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Markus K. Korb – Treibgut

Markus K. Korb
Lovecrafts Schriften des Grauens 26
Treibgut
Horror, Taschenbuch, BLITZ-Verlag, Windeck, Mai 2022, 262 Seiten, keine ISBN, Titelbild: Björn Craig, Umschlaggestaltung: Mario Heyer, Logo: Mark Freier, Vignette: Jörg Kleudgen

Kurzinhalt:
Im Sturm havariert das Schiff von Howard Scott vor der Küste von New England. Der Kapitän überlebt nur knapp. Ein Baron gewährt ihm Unterkunft in seinem Herrenhaus. Schon bald bemerkt Scott, dass sein Retter von einer mysteriösen Krankheit befallen ist. Zudem geschehen rätselhafte Dinge in dem alten Gemäuer. Was verbirgt sich in den Katakomben tief unter der Erde? Warum brennen Feuer auf den Klippen? Welchen Grund haben die geheimen Zusammenkünfte am Strand? Schon bald wünscht sich der Kapitän, dass er die Villa niemals betreten hätte.

Leseprobe:

1. Kapitel

 

Die Brecher, die gegen die Steilküste anliefen, waren gut und ger­ne zehn Meter hoch. In breiter Front, gleich einer heranstürmen­den Soldatenreihe warfen sich die Wellenberge in die Schlacht und es war ein erstaunlich anzusehendes Gleichnis vom Kampf zwischen den gegensätzlichen Kräften Meer und Land, wenn sie mit geballten Riesenfäusten gegen die glattgeschliffenen Felsen der Merry Men schlugen. Diese beiden Felstitanen standen als ho­he Steinnadeln hundert Meter vor der eigentlichen Küste, die an dieser Stelle eine kleine Bucht mit Kieselstrand aufwies. Und doch war das Fleckchen Erde gut genug durch diese steinernen Wächter geschützt, sodass die Auswirkungen der Wellen weit weniger verheerend waren, als man annehmen müsste.

Die Merry Men schirmten den Küstenstreifen ab und nahmen das Wüten des Wassers und des peitschenden Sturmwindes scheinbar gleichmütig und kraftstrotzend hin. Waren sie auf der einen Seite Hilfe, so bedeuteten sie andererseits aber eine tödli­che Gefahr für die Handelsschiffe, welche die Küste New Eng­lands auf dem Weg zurück nach Cornwall passieren mussten. Et­liche Kohlefrachter und Schoner waren schon gegen die Fels­nadeln geschleudert worden. Das vom Kampf gegen die unnach­giebigen Steinwächter enttäuschte Meer nahm die Schiffe, ihre Ladung und ihre Besatzungen als Ersatzopfer, verdaute alles in seinen dunklen Eingeweiden und spie letztendlich einen Teil des­sen auf den groben Kieselstrand der Küste, wie um seine Verach­tung gegen alles Leben zu zeigen.

Genauso musste es auch mit der verkrümmten Gestalt passiert sein, die am Strand lag, die Beine noch umleckt von der Gischt, die verzweifelt an ihnen saugte, um den Menschen vielleicht doch wieder hinab in das feuchte Dunkel zu ziehen.

Das schwarze Haar des Mannes hing ihm wie Medusenfäden vor dem Gesicht, die Kleidung war zerrissen und durchnässt. Die über ihm kreisenden Möwen entdeckten nahezu kein Leben in ihm und wäre da nicht das unablässige Zittern der bleichen Arme gewesen, hätte man ihn für tot halten können.

Mit jeder Minute kehrte das Leben in den vom Meer geschunde­nen Körper zurück. Der Mann begann sich zu regen. Zögerlich be­tasteten seine Hände den Kopf, strichen die langen Haarsträhnen zurück, die früher wohl von einem Zopf gebändigt worden sein mussten und deren Berührung des Gesichts dem Mann unwohl war. Die Finger glitten hinab zu seinem Hals, kneteten ihn vor­sichtig und wandten sich danach der Brust zu, die sich bärtig durch das zerschlissene Hemd hervorwölbte. Der Mann presste sich mit den Händen vom Kies ab und hob seinen Oberkörper, so- dass er in eine sitzenden Position kam. Er musste würgen. Den Kopf zur Seite drehend erbrach der Schiffbrüchige Meerwasser auf die Steine, wo es sofort versickerte. Die Haare wurden vom Sturmwind umhergeschleudert und erschwerten dem schwer Keuchenden die Sicht, als er hustend die Knie anzog und tau­melnd auf die Beine kam. Mit einer Hand stützte er sich auf einen Felsen ab, sodass er zitternd stehen konnte.

Das Heulen des Sturmes fauchte vom Meer her und blies Flocken von Meerschaum um die niedrigen Felsen auf den Strand, wo sie sich in den angeschwemmten Algenbergen verfingen. Einige Schaumkronen wirbelten hoch in die Luft und strömten den Tal­kessel hinauf zum Klippenrand, wo ein herrschaftliches Anwesen seine Krallen in den Fels geschlagen hatte, um nicht in die Tiefe zu stürzen.

Als der Schiffbrüchige den Kopf in den Nacken hob, mit einer Hand seine Haare im Genick bändigend, da erkannte er, dass die­ses Haus seine Rettung war. Der Erbauer des Anwesens musste ein stolzer Herr gewesen sein, so mutmaßte er, da das Haus mit der Giebelseite zum Meer bückte und ihm so selbstbewusst den tosenden Elementen die Stirn bot. Fast erschien es dem Mann am Strand so, als ob das Herrenhaus arrogant das Kinn dem Ozean entgegenreckte. Ein Eindruck, der durch einen kleinen Balkon in Kombination mit zwei darüber liegenden Fenstertüren erweckt wurde, auf deren Glasflächen sich die dahinrasenden Wolken­massen spiegelten.

Es gab nur die beiden hohen Fenster und den Balkon auf der Meeresseite, der Rest der Front wurde von sich überlappenden Holzschindeln bedeckt. Diese waren von ungesund grünlichen Schlieren überzogen, was der Mann auf Algen- und Moosbewuchs zurückführte. Dennoch wirkte das Haus nicht schäbig oder gar unbewohnt. Für letzteren Eindruck sorgte ein steinerner Schlot, der unablässig eine Rauchsäule ausspie, die vom Wind in alle Richtungen verwirbelt wurde.

Der Schiffbrüchige tastete sich mehr kriechend als gehend über den Kies, wobei er an den groben Felsen links und rechts seines Weges Halt fand. Einige Male sackte er auf die zerkratzten Knie, biss jedoch die Zähne zusammen und kämpfte sich wieder hoch.

Auf der rechten Seite des Felsentales erkannte er in die Steine ge­hauene Stufen. Sie wurden von einem im heulenden Wind hin und her schwankenden Seil flankiert, das als Geländer diente und sich wie eine braune Schlange durch Eisenringe in der Felswand nach oben wand.

Als er auf der untersten Stufe angekommen war, sah sich der Mann noch einmal um. Draußen bei den beiden Felsbrocken im Meer schaukelte noch der zerschmetterte Rumpf der einst so stol­zen Brigg Mary Dayne. Ihr Mast war zu einem Spielball des nach Salz riechenden Windes geworden, der ihn immer wieder gegen die Felsnadeln krachen ließ, bis er nur noch ein geknickter Halm war. Wenn der Schiffbrüchige die Augen zusammenkniff, ver­meinte er auf den Wellen tanzende Schatten wahrzunehmen, die im Todeskampf mit den Armen wedelten. Doch im nächsten Mo­ment waren es nur Fässer und Kisten, die kostbare Fracht der Brigg, die nun als Treibgut in Richtung Strand trudelte. Er fragte sich, ob überhaupt einer seiner Matrosen oder Passagiere den gnadenlosen Wellen entkommen waren, so wie er.

Der Mann wandte sich um und machte sich an den Aufstieg, während der Wind an seinen nassen Kleidern riss und ihn tor­keln ließ. Oftmals strauchelte sein Schritt und er schlug sich die Schienbeine auf, aber ans Aufgeben dachte der Mann nicht. Sein stählerner Wille hatte ihn zum Kapitän der königlichen Handels­marine geführt, mm sollte er ihm das Überleben sichern helfen.

Nach einer geraumen Zeit trat er auf die letzte Stufe und stolper­te auf das Plateau hinaus, das zum Haus gehörte. Seine Augen hatten kaum mehr die Kraft die Eindrücke des herrschaftlichen Vorgartens mit seinen Laubbäumen, Kieswegen und Wasserspie­len aufzunehmen. Mehr tot als lebendig schleppte er seinen mü­den Körper über Rasen und Kies, bis er vor einer mächtigen Ei­chenholztür zusammenbrach. Er nahm nur noch halbbewusst wahr, wie sich die Türe öffnete, ihn kräftige Arme aufnahmen und hineintrugen. Dann verließ ihn sein Bewusstsein und er sank in die gnädigen Tiefen einer heilenden Ohnmacht.

 

2. Kapitel

 

Das auf- und wieder abschwellende Jaulen des Windes war das erste Geräusch, das seine Ohren hörten, als sein Geist aus dem Dämmerzustand der Lähmung herauskroch.

»Willkommen in meinem bescheidenen Zuhause, Mr. Scott!«

Die heiser klingende Stimme drang wie ein rostiges Schwert in sein Hirn und machte ihm schlagartig klar, wo er sich befand. Auf dem Körper fühlte er den hauchdünnen Stoff eines fremden Nachtgewandes. Mit flatternden Lidern öffnete der Schiffbrüchi­ge die Augen.

Er lag in einem großen Himmelbett, dessen Vorhänge zurückge­zogen waren. An den Wänden hingen schwere Gobelins, deren Webereien die Jagdszenen eines vergangenen Jahrhunderts auf dem Kontinent Wiedergaben. Zum größten Teil lagen die Figuren auf den szenischen Tableaus jedoch im Dunkeln, da man darauf verzichtet hatte eine Lichtquelle im Raum zu entzünden. Der Mann auf dem Himmelbett musste mit dem Licht auskommen, das durch zweiflüglige Türfenster hereinschien. Ein Luftzug drang durch die Ritzen und bewegte die leichten Gardinen. Eine schwarze Silhouette stand davor.

»Ich hoffe, Sie fühlen sich wohl in meinem Gästezimmer. Leider ist es das mit dem Bück aufs stürmische Meer, dessen Tosen sie glücklicherweise gerade noch entkommen sind. Ich kann Ihnen aber keinen besseren Raum anbieten, denn dies ist das einzige noch halbwegs bewohnbare Zimmer des Hauses, das frei ist. Die übrigen sind entweder durch das Gesinde besetzt oder werden durch mich und meine Schwester beansprucht. Ich bitte um Ver­ständnis.«

Die Gestalt mit der heiser flüsternden Stimme trat näher an das Bett. Das Tageslicht fiel nun auf ihre Gesichtszüge und Mr. Scott konnte eingefallene Wangen und eine Adlernase erkennen. Die Augen lagen in schwarzumrandeten Höhlen, sodass der Schiff­brüchige ihre Farbe nicht erkennen konnte. Das lange weiße Haar fiel dem Gastgeber schütter über die Schultern und wirkte unge­kämmt. Der Mann war in einen Morgenrock altmodischer Schnittart gekleidet, der von der Größe her seinen Körper in einer unvorteilhaften Proportion erscheinen ließ. Zu weit war das Klei­dungsstück, der Körper darunter wirkte dadurch ausgezehrt. Zwei zerfasernde Pantoffel lugten unter dem Mantel hervor. Bei jedem Schritt gaben sie ein patschendes Geräusch auf dem Holz­boden von sich.

»Mein Name ist hier in der neuen Welt wenig von Bedeutung, doch wird man sich in England wohl an die Familie Ravenloft er­innern. Ich bin der letzte Nachfahre der Barone von Ravenloft. Edgar Anton Ravenloft.«

»Howard Peter Scott. Vielen Dank für Ihre Hilfe. Ich weiß nicht, was aus mir geworden wäre, hätten Sie mir nicht Ihr Haus geöff­net!«

Ravenloft nickte langsam, dann setzte er sich auf das Bett.

Howard Scott mühte seinen Oberkörper empor und lehnte sich seufzend gegen das Kopfende des Bettes. »Ich bin Offizier der Handelsmarine, meines Zeichens Kapitän der Brigg Mary Dayne. Jedenfalls war ich das bis zu diesem furchtbaren Sturm…« Die Er­innerung setzte bei Scott ein und er konnte nicht mehr weiter­sprechen, da er fürchtete, dass all seine Kameraden und Freunde bei dem Schiffsuntergang ertrunken waren. Doch noch gab es Hoffnung. Wenn er es geschafft hatte, warum dann nicht auch andere? »Haben Sie weitere Überlebende gefunden?«, wollte Scott wissen.

Ravenloft senkte den Kopf. »Gleich nachdem Sie vor unserer Tür zusammengebrochen sind, habe ich meine Dienstboten damit be­auftragt, den Strand kilometerweit abzulaufen. Es fanden sich Unmengen an Treibholz, intakte Fässer und Kisten, aber kein Überlebender. Es tat mir aufrichtig leid.«

Howard Scott schluckte schwer, dann antwortete er: »Das muss Ihnen nicht leid tim. Sie haben alles getan, was in Ihrer Macht steht, und dafür danke ich Ihnen.«

Der Baron winkte mit einer schwachen Bewegung seiner fein- gliedrigen Hand ab. »Es ist meine Pflicht als Christ mich in Nächs­tenliebe um diejenigen zu kümmern, die bedürftig sind. Seien Sie mein Gast und erholen Sie sich, bevor Sie aufbrechen. Die offiziel­len Stellen sind informiert. Man ließ mich wissen, dass Sie zu­nächst in meinem Hause bleiben sollen, bis sich Ihr körperlicher und seelischer Zustand soweit verbessert hat, dass man Sie in ein Lazarett überführen kann. Man gab mir die Verfügungsgewalt, um über den richtigen Zeitpunkt zu entscheiden. Seien Sie unbe­sorgt, Mr. Scott, es soll Ihnen bei uns an nichts mangeln. Ich habe meinen Leibarzt schon verständigt, er wird sie bald untersuchen. Ah, ich höre ihn schon an der Pforte.«

Scott lauschte intensiv, nahm aber nur das Tosen des Windes und den auf die Fensterscheiben prasselnden Regen wahr. Nach einigen Minuten ertönten Schritte und ein Pochen erschreckte Howard. Es kam von einer Tür, die links von ihm zwischen den Gobelins eingebettet war.

»Kommen Sie nur herein, Doktor Livotti«, flüsterte der Baron.

Die Tür öffnete sich und ein Mann mittleren Alters betrat das Zimmer. Er trug einen schwarzen Regenmantel von dessen Rock­schößen das Wasser zu Boden tropfte. Sein Gesicht schien eine Maske zu sein, derart unbeweglich war sein Mienenspiel. Daran änderte sich auch nichts, als er den hohen Hut abnahm, den Arzt­koffer ans Bett stellte und Scott die fleischige Hand reichte. »Gu­ten Tag, Mr. Scott. Ich hoffe, Sie fühlen sich etwas besser?«

Die unnatürliche Fragestellung verwirrte Howard. Er konnte nur nicken.

»Gut. Bitte lassen Sie uns einen Moment alleine, Herr Baron. Ich werde in wenigen Minuten mit der Untersuchung fertig sein und Ihnen das Ergebnis selbstverständlich mitteilen.«

Der Baron nickte schläfrig und stand langsam auf. Dabei knack­ten seine Gelenke hörbar und seinem Mund entrang sich ein lei­ser Seufzer. Er trottete mit schlurfenden Schritten davon und schloss die Tür hinter sich.

Der Doktor wartete mit unbewegtem Gesicht auf das Schließen der Tür, dann wandte er sich dem Bettlägerigen zu. »Herr Scott. Sie sollten einige Dinge über das Haus und seine Bewohner wis­sen, damit es nicht zu unangenehmen Szenen kommt.«

Scott zog die Stirn in Falten, sagte aber nichts.

»Die Familie Ravenloft hat auf der britischen Insel einen klang­vollen Namen, ist aber durch eine alte Geschichte in Verruf gera­ten, weshalb sie als Clan kurz nach den Pilgervätern hierher in die neue Welt übersiedelte. Die Familie ist sehr alt und ihr Stammbaum besitzt kaum Nebenzweige, was in den Adelsge­schlechtern Europas aber keine Seltenheit ist, ging es doch vor­nehmlich darum, den finanziellen Besitz und die Ländereien zu­sammenzuhalten. Doch hat diese Konzentration der Heirat auf den engsten Umkreis negative Folgen gehabt, wie sie sich sicher vorstellen können. Während man bei den russischen Zaren der Romanoffs häufig das Krankheitsbild eines Bluters feststellen kann, ist es bei den Ravenlofts etwas anderes. Ihre Krankheit hat noch keinen Namen, doch ich bin überzeugt davon, dass sie erb­lich ist. Sie überträgt sich vor allem an die Söhne, doch auch die Töchter sind davon betroffen, allerdings in einem weit weniger gravierendem Maße.« Dr. Livotti sprach sehr langsam und setzte seine Worte ganz bewusst, während er dem Patienten den Puls fühlte und mit einem Hörrohr die Herztöne kontrollierte. »Ken­nen Sie eine Krankheit, die sowohl Körper als auch Gehirn an­greift und diese dabei schwächt, gleichzeitig aber die Sinne in herausragender Weise zu ungeahnten Kräften der Feinheit beflü­gelt?«

Scott schüttelte den Kopf.

»Sehen Sie? Der Welt dort draußen ist Derartiges unbekannt. Doch hier im Haus ist dies gewöhnlicher Alltag. Seien Sie nicht überrascht, sollten Sie sich einer Türe scheinbar lautlos nähern und der Baron im Zimmer dahinter ruft Ihnen schon von Weitem zu, dass Sie eintreten mögen. Seien Sie weiterhin nicht erstaunt darüber, dass selbst der winzigste Funke Lichts, wenn er das Au­ge des Barons oder seiner Schwester trifft, einen Schmerz unge­ahnter Dimension hervorruft, den nur absolute Dunkelheit zu lindern vermag.«

Howard Scott wurde es unbehaglich zumute. »Das alles ist doch ein Fluch für die Familie Ravenloft. Wie kann man hierbei von Kräften der Feinheit sprechen?«

Der Doktor beendete seine Untersuchung und verstaute das Hör­rohr im Koffer.

»Nun, es ist die eine Seite der Medaille, dass eine Überreizung der Sinne entstehen kann. Die andere ist es, dass die Krankheit den Träger dazu befähigt, im Dunkeln sehen zu können und geradezu hellsichtige Voraussagen über kommende Besucher zu machen. Das letztere mag für einen diplomatisch versierten Baron durch­aus von Vorteil sein. Aber Baron Ravenloft ist auf keiner diploma­tischen Mission hier in Amerika, demnach muss ich Ihnen Recht geben. Es ist ein Fluch, der seinen Körper zerstört. Ich schätze sei­ne Lebenserwartung auf noch rund zehn Jahre. Wenn er stirbt, wird er Ende Zwanzig sein!«

Howard schluckte. Er selbst war Mitte Dreißig und hatte dem­nach den Baron auf Grund seines Aussehens auf mindestens Vierzig geschätzt.

In diesem Moment ertönte ein Klingeln hinter der Tür.

»Ah, der Baron bittet zu Tisch. Dann werde ich mich mal wieder auf den Nachhauseweg machen. Die Familie Ravenloft hat eine starke Affinität zu Fischgerichten, was ich jedoch nicht für mich behaupten kann.«

In den Augen des Doktors glomm für einen Moment etwas auf, was Scott für den Anflug eines Lächelns hielt. Erfreut über die Wendung des Gesprächs meinte er: »Ich hebe Fisch! Was bleibt einem als Kapitän der Handelsmarine denn anderes übrig?« Er lachte leise über seinen eigenen Scherz, den er schon hundertmal in Gesellschaft erzählt und der seine Wirkung noch nie verfehlt hatte.

Doktor Livottis Gesicht blieb weiterhin reglos. »Ich werde mor­gen wieder nach Ihnen sehen. Leben Sie wohl, Mr. Scott und neh­men sie das Essen bitte hier im Bett zu sich. Sie werden erst am Morgen wieder bei Kräften sein, um das Bett verlassen zu kön­nen, wie ich annehme.« Mit diesen Worten deutete der Doktor ei­ne Verneigung an, schwang sich in seinem langen Regenmantel herum und verließ das Zimmer.

Bald darauf klopfte es erneut und ein Dienstmädchen brachte ei­ne dampfende Schüssel voller Fischsuppe, in der ein Löffel klap­perte. »Mit den besten Wünschen des Barons zu Ihrer baldigen Genesung«, hauchte sie und stellte die Terrine auf das Nachtkäst­chen.

Scott bedankte sich und begann nach dem Verlassen des Mädchens mit dem Verzehr des Gerichts. Es schmeckte wunderbar. Scott meinte spüren zu können, wie seine Kräfte zurückkehrten. Alsbald wurde er schläfrig und sank in die Kissen, wo er nur ei­nen Moment lang die Augen offen halten konnte.

 

3. Kapitel

 

Am nächsten Morgen weckte ihn die vertraute Stimme des Ba­rons. »Ich hoffe, Sie haben wohl geruht?« Der Baron stand wie tags zuvor als schwarzer Umriss vor den beiden Fenstertüren. Da­hinter jammerte der Wind und ruckte an den Glasscheiben. Kapitän Howard Scott räkelte sich unter dem Bettlaken und streckte sich. »Vielen Dank! Sehr gut sogar. Ich fühle mich er­frischt und ich denke, dass ich das Bett schon verlassen kann.«

In der Stimme des Barons schwang ein Lächeln mit, als er sagte: »Es freut mich zu hören, dass Ihre Genesung derart große Fort­schritte macht. Kommen Sie zu mir. Ich möchte Ihnen etwas zei­gen.«

Scott drehte sich vorsichtig zum Bettrand und ließ die Beine her­abfallen. Als sie die Holzdielen berührten zuckte er kurz vor der Kälte zurück. Seine tastenden Zehen fanden ein paar Filzpantof­feln unter dem Bett. Er schlüpfte hinein und stand auf. Zu seiner Überraschung fand er auf dem Nachtkästchen nicht die Schüssel wieder, sondern einen Morgenrock ähnlicher Art, wie ihn auch der Baron trug, der unruhig vor den Gardinen von einem Bein auf das andere trippelte. Mit vorsichtigen Schritten, sich dabei am Pfosten des Himmelbettes abstützend, fand Howard den Weg zu den großen Fenstertüren.

Der Baron ergriff seinen Arm und half ihm dabei, einen sicheren Stand wiederzugewinnen. »Sie haben kein Fieber, so berichtete mir der Doktor. Lassen Sie uns also hinausgehen. Nehmen Sie!« Der Baron hielt Howard eine dicke Schnur hin, die dieser verwundert ergriff. Ravenloft lächelte und band mit Hilfe einer anderen Schnur, die er in der linken Hand gehalten hatte, seine langen Haare im Nacken zu einem Zopf zusammen. Sein Gesicht hatte die Farbe von bleichem Meerschaum, als er die Gardinen ausein­ander wirbelte, die beiden Griffe der Glastüren packte, sie drehte und nach innen zog. Der Sturmwind fegte in das Zimmer und verdrehte die Gardinen zu grotesken Knotenfiguren. Er erfasste die offenen Haare des Kapitäns, sodass er sie schnell mit beiden Händen hinter dem Kopf bündelte und ebenfalls einen Zopf band.

Howard erkannte hinter den Türflügeln den Balkon wieder, den er gesehen hatte, kurz nachdem er an Land gespült worden war und das Haus am Rand der Klippen betrachtete. Ein hüfthohes Ei­sengeländer mit blumigen Verzierungen begrenzte das steinerne Rechteck, bevor es in einem steilen Winkel nach unten zum Strand abfiel.

Ravenloft nickte dem Kapitän zu und gemeinsam betraten sie den Balkon. Ihre Mäntel wurden von unsichtbaren Händen ge­packt und verwirbelt. Um besser Halt zu finden, ergriff der Baron das Eisengeländer und hielt sich fest. Seine Fingerknöchel traten weiß hervor. »Hier, halten Sie sich fest. Der Wind ist bei uns im­mer äußerst kräftig!«

Es bereitete dem Baron sichtliche Schmerzen, hier im Brausen der Naturgewalten zu stehen, die seine Sinne mit Reizen überflu­teten. Sein gesamter Körper bog sich unter den Aufwallungen der Pein und Scott trat umso schneller an das Eisengeländer, da er Ih­rer beider Aufenthalt an diesem Ort zeitlich so kurz wie möglich machen wollte. Die Angelegenheit indes, so vermutete der Schiff­brüchige, müsse eine überaus wichtige sein. Andernfalls hätte sich der Baron wohl kaum den Strapazen ausgesetzt.

»Sehen Sie hinaus aufs Meer, Mr. Scott! Dieser Anblick ist alles, was ich besitze. Alle Ländereien im Hinterland sind für die hor­renden Summen von Arztrechnungen versetzt worden, die Dr. Livotti durchaus gerechtfertigterweise verlangt. Einzig das Haus und ein Stück Strand sind mir geblieben. Das Stück Kieselstrand, an dem sie angeschwemmt wurden. Ein überaus einzigartiger Zufall, wie Sie gestehen müssen.«

Howard Scott nickte und brüllte ein »Ja. Das Schicksal meinte es gut mit mir!« gegen das ohrenbetäubende Rauschen des Windes.

Ravenloft zitterte. »Sehen Sie hinaus auf das Meer! Was können Sie vor meiner Küste erkennen?«

Scott blickte auf die beiden Felsen, die wie Zwillingsbrüder in der Gischt standen und den Wellen trotzten.

»Ich sehe die Felsnadeln, die der Volksmund Merry Men nennt!«

»Richtig, Mr. Scott!«, schrie ihm Ravenloft entgegen. »Diesen bei­den Felsen ist es zu verdanken, dass sich das Meer noch nicht Strand, Klippe und Haus einverleibt hat. Schon vor der Ankunft unserer Familie in der neuen Welt standen diese beiden Felsen hier und meine Vorfahren wählten den Platz für das Haus aus, nachdem sie beobachtet hatten, welche glückliche Wirkung die Merry Men für ein Haus am Rande der Klippen boten.«

»Ich verstehe. Doch wo ist der Rest der Familie jetzt?«

»Es gibt noch etliche echte Ravenlofts, doch ist unser Stamm­haus hier viel zu klein, um allen ein Leben unter diesem Dach zu ermöglichen. Aber einmal im Monat treffen wir uns hier. Dann strömen die Ravenlofts aus allen Enden dieses Kontinents herbei und feiern ein rauschendes Fest. Es findet übrigens in wenigen Tagen statt. Ich hoffe, Sie schlagen mein Angebot zur Teilnahme an den Familienfeierlichkeiten nicht aus?« Ravenloft sah den Ka­pitän fragend von der Seite her an …

Dieser überlegte kurz, dann erwiderte er: »Es ist eine Ehre für mich! Selbstverständlich werde ich teilnehmen!«

Der Baron grinste zufrieden und schlurfte zurück ins Zimmer, nicht ohne noch einen Bück auf die beiden Felsnadeln geworfen zu haben. Darin schwang eine Mischung aus Freude und Ehr­furcht mit, wie Scott zu erkennen glaubte. Howard folgte ihm auf dem Fuße, denn er wollte nicht noch weiter auf Gedeih und Ver derb dem Wind dort draußen ausgeliefert sein.

Als sie beide wieder im Zimmer waren, verschloss Ravenloft ge­gen den Willen des Sturmwindes die Tür und richtete die Vor­hänge gerade aus. Sein Blick war noch immer auf die Felsnadeln gerichtet. »Sie sind so schön! Sehen Sie nur einmal hin!« Die Stim­me des Barons klang ehrfürchtig und leise. »Woran erinnern Sie die Felsen, wenn Sie diese genauestens betrachten?«

Howard Scott trat neben ihn und starrte das Schauspiel an, das sich ihm bot. Die Brandung feuerte Salve um Salve auf die Felsen ab. Diese standen still da und regten sich nicht. Alle Wassermas­sen fielen von ihnen wirkungslos herab. Die Felsen waren breiter als tief. Besonders die Stirnseiten zum Haus hin, erschienen Scott merkwürdig breit im Vergleich mit der Kürze ihrer Seiten. »Sie se­hen aus wie Schneidezähne« entfuhr es dem Kapitän.

Der Baron lachte leise. »Was müsste das für ein riesiges Ungetüm sein, dass es derartig gewaltige Zähne besitzt! Außerdem …« An dieser Stelle machte Ravenloft eine bedeutungsvolle Pause »Außerdem befände sich in diesem Fall der Schlund des Monsters di­rekt unter dem Haus!«

Howard zog die Stirn in Falten. Was für Phantasmagorien fielen dem Gastgeber ein, so fragte er sich. Gleichzeitig musste er aner­kennen, dass er den Anstoß dazu geliefert hatte.

Der Baron bemerkte offenbar den Stimmungswandel bei seinem Gast, denn er beeilte sich zu sagen: »Lassen wir die Spielereien, Herr Scott. Ich will Ihnen mit unserem kleinen Besuch des Bal­kons nur zeigen, wie überaus gering das Einkommen unserer Fa­milie ist und bitte Sie, kleine Unannehmlichkeiten während Ihres Aufenthaltes hier im Haus zu entschuldigen. Selbstverständlich werden meine Bediensteten weiterhin um ihr leibliches Wohl be­müht sein, doch kann es durchaus vorkommen, dass sich die Es­senszeiten von Tag zu Tag um ein bis zwei Stunden verschieben. Dafür haben wir hier in der Küche einen Gong, dessen voller Ton die Bereitschaft des Personals zur Essensausgabe mitteilt.«

Ravenloft sah zur Seite weg und Scott interpretierte dies als eine Bewegung, die wohl der peinlichen Situation entsprungen sein mochte, zugeben zu müssen, dass die einst prächtige Familie mm mehr selbst finanziell nur noch ein Schatten ihrer selbst war. Um das unangenehme Schweigen zu brechen, wandte Scott schnell ein: »Aber das ist doch nichts Ungewöhnliches! In vielen Häu­sern, in denen ich zu Gast war, verfuhr man so. Einmal kam das Gesinde wegen eines Regenschauers nicht rechtzeitig vom Markt zurück, ein andermal gab es kein Wildbrett zu essen, da die Toll­wut im Wald die Rehe und Hirsche vergiftete…«

An dieser Stelle drehte der Baron derart wirsch den Kopf herum, dass sich sein Zopf wie ein lebender Aal um die linke Schulter wand. Ungewohnt laut, herrschte er den Kapitän an. »Wir Raven­lofts hassen es, wenn man unschuldige Landtiere abschlachtet und verspeist! Die Früchte des Meeres sind uns genug, denn zu viele Opfer hat das Meer unter den Menschen gefordert. Es ist un­sere Art, es ihm durch den Raub seiner Bewohner heimzuzahlen.« Scott schwieg, verwundert über die Heftigkeit des Ausbruchs bei seinem Gastgeber. Dieser beruhigte sich sogleich wieder und rieb sich mit dem Zeigefinger an der Schläfe. »Entschuldigen Sie, Mr. Scott. Ich sollte mich nicht derart erregen, ich bezahle mit dem Kopfschmerz einen zu hohen Preis dafür.«

»Ich verstehe, Herr Baron«, meinte Scott.

Ravenloft fuhr in einem versöhnlicheren Ton fort: »Unsere Tier­liebe ist auch ein Grund dafür, dass wir aus unserer geliebten englischen Heimat aufgebrochen sind, um in Amerika eine neue Bleibe zu finden. Auf der Insel des ungehemmten Fleischgenus­ses betrachtete man unsere Abstinenz mit Argwohn. Es ging am Ende so weit, dass wir nicht mehr zu gesellschaftlichen Anlässen geladen wurden. Aus Sorge, wir könnten mit unserer fleischlosen Art bei den übrigen Gästen anstößig sein. In der neuen Heimat hingegen, fiel uns das Überleben anfangs nicht leichter. Ganz im Gegenteil. Im Fischfang recht ungeschickt, weil es eine unge­wohnte Tätigkeit für meine Vorfahren darstellte, waren sie dazu gezwungen, auf die Hilfe der eingeborenen Indianerstämme zurückzugreifen. Man kann sagen, dass unsere Familie in den ers­ten Jahrzehnten nur durch und von den Indianern lebte. Bis mehr und mehr Europäer sich ansiedelten, die für unsere Belange dienstbar gemacht werden konnten.«

Scott nickte.

Der Baron setzte sich auf einen Stuhl und lehnte sich entkräftet zurück. »Meine Familie wuchs in den darauffolgenden Jahren stark an und es ist fast unglaublich, wenn ich Ihnen berichte, dass unsere Anzahl und Verbreitung weit in den Westen hinaus­griff. Unsere Kontakte zu den Indianern waren bei der Neubesie­delung der von Europäern noch unbewohnten Landstriche mehr als förderlich, sodass wir zu einflussreichen Leuten in der Politik aufstiegen. Doch nachdem man das Land vom Atlantik bis zum Pazifik erobert hatte, war unsere Aufgabe im Staat unerheblich geworden. Die Ravenlofts versanken in der Bedeutungslosigkeit, was durch den Argwohn der Demokraten gegenüber einer adligen Familie noch verstärkt wurde.«

Howard bemerkte, dass vollständige Hoffnungslosigkeit den Ge­sichtsausdruck von Edgar Anton Ravenloft kennzeichnete. »Grä­men Sie sich nicht Baron, das hat keinen Sinn. Dennoch verstehe ich, wie sehr es schmerzen muss, aus dem Licht in den Schatten geworfen zu werden.« Der Versuch einer Aufmunterung des Ge­müts von Ravenloft schlug fehl, wie Howard an der Antwort des Barons erkannte.

»Es ist sinnlos, so sinnlos … Können Sie sich vorstellen, dass Ih­nen bewusst ist, alle Fähigkeiten zu besitzen, die auf dem politi­schen Parkett nötig sind und Ihnen dennoch jegliche Möglichkeit der Einflussnahme genommen wurde? Man fühlt sich nutzlos, ohne Wert. Die eigene Existenz ist ohne Sinn. Zweckentfremdet lebe ich hier zusammen mit meiner Schwester und hänge trüben Gedanken der Vergangenheit nach. Meine einzige Unterhaltung ist das brausende Meer, das ich bekämpfe.«

»Wie sollte das möglich sein?«, wollte Howard wissen.

Ravenlofts Gesicht heiterte sich auf. »Die Merry Men haben mir den Weg gezeigt. Man muss nur beharrlich sein und jede emotio­nale Beteiligung am Kampf auf ein Mindestmaß zurückschrau­ben. Nur dann kann man gewinnen!« Der Baron ballte die erhobe­ne Hand zur Faust. In seinen beschatteten Augen funkelte es. »Je­den Tag stehe ich zur Sturmzeit auf dem Balkon und messe meine Stimmgewalt mit der des Windes. Ich schreie so lange bis die Luft sich mir ergibt und Windstille einkehrt. Manchmal kann das Stunden dauern. Mein Gesinde ist diese Übung gewohnt und fin­det nichts Ungewohntes mehr daran.«

Er zupfte seinen Morgenmantel zurecht. Das Licht des Mittags wurde blasser und tauchte das Schlafzimmer in ein geheimnis­volles Halbdunkel. Die Figuren auf den Gobelins schienen ihre Po­sition um wenige Millimeter zu verändern. »Doch das ist nicht al­les. Ich raube dem Meer seine Habseligkeiten in Form von angeschwemmtem Treibgut, die ich sogar mit langen Stangen aus dem Wasser fischen lasse. Wie Sie sicher wissen, gehören die se Dinge nach einem alten Gesetz demjenigen, der sie findet. Da­von bestreiten wir hier einen bescheidenen Handel, der jedoch dem Wechsel der Jahreszeiten unterliegt. Im Winter zerschellt kaum ein Schiff an den Merry Men Felsen, sodass wir wochenlang auf die wenigen Vorräte im Keller angewiesen sind. Hunger ist aber auch während der anderen Jahreszeiten unser ständiger Be­gleiter, wie Sie an meinem Aussehen sicher schon bemerkt haben werden.«

Scott schwieg bedrückt.

Der Baron lachte leise. »Habe ich Sie mit meinen Erzählungen verschreckt? Das täte mir leid. Ich heische nicht um Mitleid, aber ich fühle mich zu gewissen Erklärungen genötigt, da Ihnen mei­ne Gewohnheiten sicherlich seltsam erscheinen mögen. Hören Sie, was ich noch im Kampf gegen das Meer unternehme…«

Der Kapitän beeilte sich zu nicken. Der Baron war ihm in seinem mutigen Streiten mit den Mächten des Schicksals nicht unsympa­thisch, hatte doch auch er als Handelsoffizier oftmals mit den Ge walten des Meeres gekämpft.

»Nun«, fuhr Ravenloft fort. »In den belgischen Niederlanden ha­be ich von einer Methode erfahren, die mir geeignet scheint, dem Ozean einen Messerstich zu versetzen. Man legt umfriedete Land­schaften an, von einem Deich geschützt, sodass das Meer nicht mehr seinen angestammten Platz einnehmen kann. Mit jedem Jahr erweitert man die Fläche um wenige Meter, indem man den Steinwall versetzt. So trutzt man Jahr für Jahr dem Meer etwas mehr an Land ab und erhält im Gegenzug eine Ackerfläche mit wertvollem Boden. Ich habe mit unseren letzten Ersparnissen ein kleines Stück Strand nordöstlich von hier erworben und meinen Diener die entsprechenden Handlungsanweisungen gegeben. Ich plane dort Gemüse anzubauen, was den Aufschwung unserer Fa­milie zur Folge haben wird.«

Nun bewunderte Scott den Mann. Er hatte sich nicht gebeugt, war unerschrocken geblieben und kämpfte weiter gegen den Unbill der Gesellschaft und der Natur.

Wie ein kleines Kind klatschte der Baron in die Hände. »Nur noch wenige Jahre und ich werde das Meer gänzlich besiegt ha­ben. Der Wiederherstellung des guten Rufes steht dann nichts mehr im Wege. Ich hoffe, dass Sie nun meine Verschrobenheiten verstehen können. Sie dienen mir dazu, Kraft und Mut in einer scheinbar hoffnungslosen Lage zu schöpfen.«

Der Kapitän lächelte. »Lieber Baron. Ich bin ein Mann von Welt und erkenne einen mutigen Menschen, wenn ich ihn vor mir se­he. Sie sind einer!«

Edgar Ravenloft lächelte zurück, beugte sich vor und berührte Scott sachte an der Schulter. »Dann lassen Sie uns nach unten ge­hen und ein bescheidenes Mittagsmahl zu uns nehmen.«

Der Baron führte den Kapitän hinaus, obwohl sie beide noch im Morgenrock waren. Auf einem engen mit Gaslaternen gesäumten Flur liefen ihnen Dienstmädchen entgegen, die sich jedoch an der Garderobe der beiden Herren nicht störten. Scott nahm deshalb an, dass der Baron sich kaum in normaler Tageskleidung zeigte. Auch schien sein in sich gekehrter Lebenswandel kaum Möglich­keiten zu gesellschaftlichen Anlässen zu geben.

Über eine wuchtige Holzwendeltreppe ging es nach unten. Kaum hatte der Kapitän Zeit, die kunstvollen Intarsienarbeiten der Schreiner am Handlauf zu bewundern, geschweige denn fand er die Muße, von oben einen Blick hinab in das Vestibül zu wer­fen, derart geschwind hastete Ravenloft voraus und Scott mühte sich mit ihm Schritt zu halten.

»Mein bescheidenes Haus umfasst nur zwei Gebäudeflügel. Der eine auf der Meeresseite ist nahezu unbewohnbar geworden. Der Sturm hat viele Ziegel abgedeckt, sodass der unablässige Regen sein Zerstörungswerk ungehindert in den Zimmern vollbringen konnte. Meine Geldmittel reichen nicht aus, die Verwüstungen beheben zu lassen, deshalb sind die Räume nahezu leer. Es befin­den sich nur einige stockfleckige Möbel dort. Der Landflügel wird von mir und meiner Schwester bewohnt, wie sie schon wissen. Der Aufgang befindet sich auf der anderen Seite des Vestibüls.« Die Finger des Barons wiesen auf eine zweite Wendeltreppe ge­genüber, ähnlich derjenigen, die sie gerade hinabschritten. »Un­ten befindet sich das Esszimmer, der Rauchsalon und die Gesin­dekammer. Im Keller sind die Vorratsräume und die Küche, die durch einen Essensaufzugs mit dem Speisezimmer verbunden ist.«

»Eine ausgeklügelte Konstruktion«, merkte Scott an.

»Vielen Dank!« Der Kopf von Edgar Anton Ravenloft schwang herum. »Ich habe das Haus mittels meiner bescheidenen Architekturkenntnisse in Auftrag gegeben.«

Der Kapitän spitzte anerkennend die Lippen und brummelte: »Aha, bemerkenswert.«

Am Fuß der Treppe befand sich der Essensgong in einer hölzer­nen Vorrichtung frei schwebend aufgehängt. Der Boden wurde von einem arabischen Teppich eingenommen, der jedoch schon einige kahlgewetzte Stellen aufwies. Dennoch war seine ursprüngliche Schönheit für Howard Scott noch leicht erahnbar. Ei­ne Tür zur linken Seite stand weit offen. Der Geruch nach gebra­tenem Fisch drang aus dem dahinterliegenden Zimmer.

Der Baron trat über die Schwelle und umkreiste eine lange Tafel, an deren Kopfende eine verhüllte Person saß. »Mr. Scott, ich darf Ihnen meine Schwester Margret Ann Ravenloft vorstellen.«

Der Offizier machte einen Schritt auf die dunkle Gestalt zu. Ein Witwenschleier fiel von einem ausladenden Hut herab und ließ nur einen fragmentarischen Blick auf das Gesicht der Lady zu. Scott bemerkte die bleiche Hautfarbe und dunkle Augen. Er nahm an, dass die Ähnlichkeit zwischen Bruder und Schwester sehr hoch sein müsse.

Veröffentlichung der Leseprobe mit freundlicher Genehmigung des Verlages