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Der Detektiv – Band 23 – Die Rätselbrücke – Teil 2

Walter Kabel
Der Detektiv
Band 23
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Die Rätselbrücke

Teil 2

Der Nachtzug Stockholm-Malmö ging um 10:30 Uhr ab. Wir hatten ein Schlafwagenabteil belegt und machten es uns dort nach Möglichkeit bequem. Wir waren beide in ernstester Stimmung. Magda Knork hatte sich sofort nach Rückkehr in ihre Zelle mit Zyankali, das sie in ihren Kleidern verborgen haben musste, vergiftet. Sie hatte für ihre Eltern nur einen Zettel mit den Worten Verzeiht mir! zurückgelassen.

Harst saß still da und blies wie ein Automat den Zigarettenrauch von sich. Plötzlich sagte er dann: »Ich bin überzeugt, dass Lihin Omen nur Magdas wegen Liebhaberdetektiv geworden ist.«

»Du meinst also, dass Doktor Branden unser Konkurrent ist?« fragte ich schnell.

»Ja. Wir wissen von Lihin Omen, dass er Berliner und reich ist. Beides trifft auch bei Branden zu. Die Hauptsache aber ist der Brief, den Lihin Omen Frau Knork zusteckte. Nur jemand, der die Familie Knork persönlich kennt, wird schreiben: Ich hätte für Sie, Ihre Tochter und Ihren Gatten keine Mühe gescheut.

»Du magst recht haben«, erklärte ich nicht völlig überzeugt.

»Ich habe recht. Ich werde dir das beweisen, sobald wir aus Südafrika zurück sind. Hoffentlich finden wir in Bremen sofort einen Dampfer, der nach Kapstadt abgeht. Ich möchte keinen Tag versäumen. Palperlon will ja fraglos die Muwuru-Mine plündern. Ich nehme an, dass er bereits dorthin unterwegs ist. Er hat etwa 18 Stunden Vorsprung vor uns. Das macht viel aus bei einem Menschen, wie er es ist. Übrigens waren mir Magda Knorks Angaben – der rothaarige Irländer, die Worte Okirupu und großer Fetisch – sehr wertvoll. Besonders der große Fetisch! Erinnere dich an Frau Knorks Erzählung, an die Rätselbrücke, die niemand passieren lässt, der eine Matsaua-Schlange getötet hat. Diese Matsaua-Schlangen spielen in dem Fetischdienst der Sulus eine große Rolle. Mit das Interessanteste ist nun wohl der sogenannte Souquiant, die Schlange mit dem Menschenkopf, die die Sulu als den großen Fetisch verehren. Dieser Souquiant ist eben die Matsaua-Schlange, ein ungiftiges, armdickes Reptil mit einem Kopf, dessen Zeichnung ungefähr an ein menschliches Greisengesicht erinnert.«

Zwölf Tage darauf waren wir in Kapstadt. Ohne Aufenthalt fuhren wir zu der Stadt Ladysmith weiter. Von hier aus hatte Johannes Knork in Begleitung zweier Mineningenieure, eines englischen Regierungsbeamten und dreier Suludiener zu Pferde die Reise fortgesetzt, wie uns Frau Knork noch mitgeteilt hatte. Dieser Beamte, ein Herr Moffley, war bald gefunden. Er erzählte uns, dass Knork niemandem Näheres über die Lage der Fundstelle mitgeteilt und stets erklärt hatte, er würden erst an Ort und Stelle anhand seiner Skizze beweisen, dass er der erste Finder der Diamantmine sei. Moffley bestätigte uns, dass Knork einen Leoparden an der Tränke habe schießen wollen, aber nicht zurückgekehrt sei. Alle Nachforschungen hätten keinerlei Erfolg gehabt. Über die Rätselbrücke wusste er nicht viel. Er hatte sie noch nicht gesehen, da Knork einen halben Tagesmarsch vor dem Muwuru verschwunden war. Harst bat Moffley dann, uns einen eingeborenen Führer zu besorgen. Dieser Sulu namens Mansa war ein älterer Mann, der sich gut bewährte. Wir nahmen noch ein Packpferd mit; als Waffen nur Jagdmesser und unsere Repetierpistolen.

Unser Ritt ging zunächst nach Nordost durch bergiges Gelände, dann durch einen fruchtbaren Landstrich, wobei wir mehrere Kafferdörfer berührten. Unser Führer Mansa sprach das Englische recht gut. Wir hatten unterwegs Zeit genug, ihn über alles Mögliche auszufragen. Harst hatte so nebenbei einmal das Wort Okirupu erwähnt. Da war der Sulu sofort aufmerksam geworden. Forschend hatte er Harst angeblickt und gefragt, ob dieser denn den Priester des großen Fetisch kenne. So erfuhren wir, dass Okirupu ein direkter Nachkomme des letzten Sulukönigs Dinigulu sei und in einem Dorf nordöstlich der Rätselbrücke wohne.

Eines Mittags bogen wir dann zwischen zwei Bergen in ein sehr romantisches, felsiges Flusstal ein. Dort unten rauschte und brauste der Muwuru.

Von diesem Augenblick an änderte sich Harsts Benehmen vollständig. Er wurde überaus vorsichtig und misstrauisch. Mansa verstand kein Wort Deutsch. Harst sagte daher zu mir in deutscher Sprache: »Wir haben bisher von Palperlons Anwesenheit hier in Südafrika nicht das Geringste bemerkt. Und doch wette ich, dass er hier ist. Es gibt noch einen zweiten Weg zum Muwuru, von Norden her, von Johannesburg. Möglich, dass er den gewählt hat.«

Wir ritten nun in das Flusstal hinab. Es gab hier etwas wie einen Weg. Man sah, dass die Rätselbrücke von den umwohnenden Sulus und Kaffer doch häufiger benutzt wurde. Die Brücke erkannten wir schon von Weitem. Der Fluss war etwa fünfzig Meter breit, die Ufer meist abschüssig und bis zu zwanzig Meter hoch. An einer Stelle lag mitten in der reißenden, schäumenden Strömung ein Felsblock von vielleicht 25 Meter Höhe. Diese schlanke Natursäule stellte den Pfeiler der Brücke dar.

Hundert Meter vor der Brücke bog Harst in eine Schlucht ab und befahl unserem Führer, hier das Lager aufzuschlagen und auf uns zu warten.

Harst und ich machten uns dann zu Fuß zu der Brücke auf. Harst hatte sein Fernglas mitgenommen und erklärte nun, als wir sehr langsam dem Fluss zuschritten: »Es muss mit dieser Rätselbrücke eine besondere Bewandtnis haben. Merktest du nicht, dass Mansa stets verlegen schwieg, wenn ich ihn nach der Bedeutung dieser Bezeichnung dieses Felsenüberganges als Brücke der Geheimnisse fragte?«

Während Harst so sprach, ließ er seine Blicke ohne Unterlass umherschweifen. Auch ich spähte dauernd nach irgendetwas Verdächtigem aus.

Jetzt standen wir auf der Uferhöhe. Vor uns reckte sich eine Felszunge über den halben Fluss zum Steinpfeiler hin, der ungefähr viereckig und oben flach bei etwa 12 Meter Seitenlänge war. Harst rührte sich nicht. Nur sein Kopf drehte sich bald hierhin, bald dorthin, und seine Augen eilten bedächtig spürend von Punkt zu Punkt. Dann nahm er sein Fernglas und stellte es auf die Mitte der Naturbrücke ein.

Ich wurde ungeduldig. »Fürchtest du, dass Palperlon uns hier auflauert?«, meinte ich mit ganz wenig Ironie.

Er ließ das Glas sinken. »Du würdest dies gleichfalls fürchten, wenn du dort oben auf der Passhöhe zwischen den beiden Bergen dasselbe bemerkt hättest wie ich, nämlich dies hier, das ich aufhob, als ich einen Steigbügelriemen in Ordnung brachte.« Er fasste in die Tasche seiner Jagdjoppe und hielt mir eine Papierkugel hin, steckte sie aber sofort wieder ein. »Es ist Zeitungspapier, ein Stück von dem oberen Teil der ersten Seite der in Johannesburg erscheinenden Buren-Post«, erklärte er weiter. »Und zwar ein Stück einer erst acht Tage alten Nummer. Mansa sagte uns nun, dass sich bis hierher sehr selten Weiße verirren und dass auf endlose Meilen nur Negerdörfer zu finden sind. Zunächst beweist das Stück Zeitungspapier also, dass vor Kurzem ein Weißer hier gewesen ist. Damit ist jedoch das, was diese Papierkugel mir zu sagen hatte, noch nicht erschöpft.«

Nun begann auch mich dieser Fund Harsts zu interessieren. Ich rief leise: »Ich verstehe: das Stück Zeitung hatte eine besondere Bedeutung, war deiner Ansicht ein Zeichen für irgendjemand.«

»Ganz recht. Nicht nur ein Zeichen war es. Das hatte ich bald heraus. Die Art, wie die Papierkugel in einer Distel festgeklemmt war, legte mir nahe, das Stück Zeitung sauber glatt zu streichen. Es war vollständig durchfettet. Weshalb wohl? Nun, um es im Falle eines Regengusses vor dem Aufweichen zu schützen. Das Weitere war sehr einfach. Ich bemerkte sofort, dass in dem Leitartikel zehn Wörter mit Bleistift nicht allzu auffällig unterstrichen waren. Nacheinander gelesen lauteten diese ins Deutsche aus dem Holländischen übertragen folgendermaßen: Versammlung nicht gefunden. Empfang alles vorbereitet, zu finden bei Befreundeten.

So, mein Alter, nun kannst du dein Licht leuchten lassen. Denn diese Sätze, zweimal zu drei und einmal zu vier Wörtern abgeteilt, verraten im Einzelnen und als Ganzes so allerlei: Bitte – beginne!«

Wenn man bereits anderthalb Jahre Privatsekretär und Gehilfe eines Harald Harst ist, lernt man allmählich doch so einiges. Ich erwiderte daher: »Der erste Satz bezieht sich vielleicht auf ein verfehltes Rendezvous. Empfang alles vorbereitet – hm, darüber bin ich mir nicht klar, ehrlich gesagt. Der letzte Satz aber ist wohl so zu ergänzen, dass der Hersteller dieser Papierkugelmitteilung sich bei befreundeten Leuten aufhält.«

Harst nickte zerstreut. »Die Hauptsachen fehlen, lieber Schraut. Aber mit deinen Ergänzungen bin ich einverstanden. Ich will nun meine Ansicht über diese Mitteilung zum Besten geben. Du weißt, dass zwischen Palperlon und seinem Vertrauten Morrisson einmal in einem von Magda Knork teilweise belauschten Gespräch die Worte Okirupu und großer Fetisch wiederholt genannt wurden. Dieses Gespräch soll vor etwa sieben Monaten stattgefunden haben. Da nun Palperlon persönlich dem Generalkonsul hier in Südafrika nicht aufgelauert haben kann, denn er weilte, wie uns bekannt, zu derselben Zeit in Berlin, dürfte Morrisson bei dem Anschlag auf Johannes Knork beteiligt gewesen sein. Ich brauche gerade dir wohl nicht näher zu erklären, weshalb ich hier einen Anschlag vermute. Es sollte eben zugleich mit Knork auch die Skizze der Muwuru-Mine verschwinden, damit Palperlon dann als Einziger deren genaue Lage kannte. Morrisson wird also hier den Generalkonsul entweder beiseite geschafft haben oder aber ihn irgendwo gefangen halten. Offen gestanden: Ich fürchte das erstere! Palperlon tut ja nie halbe Arbeit. Tote sprechen nicht mehr! Danach handelt er. Morrisson ist dann hiergeblieben, um Palperlon zu erwarten, der ja noch in Europa so allerlei gewinnbringende Geschäfte vorhatte, an denen wir gleichsam als Gegenpartei mitwirkten. Ich erinnere nur an den Fall des ewigen Juden, den sogenannten Seher von Lissabon! Und Morrisson hat meiner Meinung die Papierkugel für Palperlon vorbereitet, mit dem er vielleicht in Johannesburg – daher die Buren-Post – zusammentreffen wollte, wo sie sich aber aus irgendeinem Grund verfehlt haben mögen. Nun noch der mittelste Satz: Empfang alles vorbereitet. Ob sich dies nicht auf uns bezieht, mein Alter? Ob Palperlon nicht damit gerechnet hat, ich könnte mich auch in seine hiesigen Geschäfte einmischen? Ob er nicht vielleicht Morrisson eine chiffriere Kabeldepesche mit einer Anweisung für unseren Empfang gesandt haben mag? Du wirst zugeben, dass sehr vieles für die Richtigkeit dieser Kombinationen spricht und dass schließlich mit den Befreundeten recht gut der Fetischpriester Okirupu gemeint sein kann. Jedenfalls hatte ich, nachdem ich diese Mitteilung derart ausgelegt hatte, allen Grund, überaus vorsichtig zu sein. Deshalb zeigte ich dir auch soeben die Papierkugel nur flüchtig. Es ist nicht ausgeschlossen, dass jemand uns vom anderen Ufer aus beobachtet.«

Ich konnte Harst nur beipflichten, erklärte dann aber noch: »Diese merkwürdige Art, Palperlon eine Mitteilung zugehen zu lassen, erscheint mir – wie soll ich sagen – etwas gekünstelt.«

»Sehr richtig. Dieses Gekünstelte ist auch das, was mich stört. Ebenso die Tatsache, dass Palperlon, für den doch die Papierkugel bestimmt war, noch nicht hier gewesen sein kann. Sonst hätte die Papierkugel nicht mehr in der Distel gelegen.« Er ließ abermals die Blicke misstrauisch über die Brücke und das jenseitige Ufer gleiten. »Lieber Alter, ich kann nicht behaupten, dass ich mich angesichts dieser Rätselbrücke besonders wohlfühle«, meinte er dann. »Im Gegenteil, ich wünschte, wir hätten Sululand erst wieder hinter uns! Ich bin noch nie …«