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Der Detektiv – Band 23 – Die Rätselbrücke – Teil 5

Walter Kabel
Der Detektiv
Band 23
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Die Rätselbrücke

Teil 5

Dass Okirupu unter den Sulus eine Persönlichkeit von Bedeutung war, verriet schon sein Heim. Es bestand aus drei großen Steinhütten, die durch einen Zaun von Dornenflechtwerk umgeben waren. Uns beiden wurde die leere Hälfte einer als Scheune dienenden Hütte angewiesen. Im Nu schleppten zwei Frauen für uns Matten, weichgegerbte Antilopenfelle als Decken und anderes herbei, um den Raum wohnlich herzurichten. Harst tat sehr müde, drückte Morrisson zum Gutenachtgruß wieder die Hand und lehnte eine Mahlzeit ab; er sei dem Umsinken nahe, erklärte er.

In unserem Verschlag brannten zwei durch Pflanzenöl gespeiste, primitive Lampen. Harst richtete mir ein Lager her, sagte sehr laut, ich solle nun einzuschlafen versuchen, gähnte wiederholt und streckte sich gleichfalls auf seine Matten aus, nachdem er die beiden Lampen ausgelöscht hatte. Unsere Lagerstätten befanden sich an der aus Flechtwerk bestehenden Innenwand, und zwar dicht nebeneinander. Harsts so stark hervorgekehrte Müdigkeit sagte mir, dass er es hierbei lediglich darauf abgesehen hätte, bei Morrisson den Glauben zu erwecken, wir würden nun wie die Toten schlafen. Da ich bis hierher getragen worden war, fühlte ich mich vollkommen frisch. Es machte mir nicht die geringste Mühe, mich munter zu halten. Nach einer Stunde hörte Harst mit dem unmelodischen Schnarchkonzert allmählich auf und raunte mir in längeren Pausen folgendes zu: »Ich bin jetzt anderer Meinung geworden. Johannes Knork dürfte noch am Leben sein. Ich habe in dem hohlen Brückenpfeiler auch hierfür sichere Beweise gefunden. Die Hauptsache ist, dass Morrisson in keiner Weise gegen uns Verdacht schöpft, wir könnten etwa wissen, wer er ist, das heißt, Palperlons Verbündeter. Sei also in allem überaus vorsichtig. Ich werde jetzt mal versuchen, die Hütte zu verlassen und mich auf dem Hof umzusehen. Bitte, beginne du nun deinerseits ein Schnarchkonzert, das sich nach zwei Schläfern anhört.«

Ich wollte Harst warnen. Mir erschien dieser nächtliche Rekognoszierungsgang reichlich gewagt. Aber Harst hatte sein Lager bereits verlassen, als ich die Hand ausstreckte, um ihn zurückzuhalten. Eine Ewigkeit dauerte es, bis er endlich wieder neben mir war.

»Die Schufte sind verdammt schlau«, flüsterte er. »Ich bin nur bis an die Flechttür unserer Hütte gelangt. Denk dir: Im Hof streichen ein paar Leoparden umher, entweder zwei oder drei. Wir können nicht heraus! Eine unangenehme Lage! Ich hätte so sehr gern die andere Hütte durchsucht, die gleichfalls als Scheune dient. Na – abwarten! Wenn nicht heute, dann vielleicht morgen! Gute Nacht, mein Alter. Schlafe ohne Sorge ein. Man wird uns kein Haar hier krümmen. Erst wenn der Mohr seine Schuldigkeit getan hat, kann er gehen – oder besser, wird er beseitigt werden! Die Halunken sind mit uns fraglos auf Umwegen hierher marschiert, damit niemand ahnt, dass Okirupu zwei Weiße bei sich beherbergt hat. So, nun aber endgültig gute Nacht.«

Ich bedauere, dass ich hier nicht eingehender schildern kann, wie uns dann der folgende Tag verstrich. Ich würde viele Seiten dazu brauchen. Der Haushalt Okirupus enthielt ja für den Europäer genug Merkwürdiges. Der oberste Fetischpriester der Sulus besaß sechs Frauen. Diese machten sämtlich einen recht verschüchterten Eindruck. Sie schienen vor ihrem Herrn und Gebieter eine furchtbare Angst zu haben. Morrisson spielte weiter den liebenswürdig besorgten und wohlmeinenden Retter. Im Übrigen geschah bis zum Abend nichts, das für unsere Angelegenheit beachtenswert gewesen wäre. Erst bei der gemeinsamen Mahlzeit in unserer Hütte, an der auch Morrisson und Okirupu teilnahmen, kam Morrisson etwas unvermittelt auf die religiösen Gebräuche der Eingeborenen zu sprechen, besonders auf den Vidu-Kult und den Souquiant, die Schlange mit dem Menschenkopf.

»Master Harst, dürfte es nicht für Sie recht interessant sein, einem der nächtlichen Fetischfeste beizuwohnen?«, meinte er dann. »Bekanntlich halten die Neger gerade den Vidu-Kult außerordentlich geheim. Okirupu hat sich nun auf meine Bitte hin bereit erklärt, Ihnen zu gestatten, das in dieser Nacht stattfindende Fetischfest als Zuschauer mitzumachen, wenn Sie versprechen, das Ihnen hierzu angewiesene Versteck nicht zu verlassen.«

Harst meinte ganz begeistert, dies Versprechen gebe er sehr gern ab. Nur bäte er, auch mich mitzunehmen.

Morrisson verhandelte mit Okirupu im Sulukauderwelsch und sagte dann, der oberste Fetischpriester würde mich an Ort und Stelle tragen lassen.

Gegen zehn Uhr, bevor der Mond aufging, bezogen Harst, Morrisson und ich dann unsere Tribünenplätze. Diese lagen auf der Höhe eines einzelnen Felsens rechts der Fetischhütte am Rande des heiligen Waldes, in dessen Mitte Okirupu hauste. Um 11 ging der Mond auf. In Kurzem füllte sich nun der Platz vor der Fetischhütte mit mehreren hundert Negern. Morrisson, der neben uns im Gras des oben stark verwitterten Felsens sich hingestreckt hatte, gab die nötigen Erklärungen ab. Vor der Fetischhütte war ein Balken in die Erde eingegraben, der oben einen kurzen Querbalken hatte. Um dies geköpfte Kreuz herum brannten drei riesige Harzfackeln. Okirupu und drei andere Fetischpriester, gehüllt in bunte Fellmäntel und mit scheußlichen Rindenmasken vor den Gesichtern, tanzten zunächst eine Weile um den Balken herum, wobei sie sich ähnlich wie die tanzenden Derwische bewegten. Dann warfen sie sich plötzlich lang auf den Boden. In demselben Moment erblickte ich an den Balken des geköpften Kreuzes eine riesige Schlange, die mit dem hin und her pendelnden Kopf nach unten hing. Wenige Sekunden später erhob sich einer der Fetischpriester, ergriff einen Dolch und stieß ihn sich durch den linken Unterarm.

Morrisson flüsterte uns zu. »Sehen Sie – die Schlange hängt frei in der Luft!«

Ich schaute hin. Der Balken war verschwunden. Aber die Schlange hatte noch genau dieselbe Stellung inne wie vorhin, schwebte also scheinbar frei in der Luft. Ich gebe zu, dass dies auf mich mehr Eindruck machte als alles, was ich bisher an derartigen Vorführungen gesehen hatte. Näher kann ich hier auf das Vidu-Fest nicht eingehen. Es folgten für jeden Europäer abstoßende Abschlachtungen von Hühnern, Affen und Ziegen, wobei stets der Souquiant eine gewisse Rolle spielte; dann schloss sich ein Gelage an, bei dem die Neger sich bis zur Bewusstlosigkeit volltranken. Um drei Uhr morgens waren wir wieder in unserer Hütte. Morrisson schwärmte von den geheimnisvollen Fähigkeiten der Fetischpriester. Er hatte sich auf eine Matte gesetzt und holte nun aus der Tasche ein quadratisches Stück Papier hervor, erklärte dabei sehr geheimnisvoll: »Master Harst, würden Sie mir einen Gefallen tun? Sie sind doch Detektiv und dürften auch hiervon etwas verstehen. Diese merkwürdige Zeichnung hat mir Okirupu geschenkt. Der, der sie enträtselt, soll in den Besitz großer Reichtümer gelangen. Ich vermag aus der Skizze nicht klug zu werden. Würden Sie sich die Zeichnung einmal ansehen?«

Da begriff ich plötzlich alles: Harsts Andeutungen, dass unser Hirn Palperlons Spießgesellen etwas wert sei, ferner die Bemerkung von dem Mohr, der seine Schuldigkeit getan hatte!

Harst nahm die Skizze, nickte und fragte leise: »Kann Okirupu uns auch nicht belauschen? Es dürfte ihm vielleicht nicht recht sein, dass ich …«

»Oh«, rief Morrisson eifrig, »Sie haben ja gesehen, dass die Fetischpriester noch beim Vidu-Fest zu tun hatten. Wir sind jetzt hier sicher.«

Kaum hatte er dies ausgesprochen, als Harst wie ein Blitz hochschnellte und Morrissons Hals umklammerte.

»Fessele ihn!«, rief er mir keuchend zu, denn der Rothaarige wehrte sich verzweifelt. Es half ihm aber nichts. Als er nun gebunden und geknebelt vor uns saß und uns mit wutverzerrtem Gesicht tückisch anstierte, gab mir Harst den Befehl, Morrisson bei der ersten verdächtigen Bewegung niederzuschießen. Er verschwand dann aus der Hütte. Die Leoparden waren noch eingesperrt, wie ich wusste. Es dauerte gut zehn Minuten, dann – drei – vier dumpfe Knalle wie von Schüssen, die in einem geschlossenen Raum abgegeben worden sind. Abermals fünf Minuten. Und nun erschien Harst sehr eilig, stützte einen zweiten Mann, einen zum Skelett abgemagerten Weißen, dessen Bart und Kleidung schon allein eine lange Kerkerhaft verrieten.

»Schnell!«, meinte Harst, »die Pferde stehen bereit. Wir müssen fliehen. Dies hier ist unser Landsmann Knork …«

In wilder Hast wurde Morrisson auf das Packpferd gebunden. Der Generalkonsul bekam das Pferd Mansas, unseres Führers. Zu meinem Erstaunen schlossen sich uns auch Okirupus Frauen sämtlich an. Sie und Mansa zeigten in dieser Nacht, wie gut die Sulus zu Fuß sind. Obwohl wir weite Strecken im Trab zurücklegten, hielten sie mit den Pferden stets gleichen Schritt. Nach zwei Stunden erreichten wir die nächste Polizeistation. Hier war es mit des Generalkonsuls Kraft zu Ende. Er sank ohnmächtig vom Pferd.

Harst teilte dem Korporal der Station in Eile das Nötige mit. Dieser benachrichtigte sofort telefonisch vier andere Stationen und ritt dann mit fünf Leuten davon. Inzwischen hatten wir Herrn Knork wieder ins Bewusstsein zurückgerufen. So matt er sich auch fühlte, er konnte sich gar nicht genug tun mit Worten herzlichsten Dankes für seine Befreiung, auf die er kaum noch gehofft hatte. Harst erklärte dann den Zusammenhang der letzten Ereignisse in Gegenwart Morrissons folgendermaßen:

»Dass die Papierkugel in der Distel von Ihnen, Morrisson, für Palperlon bestimmt worden war, werden Sie kaum leugnen können, ebenso wenig, dass die von dem Leoparden verfolgte Frau das Lockmittel war, uns zu veranlassen, in wilder Hast die Brücke zu passieren. Wir sollten eben blindlings in die Falle hineinrennen, aus der Sie uns dann deshalb befreiten, um Anspruch auf unsere Dankbarkeit zu haben. Palperlon konnte nämlich die Skizze nicht enträtseln, die er in Bremen in der Knorkʼschen Villa abgezeichnet hatte, und da sollte ich nun den hilfreichen Geist abgeben. Ein sehr feiner Gedanke! Leider kam ich aber schon in der Höhlung des Brückenpfeilers hinter dieses raffinierte Spiel. Ich fand dort nämlich die Originalskizze, die Sie Herr Knork, in einer Ritze versteckt hatten, nachdem man Sie ähnlich wie uns auf die Brücke gelockt und in das Felsloch hinabbefördert hatte. Als ich mir die Originalskizze ansah, erkannte ich sogleich, das Sie die Vorsicht gebraucht hatten, eine Zeichnung zu entwerfen, aus der nur Sie selbst klug werden konnten. Ich vermutete daher, dass man Sie durch eine lange Gefangenschaft hätte zwingen wollen, die Lage der Mine zu verraten. Wo Sie gefangen gehalten wurden, wusste ich in demselben Augenblick, als wir Okirupus Heim erreichten, das inmitten des heiligen Waldes, dessen Betreten den Negern verboten ist, sich am besten hierzu eignete. Dass Morrisson uns das Vidu-Fest mitansehen ließ, geschah ebenfalls nur deshalb, um mich für ihn noch günstiger zu stimmen. Die drei Jagdleoparden, die Ihren Kerker, Herr Knork, in der zweiten Scheunenhütte tagsüber bewachten, erschoss ich ungern. Es musste aber sein. Ich hätte die prächtigen Tiere lieber mit nach Europa genommen. Okirupus Frauen waren froh, als ich ihnen gestattete, mit uns zu fliehen. Er ist ein vertiertes Scheusal, das an den Galgen gehört. So, und nun frage ich Sie, Morrisson: Wo steckt Palperlon? Mann, reden Sie! Treten Sie gegen Palperlon als Kronzeuge auf, dann gehen Sie straffrei aus!«

Morrisson schüttelte den Kopf. »Master Harst, würde ich an Palperlon zum Verräter werden, dann lebte ich ja doch nicht mehr lange. Ich kenne ihn!«

Dabei blieb er. Er wurde später zu langjähriger Zuchthausstrafe verurteilt.

Erst mittags kehrten die berittenen Polizisten zur Station zurück. Sie brachten sowohl Okirupu als auch die drei anderen Fetischpriester mit, die sie nach langer Hetze schließlich doch erwischt hatten. Okirupu wurde zum Tode verurteilt und gehängt. Man konnte ihm nicht weniger als 22 Morde nachweisen, die er mithilfe der Rätselbrücke verübt hatte. Dasselbe Schicksal ereilte den zweiten Fetischpriester. Auch er musste baumeln. Das Suluvolk atmete auf, als es von diesen Mördern befreit war, die ein richtiges Schreckensregiment geführt hatten.

Generalkonsul Knork erholte sich langsam und reiste dann nach Deutschland zurück.