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Deutsche Märchen und Sagen 142

Johannes Wilhelm Wolf
Deutsche Märchen und Sagen
Leipzig, F. A. Brockhaus, 1845

184. Das Marienbild im Dom zu Speier

Sankt Bernhard hatte sich einmal verspätet unter den Fürsten, die zu einem Reichstag gen Speier gekommen waren. Die Stunde, wo er gewöhnlich Maria mit einem Ave zu grüßen pflegte, hatte schon längst geschlagen, als er sich erst seiner Säumnis erinnerte. Er lief also, so sehr er konnte, dem Dom zu und begann schon einige Schritte vor dem Altare sein Gebet: O clemens, o pia, o dulcis virgo Maria, d. h. O du gütige, o du milde, o du süße Jungfrau Maria.

Als er aber am Altar stand, da schaute ihn die Muttergottes nicht mit ihrem sonst so freundlich lächelnden, sondern mit einem Auge voll Verweises an und fragte aus dem Bild: »Sancte Bernarde, unde tam tarde?« D.h. O heiliger Bernhard, wo bist du denn so lange gewesen, warum kommst du so spät?

Dies war der Bernhard jedoch nicht gewohnt und er antwortete Maria mit den Worten Paulusʼ: »Mulier taceat in ecclesia.« D. h. Das Weib soll in der Kirche schweigen.

Seitdem hat das Bild kein Wort mehr gesprochen.