaute aus dem Hindämmern der Übermüdung auf. Sie erschrak vor der Stimme des alten Dieners. Sie wand züchtig den großen Shawl enger um den Hals, um den Leib.

»Führe ihn zum Vater!«, antwortete sie, die Füße an sich ziehend und sich in der Ecke des Divans zusammenkauernd.

Marko ging. Sie vernahm im Nebenzimmer die Stimme des Vaters, der sich vor wenigen Minuten erst drüben ermattet auf den Divan gestreckt hatte, um sich von Aufregung und Arbeit zu erholen.

Sie hörte die große Pforte des Hauses öffnen, dann vernahm sie die ihr bekannte Stimme des jungen Geistlichen und wieder durchrieselte es sie wie ein Schauer. »Steh auf, Marinka! Du brauchst vor dem heiligen Mann dich in dieser Kleidung nicht zu scheuen!«, rief Jowan, in der offenen Tür des Zimmers erscheinend. »Du weißt, er kommt zu unserem Schutz!«

Marinka tat, als höre sie nicht. Ihre Augen, düsterer noch durch den Rand von Kohol, mit dem sie dasselbe zigeunerhaft umfärbt hatte, schaute starr vor sich hin.

»Marko meldet mir eben auch, es seien drei Reiter am Eingang des Tals erschienen, die auf unser Haus zukommen. Aber es sollen fränkische Männer sein, die er gestern Abend zu unserer Sicherheit aufgeboten hatte. Sie dürfen dich nicht sehen, Marinka!«

Das Mädchen sprang auf. Den Shawl auf dem Divan zurücklassend, stand sie in dem grauen, nur bis zum Knie reichenden Zigeunerhemd da, die Hände über die Brust legend, um diese zu schützen, denn das Tageslicht drang durch das Holzgitter der geschlossenen Fenster. Sie schämte sich vor sich selbst der Nacktheit, in der sie doch täglich die Zigeunerdirnen so vorurteilsfrei beobachtet hatte. Was ihr die Angst geboten, machte ihr die jungfräuliche Scham nun zum Vorwurf. Ihr Haar umwallte in wüster Unordnung Nacken und Antlitz, ihre Füße steckten noch bis halb zum Knie in Lumpen, die, von rohem Kamelgarn gehalten, sich um die jugendlich schönen Glieder schmiegten.

Sie errötete bei dem Gedanken, im Sonnenlicht so vor dem Vater dazustehen, obwohl sie unbefangen demselben in dieser Bekleidung die ganze Nacht hindurch zur Seite gewesen war.

Eine schlanke schwarze Gestalt in langer Soutane, den schwarzen Popenhut über dem auf die Schulter lang und glatt herabfallenden Haar, einen langen Stock in der Hand, war eben neben dem Vater auf der Schwelle erschienen – ein junger Mann mit schmalem, magerem Gesicht, bartlos, mit tiefliegenden, langgeschlitzten, unheimlich blickenden Augen, einer Adlernase und sinnlich geformten Mund.

Marinka fuhr zurück, als sie seiner ansichtig wurden.

»Ich danke Euch, Petrovic, dass Ihr in unserer Not uns nicht verlasst!«, empfing ihn Jowan, seine Hand ergreifend und herzlich drückend.

Der Adjunkt vergaß die Antwort. Sein Blick haftete mit Erstaunen und Bewunderung auf der seltsamen Mädchengestalt, in der er Marinka nicht sogleich erkannte, da sie, beide Hände über der Brust gekreuzt, beschämt zu Boden schaute und das Antlitz unter dem dunklen Haar zu verbergen versuchte.

»Marinka, was bedeutet das?«

Damit trat er vertraulich zu dem Mädchen, diesem die Hand auf die nackte Schulter legend und sie auf derselben ruhen lassend.

Marinka schaute nicht auf; sie antwortete nicht. Es schüttelte sie frostig bei dieser Berührung.

»Ihr wisst, Petrovic, was uns geschehen ist, was uns bevorsteht!«

Jowan trat heran, um den jungen Mann von dem Mädchen zu entfernen, und erfasste seinen Arm.

Der Adjunkt erwachte aus dem Anschauen Marinkas, das ihn vielleicht unwillkürlich seine Mission hatte vergessen lassen.

»Marinka soll mir folgen, so ist es der Wunsch des Popen«, sagte Petrovic mit harter, scharfer Stimme. »Sie wird in unserem Schutz am sichersten sein. Niemand wird es wagen, die Hand an sie zu legen, trotz all der Unbill, die man uns anzutun gewohnt ist.«

Er bemächtigte sich ihres Armes, indem er ihr die Hand von ihrer Brust zog und diese fest in die seine nahm.

»Nicht wahr, Marinka, du gehst mit mir! Der Bischof ist bereits unterrichtet; der Bote ist schon mit Tagesanbruch an ihn abgesandt. Sobald die Gefahr vorüber ist …«

Aus Marinkas vor Scham hochgefärbten Wangen war das Blut wieder gewichen. Fahl und tot lag die künstliche Farbe auf denselben. Sie schüttelte, vor sich blickend, das Haupt.

»Ich bleibe bei dem Vater; ich verlasse ihn nicht in der Not!«, antwortete sie mit bebenden Lippen, den jungen Geistlichen von sich wehrend.

»Auch dein Vater, so ist es meines Vorgesetzten Wunsch, soll sich in das Haus des Bischofs flüchten. Nur dort wird er sicher vor neuem Überfall sein. Unser Arm ist nicht lang genug, um ihn hier in seinem Eigentum zu schützen.«

Petrovic hatte während seiner Rede den Arm um des Mädchens Leib gelegt, als solle sie Schutz in demselben finden. Sie trat zurück und versuchte sich gewaltsam daraus zu lösen.

»Marinka, folge dem Rat unseres frommen Freundes! Du wirst besser in seinem Schutz aufgehoben sein als in den Tschaters«, mahnte Jowan.

Ein Lärm von Pferdehufen und lauten Stimmen unten an der Tür ließ ihn in seiner Rede zusammenfahren. Erschreckt wollte er zum Fenster eilen, als Marko wieder eintrat.

»Gospodin, es sind die fränkischen Reiter; sie begehren Einlass und suchen Quartier bei Euch!«

Jowan trat an das Fenstergitter und schaute hinab. Der Adjunkt hatte sich Marinkas beider Hände bemächtigt, er umklammerte diese mit Heftigkeit. Er sprach ihr leise, eindringlich ermahnend, leidenschaftlich zu und sie, das Antlitz abgewendet, ihn von sich weisend, versagte ihm jede Antwort.

Sie hörte kaum auf seine Worte; sie lauschte nur dem Lärm der Stimmen, lauter, heiterer und kräftiger Männerstimmen, dem Gewieher der Pferde und dem Stampfen der Hufe.

Sie wollte fort in ihrer Angst, von fremden Männern gesehen zu werden. Petrovic umklammerte, ihr zuredend, nur fester ihre Hände. Ihre Wangen glühten wieder auf, denn sein Atem berührte dieselben heiß. Sie wand sich unter seiner Umklammerung, während er sie immer drängender zur Folgsamkeit ermahnte.

Nun hatte Jowan, ermutigt durch die Anwesenheit christlicher Fremden, die Fenstergitter weit geöffnet und das volle Tageslicht fiel in das Zimmer auf die beiden. Marinka stieß einen Schreckenslaut aus und barg das Antlitz unter dem dichten Haar.

Sporenklirrende Tritte hallten auf den hohlen Dielen des oberen Flurs. Viktor Berzek, gefolgt von dem alten Marko, in lebhaftem Gespräch mit diesem, trat auf die Schwelle und blieb überrascht auf derselben stehen.

Petrovic war von dem Mädchen zurückgetreten. Sein Blick fiel erst erschreckend, dann feindselig auf den jungen Mann, der in seinem Reiterkostüm, die Pistolen im Gürtel, das Stilett an der Seite, die türkische Reitpeitsche in der Hand, mit freudiger Überraschung, übermütig lächelnd, auf das Mädchen blickte, dann den frommen Mann stutzend, befremdet, aber fest und sicher ins Auge fasste.

»Marko, du siehst, ich habe Hilfstruppen mitgebracht und mir scheint, wir sind noch zur rechten Seit gekommen!«, rief Viktor, sich zu dem Zigeuner zurückwendend. »In wenigen Minuten werden vermutlich des Mudessarifs Kawassen hier sein, denen wir auf dem Weg begegneten. Schließ die Haustür, verrammle alle Eingänge, wir werden mit ihnen von hier oben, vom Tschardack, parlamentieren und ihnen zu wissen tun, dass, solange wir hier im Haus sind, dasselbe unantastbar ist, denn der Eigentümer dieses Hauses steht unter dem Schutz der Ordonnanzoffiziere des englischen Vorpostenkommandeurs … Bassama! … Ein prächtiges Zigeunermädel, Marko! Vermutlich dein Kind?«, setzte er, sich das Bärtchen streichend und Marinka betrachtend, hinzu, die schüchtern und angstvoll sich in die Ecke gerettet hatte und ihm den Rücken zuwandte. »Und der schwarze Herr da?«, fragte er, auf Petrovic deutend, mit herausfordernder Miene.

Jowan trat nun zu ihm und bot ihm in schlechtem Ungarisch den Willkommengruß. »Herr Jowan vermutlich?«, fragte Viktor, ihm lachend die Hand reichend. »Sorgt für einen Imbiss, Gospodin, und macht Euch vorläufig keine Sorgen wegen Eurer Fehde mit dem Pascha. Unten sind vier entschlossene Kameraden; habt Ihr Euch nichts vorzuwerfen, soll Euch kein Haar gekrümmt werden. Der Mudessarif hat seine Sache sehr dumm mit einem Mädchenraub angefangen. Die christlichen Truppen liegen seit gestern Morgen wenige Stunden von hier unter General Brown, um den Pass zu decken. Will der Pascha von Euch was, so mag er Euch in aller Form den Prozess machen und Ihr mögt Euch Eurer Haut wehren. So habe ich es gestern Abend mit meinem alten Freund hier abgemacht, dem Ihr unsere Dazwischenkunft verdankt. Meine Freunde bitten mit mir um Eure Gastfreundschaft. Bassama! Es müsste mit dem Teufel zugehen, sollten wir, solange wir im Land sind, die alte Paschawirtschaft mit ansehen!«

Jowans Antlitz strahlte in Hoffnungsfreude; seine breite Brust atmete auf. Er nahm Berzeks Hand und wollte sie küssen. Dieser entzog sie ihm. Inzwischen hatte Jowan dem alten Marko einen Wink gegeben, das Mädchen fortzuführen, und deckte in väterlicher Besorgnis mit seiner Riesengestalt die Flucht Marinkas.

Petrovic stand mit verbissener Miene inmitten des Zimmers. Er schaute dem Mädchen nach.

»Schaff mir den Pfaffen aus den Augen! Ich erkenne den Schurken und möchte ihm raten, mir aus dem Weg zu bleiben!«, flüsterte Viktor dem alten Zigeuner zu, indem er, Jowan nachtretend, auf den Flur schritt, um zu seinen Kameraden hinabzugehen, die sich bereits in den unteren Räumen einquartiert und Jowans Knechten ihre Pferde übergeben hatten, jungen französischen und englischen Ingenieuroffizieren, mit denen Viktor schon in Konstantinopel verkehrt und deren Aufgabe es war, die Pässe des Balkans zu besichtigen.

Die türkischen Behörden hatten damals von Stambul aus die Order erhalten, diesen Männern in jeder Beziehung entgegenzukommen, sie als die Verbündeten der Pforte zu betrachten und jeder Möglichkeit eines Unfriedens zwischen ihnen und den Gläubigen vorzubeugen.

Als Viktor Berzek die unteren Räume betrat, hatten auch die von ihm gemeldeten Kawassen des Paschas bereits den Platz vor dem Hause erreicht. Einer von ihnen setzte den Türhammer in Bewegung.

»Ah, unsere Freunde!«, rief Berzek, ans Fenster springend.

Die Kawassen, in ihm den Gast des Mudessarif erkennend, grüßten ihn überrascht. Viktor beantwortete den Gruß mit gleicher Freundlichkeit. Er lud den sie führenden On-Baschi ins Haus, brachte ihn zu seinen Kameraden, ihm erklärend, dass, so lange sie von dem Haus Besitz genommen hätten, der Pascha dasselbe zu respektieren habe. Wenn aber Gospodin Jowan sich etwas habe zu Schulden kommen lassen habe, so möge man ihm den Kadi auf den Hals schicken. Im Übrigen sei der Pascha in aller Freundschaft aufgefordert, erst das Christenmädchen unversehrt herauszugeben, das er gestern Abend aus diesem Haus habe stehlen lassen.

»Pek-i!«, antwortete der On-Baschi gutmütig und die Hand ausstreckend, um das Bakschisch, das Trinkgeld, zu nehmen.

Da er sah, dass gegen die Giaur-Offiziere nichts auszurichten sei, auch meinend, dass der Mudir schon wissen werde, was er zu tun habe, warf er phlegmatisch draußen seine Beine wieder über den Sattel und ritt mit seinen Leuten davon.

Petrovic stand allein am oberen Fenster und sah der abreitenden Kavalkade zu.

»Das Mädchen muss dennoch aus dem Haus hier – jetzt dringender als vorher!«, murmelte er. »Jowan ist ein Narr! Er glaubt sich so sicher unter dem Schutz dieser Fremden. Sobald sie ihm den Rücken wenden, ist er umso unrettbarer verloren, denn der Mudir vergisst nichts! An der Zigeunerdirne, die man ihm in die Hand gespielt hatte, ist nichts verloren. Er wird aber die Täuschung entdecken und Rache suchen. Will Jowan, dem Übermut dieses Fremden trauend, ins Unglück rennen, anstatt des Mudirs Gnade zu suchen, wohlan, so soll das Mädchen ihm doch nicht anheimfallen! Ich will zur Stadt und dem Popen berichten.«