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Der mysteriöse Doktor Cornelius – Band 1 – Episode 1 – Kapitel 3

Gustave Le Rouge
Der mysteriöse Doktor Cornelius
La Maison du Livre, Paris, 1912 – 1913
Erste Episode
Das Rätsel des Creek Sanglant

Kapitel III

Die Brüder Kramm

Zur selben Stunde, als Fred Jorgell vom tragischen Tod seines Klienten Pablo Hernandez erfuhr, verließ Baruch das abgelegene Haus, in dem er wohnte, durch eine Tür zur Straße hin, zu der nur er den Schlüssel hatte. So konnte er nach Belieben aus- und eingehen, ohne einen der Bediensteten zu stören.

Die Straße war zwar auf dem offiziellen Stadtplan eingezeichnet, bestand aber nur aus Bretterzäunen und Schuttbergen. Baruch überquerte sie, sprang über Pfützen und Gruben und folgte dem noch unvollendeten Boulevard, der Jorgell-City durchquerte und von einigen mächtigen Bogenlampen beleuchtet wurde. Schließlich blieb er vor einem großen, schlicht anmutenden Anwesen stehen.

Baruch Jorgell war auf dem Weg zu Dr. Cornelius Kramm.

Dr. Cornelius war in ganz Amerika berühmt, aber seine Wunderheilungen waren von einer besonderen Art.

Der Doktor war die Vorsehung all derer, die von einer körperlichen Beeinträchtigung oder Hässlichkeit geplagt wurden und in der Lage waren, die Kosten für eine sehr teure Behandlung zu tragen. Er begradigte Hakennasen, verkleinerte Knickohren, vergrößerte Augen, verkleinerte Münder, erhöhte Stirnen und korrigierte Taillen – mit einem Wort, er behandelte die lebende Substanz mithilfe der Chirurgie wie ein echtes Plastikmaterial, das er nach Lust und Laune formte.

Seine unbestreitbare Geschicklichkeit hatte ihm den seltsamen Spitznamen Menschenfleischschnitzer eingebracht, mit dem er umgangssprachlich bezeichnet wurde.

Über Cornelius‘ Vergangenheit war wenig bekannt. Er war eines Morgens angekommen, hatte sich prächtig eingerichtet und seitdem war sein Ruf dank einer geschickten Werbung, glücklicher Kuren und seines profunden Wissens stetig gewachsen.

Vor etwa zehn Jahren, so hieß es, war Cornelius als Arzt bei einem Bergbauunternehmen in der brasilianischen Provinz Matto Grosso angestellt, das über 500 schwarze Arbeiter beschäftigte.

Trotz der aktiven und sorgfältigen Überwachung kam es recht häufig zu Diebstählen. Ein solcher Vorfall ereignete sich gerade kurz nach dem Einzug des Arztes: Ein siebenhundertkarätiger Diamant verschwand und alle Durchsuchungen nach ihm blieben ergebnislos. Einige Wochen vergingen und der Diebstahl geriet in Vergessenheit, als ein alter Schwarzer erkrankte und in das von Cornelius geleitete Krankenhaus gebracht werden musste. Cornelius diagnostizierte eine akute Bauchfellentzündung, die durch einen Fremdkörper im Darm verursacht wurde, und wollte gerade eine Operation durchführen, als ihm der verschwundene Diamant wieder einfiel, denn er wusste, dass Schwarze oftmals gestohlene Steine verschlucken, um sie besser zu verstecken.

Zwei Tage später starb der Patient an einer irrtümlich verschriebenen Blausäuretablette und der Arzt fand, wie er erwartet hatte, bei der Sezierung des Leichnams den 700 Karat schweren Diamanten. Im Laufe desselben Monats kündigte Kornelius aus gesundheitlichen Gründen und reiste nach Europa, wo sich seine Spur verlor.

Die Vorgeschichte von Fritz Kramm war ebenfalls mysteriös. Er hatte sein Vermögen im Handel mit Gemälden und Kunstgegenständen gemacht; das war das Einzige, was man über ihn genau sagen konnte. Seine Feinde behaupteten zwar, er habe zu einer internationalen Bande von Museumsräubern gehört, deren Hehler er geblieben sei, aber niemand hätte einen Beweis für eine so verleumderische Behauptung liefern können. Diese Gerüchte schadeten den beiden Brüdern nicht, denn es gibt keinen Mann, der es zu etwas gebracht hat, der nicht von Verleumdungen betroffen ist.

Als Baruch an der Tür des seltsamen Arztes klingelte, war es vielleicht zehn Uhr abends, und nur wenige Lichtstrahlen drangen durch die Ritzen der hermetisch verschlossenen Fensterläden.

Der Diener, der die Tür öffnete, führte den jungen Mann schweigend in einen Wartesaal, der mit schlichter Eleganz eingerichtet war und in dem sich bereits eine schwarz gekleidete Person befand, die dem Besucher höflich entgegenkam. Es war ein alter Italiener namens Leonello, der seit vielen Jahren in den Diensten des Doktors stand.

»Was kann ich für Sie zu tun?«, fragte er Baruch.

»Ich möchte den Doktor sprechen.«

»Leider ist das nicht möglich, der Doktor arbeitet.«

»Er erwartet mich«, erwiderte Baruch nachdrücklich, »hier ist meine Karte.«

»Tausendmal Verzeihung«, sagte der Italiener unterwürfig, nachdem er einen Blick auf die Karte geworfen hatte, »ich werde Sie anmelden.«

Leonello kam einige Augenblicke später zurück. Sein hageres Gesicht hatte etwas Sarkastisches an sich.

»Mein Herr wird sich sehr freuen, Sie zu empfangen«, sagte er, »aber er kann die Tätigkeit, an der er arbeitet, nicht aufgeben, also müssen Sie mich in sein Labor begleiten.«

»Was ist das für eine Arbeit?«

Die listige Physiognomie des Italieners wurde ironischer.

»Der Doktor ist mit einer Einbalsamierung beschäftigt, es geht um den unglücklichen Pablo Hernandez, dessen Leiche heute Morgen entdeckt wurde. Die Familie hat dem Doktor telegrafiert, dass er alles Nötige veranlassen soll, und Sie werden das Privileg haben, der Operation beizuwohnen.«

»Ich danke Ihnen«, stammelte Baruch, dessen Gesicht sich in eine tödliche Blässe verwandelt hatte, »ich möchte so etwas nicht sehen.«

»Ich verstehe das.«

»Sagen Sie dem Arzt, dass ich warten werde, bis er fertig ist.«

»Das kann lange dauern.«

»Macht nichts, ich warte lieber.«

Leonello schlich sich davon. Baruch blieb allein zurück, saß in Wut und Ungeduld da, bis schließlich der Arzt erschien.

Dr. Cornelius Kramm war kaum älter als sechsunddreißig Jahre, aber sein riesiger, völlig kahler Schädel, seine große goldene Brille und sein hageres, glatt rasiertes Gesicht ließen ihn viel älter erscheinen. Seine Gesichtszüge waren natürlich und er machte auf den ersten Blick den Eindruck eines mächtig intelligenten Mannes, aber seine schmalen Lippen und seine unruhigen, neugierigen Augen hinter den gelben Kristallgläsern der Brille verursachten ein unsagbares Unbehagen. Er drückte sich mit eisiger Langsamkeit und Trockenheit aus.

Die beiden Männer grüßten sich nicht. Da sie nun ohne Zeugen waren, waren banale Höflichkeitsfloskeln nicht angebracht.

»Auch wenn ich den großen Rubin selbst nicht besitze«, sagte Baruch, »so kenne ich den Wert, von welchem ich Ihnen erzählt habe.«

»Das weiß ich am besten«, erwiderte Cornelius zynisch, »denn ich habe gerade die Einbalsamierung des Vorbesitzers abgeschlossen.«

Baruch verzog keine Miene.

»Ich möchte sofort Geld haben«, sagte er.

»Nun gut, dann gehen wir zu meinem Bruder.«

Es wurde kein weiteres Wort gewechselt. Cornelius nahm eine kleine elektrische Laterne und führte seinen Gast durch die Gartenwege bis zu einem Eisentor, das die Grundstücke der beiden Brüder miteinander verband.

Nach dem Durchschreiten des Tores befanden sie sich in einer großen Halle, die vom Boden bis zum Dach mit einer Ansammlung von Gemälden und Statuen aus allen Zeiten und Stilrichtungen vollgestopft war. In einem in der Mitte eingerichteten Freiraum befanden sich ein Schreibtisch, Sitzgelegenheiten und ein großer, in die Wand eingelassener Tresor.

Cornelius und Baruch hatten kaum Zeit, sich zu setzen, als Fritz Kramm, wahrscheinlich schon vorgewarnt, am anderen Ende der Halle auftauchte.

Der Kuriositätenhändler unterschied sich in seinem Äußeren völlig von seinem Bruder, dem Doktor. Cornelius war mager, ausgemergelt und mürrisch, Fritz hingegen war korpulent, rötlich, fröhlich und äußerst freundlich in seinen Manieren und seinem Auftreten.

Er war das, was man in Frankreich einen Bonvivant nennen würde.

Sein freundliches Lächeln und seine hellgrauen Augen voller Offenheit machten ihn auf den ersten Blick sympathisch, aber wenn man seine übermäßig entwickelten Kiefer, die großen, schlecht geformten Ohren und die riesigen Hände mit den kurzen Fingern und den kugelförmigen Daumen genau betrachtete, war man weit weniger beruhigt.

Als Fritz Baruch erblickte, ging er mit ausgestreckter Hand auf ihn zu.

»Es freut mich, Sie zu sehen«, sagte er, »oh, ich wusste, dass Ihr Besuch nicht lange auf sich warten lassen würde. Ich habe Sie schon erwartet.«

Baruch atmete auf, dieser Ton gespielter oder echter Herzlichkeit war ihm angenehm.

»Sie können sich denken, was mich hierher führt«, sagte er.

»Parbleu! Sie brauchen dringend Geld.«

»Wie Sie sagen …«

»Sehen wir uns die Wertpapiere an.«

Baruch zog aus der Tasche seines Overcoats ein großes Marokko-Portfolio; aber er errötete und wurde unruhig, als er plötzlich bemerkte, dass der Name von Don Pablo Hernandez in goldenen Buchstaben in einer der Ecken abgedruckt war.

»Das ist«, sagte Cornelius mit seiner harten, brüchigen Stimme, »ein kleines Souvenir, das ich Ihnen nicht zu behalten rate, Herr Jorgell!«

Sofort griff Fritz Kramm mit versöhnlichen Gesten ein.

»Gut«, sagte er, »das ist schon in Ordnung, man denkt nicht an alles; aber sehen wir uns die Werte an (und er hatte Baruch die Brieftasche aus der Hand genommen). Öl, Kupfer, Gummi, ausgezeichnet, die meisten sind im Aufwärtstrend; wer sie gekauft hat, war alles andere als ein Dummkopf. Aber es ist so: Nicht jede Aktie ist eine Wertanlage; nur ich kann das für Sie aushandeln, und selbst dann nicht ohne Risiko. Zählen wir mal. Es sind dreihunderttausend Dollar; ich werde Ihnen also wie vereinbart hunderttausend Dollar in Banknoten und Gold zahlen.

Baruch machte eine rebellische Bewegung, die schnell unterdrückt wurde.

»Ich glaube«, fuhr Fritz fort, ohne ihm Zeit zum Reden zu lassen, »dass mein Vorschlag vollkommen gerecht ist: Hunderttausend Dollar für mich, der Aktien und Anleihen annimmt, die ich nur schwer verkaufen kann; hunderttausend Dollar für meinen Bruder, der den medizinischen Bericht unterschrieben hat, und hunderttausend für Sie, der …«

»Deshalb habe ich auch nicht protestiert«, unterbrach Baruch lebhaft.

»Ich glaube, wir verstehen uns ausgezeichnet.«

Mit den sorgfältigen und friedlichen Bewegungen eines ehrbaren Kaufmanns ging Fritz zum Tresor und zog ein Bündel Banknoten heraus, das er Baruch überreichte.

»Sehen Sie«, sagte er mit einem freundlichen Lächeln, »die Summe lag bereit, zählen Sie sie noch einmal; ich glaube, die Summe ist korrekt, aber jeder kann sich irren.«

»Es ist nicht nötig«, erwiderte Baruch und steckte die Banknoten in seine Tasche, »ich danke Ihnen; es ist nicht unmöglich, dass ich noch einmal Gelegenheit haben werde, Ihre Hilfsbereitschaft in Anspruch zu nehmen.«

»Alles zu Ihren Diensten.«

Baruch verabschiedete sich.

Fritz bestand darauf, ihn bis zur Haustür zu begleiten, und sie trennten sich, nachdem sie einen loyalen Handschlag ausgetauscht hatten.

Fritz war zu seinem Bruder zurückgekehrt. Als die beiden in der großen Halle mit den Gemälden gegenüber dem Tresor allein waren, tauschten sie ein seltsames Lächeln aus.

»Ich glaube, wir haben ihn«, sagte Cornelius.

»Oh«, stimmte Fritz zu, »er gehört jetzt uns, uns ganz allein, er war sehr dickköpfig, nur fürchte ich, dass er kein sehr gefügiges Werkzeug ist.«

»Jeder wird gefügig, wenn er in unsere Hände fällt«, sagte der Arzt mit einem grimmigen Grinsen. »Ich sehe nur einen dunklen Punkt in unseren Plänen … Dieser junge Harry Dorgan?«

»Wir werden es überdenken. Wir müssen es uns gut überlegen. Ich finde, das ist genug Arbeit für einen Tag …«

Die beiden Brüder beendeten ihr Gespräch und trennten sich. Cornelius ging zurück in sein Labor. Fritz zog sich um und verbrachte den Rest des Abends bei einem reichen Kohlenhändler, der einer seiner besten Kunden war und dem er eine ganze Galerie von Bildern geliefert hatte.

In der Zwischenzeit hatte Baruch ein Taxi bestellt und sich zum berühmten Club Haricot Noir fahren lassen.