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Der Detektiv – Band 22 – Das Armband der Lady Melville – Teil 2

Walter Kabel
Der Detektiv
Band 22
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Das Armband der Lady Melville

Teil 2

Er hatte schon den Dietrich in das Schlüsselloch der großen Tür geschoben. Ich hörte ein Knacken. Und Harst legte die Hand auf den plumpen eisernen Drücker, wandte den Kopf und flüsterte: »Inspektor Barkeröd hat Nachmittag in aller Stille den Sarg Busleys ausgraben und hierher schaffen lassen. Deshalb kam ich auch so spät zur Majorin. Ich war nämlich auf dem Kirchhof, weil ich mir das Grab des Geheimnisvollen ansehen wollte. Ich vermutete, die Ausgrabung hätte bereits stattgefunden. Dass Barkeröd sie vornehmen würde, war ja selbstverständlich. Ich hatte Glück. Als ich den Kirchhof verließ, kamen die Arbeiter mit den Schippen. Natürlich wollte ich feststellen, was sie vorhätten. Und jetzt werden wir uns ebenfalls mal den Toten ansehen; ohne Barkeröds Erlaubnis, der ja froh war, als wir angeblich nach Gjester abdampften und weiter kein Interesse für Busley zeigten.«

Er öffnete die Tür. Der scharfe Geruch von irgendeinem chemischen Präparat schlug uns entgegen. Harst drückte die Tür sacht ins Schloss, führte den Dietrich wieder ein und hatte den Riegel sehr bald vorgeschoben. Ich leuchtete ihm dabei.

Wir ließen die beiden Lichtkegel unserer Lampen umhergleiten. Es war ein gut 8 Meter langer und 5 Meter breiter, gewölbter Raum. Sechs zinkbeschlagene, schmale Tische standen in der Mitte nebeneinander. Drei davon waren belegt: Stille Schläfer ruhten dort; zwei Männer und eine Frau mit aufgelöstem hellblondem Haar; Leichen, mit denen die Polizei sich zu beschäftigen Grund hatte.

In der Ecke links war auf zwei Holzblöcke ein erdbeschmutzter Sarg gestellt. Der Deckel lag nur lose auf.

Harst winkte mir. Wir fassten an. Nun konnten wir in den Sarg hineinschauen.

»Ah!«, rief Harst unwillkürlich. »Das hätte ich nicht erwartet!«

Auf Hobelspänen lag da ein grober Leinensack, der halb aufgeschnitten die Mauersteine sehen ließ, mit denen er gefüllt war.

Ich wollte den Deckel wieder in die Lage zurückbringen.

»Nein!«, wehrte Harst ab. »Dort auf den Boden mit ihm! Leise! Ich möchte mir auch diese Leichenattrappe anschauen.«

Er tat es mit jener Gründlichkeit, die ihm stets eigen ist.

Ich stand voller Ungeduld dabei. Weshalb er nun den groben Sack so eingehend sich ansah und sogar samt den Steinen anhob, begriff ich nicht recht.

Er ließ die schwere Leichenattrappe wieder zurücksinken. Die Hobelspäne knisterten. Das Geräusch machte mich nervös.

»Beeile dich doch!«, meinte ich. »Hier ist es wirklich nicht gemütlich genug, um …«

Ich verstummte. Gleichzeitig waren wir beide herumgeschnellt. Ein Geräusch von der Tür her hatte uns gewarnt. Unsere Lampen erloschen sofort. Regungslos lauschten wir. Nun, ein heller weißer Strahl schoss auf uns zu, verschwand wieder. Abermals ein Ton, wie das vorsichtige Senken eines Türdrückers.

Mit langen Sätzen schnellte Harst sich plötzlich vorwärts. Seine Taschenlampe flammte auf. Ich auf Fußspitzen hinter ihm drein.

Er hatte schon den Dietrich in der Hand, führte ihn ins Schlüsselloch ein.

»Verdammt!«, murmelte er. »Da hat jemand von der anderen Seite einen Schlüssel ins Schloss gesteckt. Wir sind gefangen. Na, Inspektor Barkeröd wird nun ja sehr bald wissen, dass wir nicht abgereist sind. Schade! Ich hätte lieber ohne ihn weitergearbeitet an diesem neuen Fall. Hier ist ein Sack mit Steinen beerdigt worden. Das deutet doch fraglos auf eine sehr große Sache hin!«

»Du glaubst also, es war der Hausmeister, der uns hier einsperrte?«

»Gewiss. Er wird uns trotz unserer Lautlosigkeit gehört haben, vermutet Diebe in uns, wird die Polizei anrufen. Hinaus können wir nicht. Da die kleinen Fenster sind stark vergittert. Diese Tür aber ist aus Eichenholz. Setzen wir uns dort auf die Stühle neben den großen Seziertisch. Was sollen wir anderes tun? Ich habe noch sechs Mirakulum bei mir, für dich zwei, für mich vier. Was meine Spezialzigarette anbetrifft, so bin ich schamloser Egoist. Komm nur. Es kann eine halbe Stunde dauern, bevor die Offiziellen hier sind.«

In einem Leichenkeller eine halbe Stunde sitzen und Zigaretten rauchen! Aber was sollte ich anderes machen, als Harsts Beispiel folgen. Ich setzte mich neben ihn. Er hielt mir sein Reiseetui hin, eine dunkle Buchsbaumschachtel.

»Bediene dich bitte. Schalte aber deine Lampe aus. Die eine genügt.«

Als er mir das brennende Zündholz reichte, als mein scheuer Blick gerade da den Kahlkopf der einen der beiden männlichen Leichen traf, da erst fiel mir das Rätselwesen am Fenster des Fremdenheims ein.

»Ich habe Abend gegen dreiviertel sieben etwas Merkwürdiges beobachtet«, begann ich flüsternd. »Ich weiß nicht, ob es dich interessieren wird.«

»Nur zu!«, meinte Harald und schlug ein Bein über das andere. »Was war es denn? Beobachtet? Dann kann es nur etwas auf der Straße vor unserem Haus oder am Haus gegenüber gewesen sein.«

Ich berichtete. Aber ich fasste mich kurz.

Harst beugte sich plötzlich vor. Seine Haltung bewies eine gewisse Spannung, ebenso seine Worte,

»Erzähle nochmals, aber ganz eingehend. Also einen blanken Kahlkopf hatte das Geschöpf? Und was war es mit dem großen Maul dieses angeblichen Schwarzen?«

Er horchte auf, als ich von den fehlenden Ohren und der fehlenden Nase sprach, fragte hastig:

»Und der Leib? Der Körper? Besinne dich! Wie war das Wesen bekleidet? Schließe mal die Augen, rufe dir das Bild wieder ins Gedächtnis zurück! Sahst du irgendetwas, das …«

»Ja, jetzt fällt mir ein: Das Geschöpf trug vielleicht einen farbigen Umlegekragen. Aber einen sehr großen. Weiß war dieser Kragen auf keinen Fall! Nein – sogar dunkel. Er schimmerte so matt wie vielleicht Gummiwäsche.«

»Und der Hals war auffallend kurz?«, forschte Harst weiter.

»Ja. Falls von einem Hals die Rede sein kann. Der Kopf steckte auf dem Leib, als ob man einen Kürbis direkt auf einen Rumpf setzt.«

»Und die Arme?«

»Davon bemerkte ich nichts. Der Gesamteindruck war jedoch der einer menschlichen Gestalt. Das bleibt bestehen!«

Harst lehnte sich wieder zurück, rauchte schweigend wohl fünf Minuten lang, rauchte wie einer, der mit den Gedanken weit weg ist und die Zigarette nur mechanisch zum Mund führt.

Dann beugte er sich wieder vor, legte mir die Hand auf das Knie.

»Du ahnst nicht«, sagte er langsam, »wie ungeheuer wichtig dieses Rätselwesen für unsere jetzige Arbeit ist, lieber Alter! Wie ein Blitz kam mir soeben die Erleuchtung. Ich weiß, welcher Art dieses Geschöpf war! Ich weiß, weshalb es dir als Rätselwesen vorkam bei dem flüchtigen Eindruck. Nur die Hauptsache weiß ich nicht: Wozu man dieses Geschöpf benutzen will, zu dem sowohl der Briefumschlag, den ich in meinem Balkonzimmer fand, als auch der Leinwandsack dort im Sarg in Beziehung stehen!«

Er verschränkte nun die Arme über der Brust. Ich hatte keine Zeit, über das soeben Gehörte nachzudenken, denn er fragte schon wieder: »Bei dir im Zimmer lagen Zeitungen auf dem Tisch. Ich fühlte das. Hast du dir die neuesten Blätter gekauft? Stand darin irgendetwas Besonderes? Ich meine irgendetwas, das irgendwie in unser Fach schlägt?«

»Nein – nichts! Ein neuer Raubmord in Berlin; den Täter hat man schon dingfest. Ein paar Diebstähle und Hochstaplerstückchen. Nichts von Bedeutung – alles Alltagsware.«

»Hm, das soll man nicht so ohne Weiteres behaupten. Vieles schaut alltäglich aus und kann doch wie ein Leckerbissen sein. Nun, wir werden morgen jedenfalls die Zeitungen der letzten vier Wochen etwa uns besorgen und darin nach Seeunfällen suchen. Ich interessiere mich augenblicklich sehr für Schiffsuntergänge, Strandungen und Ähnliches. Dieses Interesse kann zwecklos sein. Aber es ist jedenfalls da!«

»Und woher dieses Interesse, wenn ich fragen darf und du ausnahmsweise in mitteilsamer Stimmung bist?«

»Lieber Alter, du hast Pech! Ich bin nicht in mitteilsamer Stimmung. Ich frage mich augenblicklich, wie es kommen mag, dass die Polizei uns noch immer nicht am Kragen hat.«

Er zog seine Uhr. »Wir sitzen hier nun bereits 33 ½ Minuten. Verstreichen noch fünfzehn Minuten, ohne dass die Offiziellen erscheinen, so bekenne ich, dass ich mich geirrt habe, dass der Kerl schlauer war als wir und wir selbst uns einen Trumpf in unserem Spiel verdorben haben. Also noch fünfzehn Minuten. Bitte, hier ist deine zweite Zigarette. Ich nehme die dritte.«

Er blies einige gut gelungene Rauchringe.

»Würdest du mir vielleicht erklären, was …«

»… diese letzten Sätze bedeuten?«, vollendete er ganz richtig. »Gewiss will ich das. Nach fünfzehn Minuten. Wenn sie um sind, wird noch mehr geschehen: Wir werden dann versuchen, aus diesem Gewölbe gewaltsam ins Freie zu gelangen. Es wäre vielleicht richtiger, Lärm zu schlagen, damit wir noch rechtzeitig heimkommen.«

»Rechtzeitig heimkommen?«, meinte ich. »Es ist …«

»… empörend von dir, dass du nie sofort mit dem Ganzen herausrückst, sondern nur mit Teilen! Das wolltest du doch wohl sagen, mein Alter! Ja, würde ich nicht deine Denkbequemlichkeit in für dich sehr nachteiliger Weise unterstützen, wenn ich stets meine Weisheit restlos sogleich zum Besten gäbe? Diese Andeutung rechtzeitig heimkommen hängt mit dem Kerl und dem verdorbenen Trumpf zusammen. Na, wird’s nun hell bei dir?«

Ich schwieg. Harsts offenbar glänzende Laune in dieser schauerlichen Umgebung störte mich – mild ausgedrückt.

Und er schwieg nun auch.  Ringsum Totenstille. Hier passte dieser Ausdruck. Dort rechts lagen die stillen Schläfer, die irgendein trauriges Schicksal betroffen hatte. Vielleicht waren es die Opfer von Verbrechen; vielleicht Selbstmörder.

Harst machte eine Bewegung. Ich schaute hin. Er hatte seine Uhr in der Hand.

»Die Viertelstunde ist um, lieber Schraut. Ich habe mich also geirrt. Es war nicht der Hauswart dieses Gebäudes, der uns hier eingesperrt hat. Wer aber war es? Nun?«

Ich trat den glimmenden Zigarettenstummel mit dem Fuß aus.

»Du!«, rief Harst leise. »Sofort hebe den Rest Zigarette wieder auf und stecke ihn zu dir. Inspektor Barkeröd würde aus diesem Zigarettenstumpf unschwer feststellen, dass wir hier gewesen sind. Meine Mirakulum hast fu ja durch deine Veröffentlichung unserer kleinen Abenteuer zu einer nur zu bekannten Marke gemacht! Also, wer sperrte uns hier ein? Du zuckst die Achseln. Lieber Alter, die Sache ist doch so leicht zusammenzustellen und ergibt ein Bild, das als logisches Denkgemälde auf den Kerl hinweist, der vorhin so leise die Wohnung der Majorin verließ.«

Ah, jetzt wurde es wirklich hell in mir.

»Der Mensch hat dich bemerkt, als du an der Leine …«

»… oder dich!«, fiel Harst ein. »Wen von uns beiden, ist gleichgültig. Er folgte uns. Und daraus, dass er uns hier einschloss, oder besser, dass er von der anderen Seite irgendeinen Schlüssel so ins Schloss steckte, dass unser Dietrich außer Gefecht gesetzt wurde, daraus geht hervor, wie recht ich hatte, als ich behauptete, dieser Möblierte der Majorin verdiene ein Fragezeichen. Der Mensch hat eben sofort richtig durchschaut, dass wir Spione sind, hat uns, wozu ihn sein eigenes schlechtes Gewissen trieb, hier festgehalten, weiß nun, dass es für ihn höchste Zeit ist, das gastliche Heim der Thorstensen zu verlassen – das ist der verdorbene Trumpf, lieber Schraut! – wird jetzt seine Koffer packen und heimlich verduften. Wir aber werden nicht mehr rechtzeitig heimkommen, seinen Abzug zu verhindern. So, das ist das logische Gemälde.«

Ich streckte ihm die Hand hin.

»Glänzend Harald! Meine neidlose Anerkennung!«

»Oh, glänzend war der Kürbiskopf des Rätselwesens, nicht diese schlichte Schlussfolgerung!«, meinte er und stand auf. »Sehen wir uns nach Werkzeugen zum Ausbrechen um.«

Wir fanden in einem Schrank so manches, was einem Harst genügte, eines der Fenstergitter zu lockern und hochzubiegen. Diese Arbeit beanspruchte anderthalb Stunden, da Harst darauf Gewicht legte, dass wir allzu auffällige Spuren unseres Ausbruchs vermieden.

Es schlug von zwei nahen Kirchtürmen drei Uhr morgens, als wir in die Olfersgade einbogen. Der Nebel war noch dichter geworden.

Harst kletterte dann vor unserem Haus auf meine Schultern, um nach der Leine zu suchen.

»Ah – ich habe sie!«, meldete er leise. »Warte, ich versuche erst, ob der Kerl uns nicht einen Streich gespielt hat. Ich werde mit einem Ruck von deinen Schultern abspringen. Hält die Leine diese Probebelastung aus, dann …«

Da sprang er schon und sprang vor mir auf den Bürgersteig, während das oben abgerissene Ende der Leine mir auf den Kopf fiel.

»Siehst du, mein Alter!«, gab Harst leise lachend von sich. »Der Schuft hat wenigstens einem von uns zu einem Beinbruch oder einer Rückgratverstauchung, wenn nicht zu einem Genickbruch verhelfen wollen. Er wird am Balkongeländer die Schlinge halb durchschnitten haben. Was hältst du nun von diesem Menschen?«

»Einer von James Palperlons internationaler Verbrecherbande!«

»Oder er selbst!«, konstatierte Harst.