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Der Welt-Detektiv Band 6

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Adventskalender 2021 – 17. Türchen

Text und Glosse
Aus: Deutsche Märchen von Karl Simrock, Stuttgart, 1864

Ein reicher Müller im Bayernland schickte seinen Sohn auf die Hochschule zu Ingolstadt, die Rechte zu studieren. Das währte drei Jahre und kostete dem Müller ein rundes Sümmchen Geld. Dafür dachte er aber: Wird mein Sohn auch was Nützliches gelernt haben?

Als er nun wieder nach Hause kam, beschwerte sich der Alte über das viele Geld, das der Herr Sohn verstudiert habe. Gleichwohl sagte er: »Gäbe ich mich gerne zufrieden, wenn ich wüsste, dass es wohl angelegt wäre. Zeige mir einmal deine Bücher her.«

Da trug der Student ein schweres Buch herbei, das der Codex hieß. Darin war die Schrift in der Mitte grob, aber rings umher lief kleine feine Schrift.

Da fragte der Müller: »Was soll die doppelte Schrift bedeuten?«

Der Sohn versetzte: »Die grobe Schrift in der Mitte ist der Text und die feine Schrift umher ist die Glosse.«

Der Müller sagte: »Latein versteh ich nicht, sag mir es auf Deutsch.«

Da sagte der Sohn: »Der Text ist das Gesetz, das die Kaiser gegeben haben, Recht danach zu sprechen. Hernach haben aber die Gelehrten darüber geschrieben, wie man es verstehen und bei Gerichten damit umgehen solle, ein jeder nach seinem Verstand, ein Langes und Breites. Das nennt man die Glosse.«

Der Müller schwieg, obwohl es ihm nicht gefiel und sprach: »Diesen Mittag bist du bei deinem Oheim, dem Pfarrer, zu Tisch; der wird mit dir in Latein konversieren, dass ich höre, wie du Geld und Zeit angewandt hast.«

Während der Sohn nun beim Pfarrer zu Tisch saß und sich auf den Zahn fühlen ließ, nahm der Müller das Buch, das ad marginem glossiert war, zeichnete es mit der Rötelschnur ab, nahm das Zimmerbeil und hieb die Glosse rund herum glatt hinweg; den Text aber ließ er stehen. Als der Sohn wiederkam und das Tentamen bei seinem Oheim, dem Pfarrer, wohl bestanden hatte, sah er das Buch auf dem Tisch liegen.

Da schrie er: »Ach und Weh! Vater, warum habt Ihr mir mein bestes Buch verdorben?«

Da sprach der Müller: »Ich hab es nicht verdorben, sondern erst gut gemacht, den Text und die Wahrheit stehen lassen und die Lügen der Gelehrten hinweggehauen.«

»Ach Vater«, sagte der Student, »von der Wahrheit kann ich nicht leben, wenn ich nicht auch List und Ränke kenne, Einreden und Widerreden, eine böse Sache zu schmücken und die Gegenpartei zu verbrücken, so kommt mir kein Brot ins Haus.« Da geriet aber der Müller in Zorn und sprach: »Solcher Kunst achten wir Dorfleute wenig und besitzen doch unser Gericht unter dem Himmel bei den Linden, wo wir nach der wahren Gerechtigkeit sprechen und in kurzer Zeit ein Urteil finden, wozu ihr oft lange Zeit braucht, und die Sache hinschleppt, um euren Gewinn statt des gemeinen Nutzen zu suchen, daher es wahrhaftig ist, wie das Sprichwort sagt, dass ihr Juristen nicht gute Christen seid. Hast du nur List und Ränke gelernt und weißt mit der Wahrheit nicht umzugehen, so will ich keinen Pfennig mehr auf dich verwenden. Besser du ernährst dich wie ich mit deiner Hände Arbeit und lässt deine Juristerei fahren, als dass deine Seele Schaden nehme.«