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Die Berechnung der Sterne

Mary Robinette Kowal
Die Berechnung der Sterne
Originaltitel: The Calculating Stars
Science Fiction, Klappenbroschur, Piper, München, Januar 2022, 512 Seiten, 18,00 EUR, ISBN: 9783492705974, Übersetzung: Judith C. Vogt

»Erinnerst du dich daran, wo du warst, als der Meteor eingeschlagen hat?«, fragt Elma York, sowohl Erzählerin als auch Hauptfigur von Mary Robinette Kowals Roman, und antwortet postwendend, wo sie und ihr Gatte waren, als einfach alles anders, unabänderlich anders wurde. Heutzutage würde man bei einer Katastrophe dieses Ausmaßes und deren negativer Nachhaltigkeit von einem Game Changer sprechen; einem Ereignis, das neben der unmittelbaren Tragweite insbesondere die Regeln der Zukunft schlagartig ändert, respektive komplett neu ausrichtet, denn neben im Grunde kurz- bis mittelfristigem globalem Leid wurde zudem etwas bedeutend Permanenteres ausgelöst: ein vollkommen aus dem Ruder geratenes Weltklima. Umkehrbar? Wohl eher nicht. Die Folgen? Ein Planet, der für dessen Bewohner nicht erst in weiter, sondern in ziemlich absehbarer Zukunft unbewohnbar sein wird. War es gestern reine Theorie, ist es heute traurige Wahrheit. Ergo müssen andere Visionen und Theorien auf schnellstem Wege realisiert werden, falls die Spezies Mensch überleben will – auf einem oder anderen Planeten. Doch zuvorderst heißt es, Menschen zumindest erfolgreich in den Orbit zu schaffen, bevor zum Beispiel der Aufbau einer permanenten Mondkolonie in greifbare Nähe rückt. Für diese Ziele sucht die Weltmacht Amerika sogar den Schulterschluss mit den vermeintlichen Feinden China und der Sowjetunion und  vernachlässigt bei all dem angebracht-berechtigten Eifer die zahlreichen eigenen, internen Problemherde, denn nicht ausschließlich, aber eben auch innerhalb der IAC (International Aerospace Coalition) unterstehen die Leitungen zu einem beängstigend großen Teil Herren mit einem klar ausgeprägten misogynen Weltbild. Da mag der Mensch zählen, doch an der Speerspitze steht einzig und allein der Mann. Ausgeprägter, hässliche Alltagsfrauenfeindlichkeit, die die Physikerin Elma und ihre Kolleginnen tagtäglich beim IAC erleben – obwohl ohne die Berechnungen der menschlichen Computer die meisten Raketen am Boden verharren würden oder Schlimmeres. Dank eines alten Bekannten aus Kriegstagen ist Elma dem Hass sogar noch stärker ausgesetzt, bis sie das Schicksal in das Fernsehstudio einer beliebten Wissenschaftssendung führt und die eher verhaltene Elma über Nacht zu einer nationalen Berühmtheit wird, ob der selbst zahlreiche, wenngleich nicht alle Skeptikerstimmen verstummen: die Lady Astronaut.

Mögen ihr die frisch gewonnene Berühmtheit und die Aufregung nicht wirklich zusagen, so nutzt Elma dennoch beides, um nicht nur die Werbetrommel für das Raumfahrtprogramm zu trommeln, sondern auch für die neu entstandene Lady Astronaut-Bewegung, die später sogar Unterstützung von einem gewissen Martin Luther King erhält, denn bereits im Zweiten Weltkrieg stellten Frauen unter Beweis, dass sie keinesfalls schlechtere Pilotinnen sind als die männlichen Pendants. Gute Aussichten? Mitnichten. Der Weg bleibt beschwerlich und holprig …

Ein wichtiger Aspekt von prägnanter, hervorstechender Science Fiction ist der Aspekt, dass man sich – oder den Menschen mitsamt dessen Lebensraum per se – in der Geschichte wiedererkennt. Mit ihrem Alternativweltroman ist dies Mary Robinette Kowal vorzüglich gelungen. In ihrem Werk steht der Meteor respektive dessen Folgen nach dem Einschlag für die Dringlichkeit, mit der wir in Sachen Klimawandel handeln sollen, ja müssen, ehe eine unbewohnbare Erde Realität wird. Durch den narrativen Kniff der Dringlichkeit beschleunigt sie nicht nur das globale Handeln, sondern zeigt ferner ihre  straffen Abfolge auf, was uns so alles blühen kann, wenn wir nicht endlich aus dem Quark kommen. Das so manche ihrer Prophezeiungen, die oft in Form von Zeitungsschnipseln daherkommen, bereits zu großen Teilen eingetreten sind, macht das Ganze noch beängstigender. Ohnehin ist Die Berechnung der Sterne ein Roman mit einem ausgeprägten Déjà-vu-Aspekt. Man spürt die Last, die der Autorin sicherlich nicht erst seit neulich auf den Schultern lag: Umweltzerstörung, Klimawandel Frauenrechte, Rassismus, Abgrenzung – der Roman mag in den 1950ern spielen, wirkt aber über weite Strecken allzu aktuell und zeigt auf, das wir vielleicht den richtigen Weg eingeschlagen haben, sich aber vieles, zu vieles seit der damaligen Zeit kaum zum Besseren gewandelt hat oder schlichtweg stagniert. Rückschritt statt Progress. Sollte es nicht andersherum sein?

Fazit:

Mary Robinette Kowals Die Berechnung der Sterne ist ein großer Wurf. Ebenso mitreißend und unterhaltsam wie belehrend, legt der Roman aktuelle und dringliche Probleme unter Zuhilfenahme einer alternativen Zeitlinie offen und überzeugt zudem mit Aufbruchsstimmung und Sense of Wonder. Ein großes Lob gilt ferner der Übersetzerin Judith C. Vogt, die diese gewiss nicht einfache Arbeit bravourös zu meistern wusste. Bleibt zu hoffen, dass man hierzulande in absehbarer Zukunft auch in den Genuss der Nachfolgebände kommen wird.

(tsch)