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Der Welt-Detektiv Band 6

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Der Detektiv – Der ewige Jude – Teil 4

Walter Kabel
Der Detektiv
Band 21
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Der ewige Jude

Teil 4

Als wir ein halbe Stunde später wieder allein waren, rückte Harst seinen Korbsessel ganz dicht neben den meinen und flüsterte: »Jetzt wissen wir ganz genau Bescheid. Was Fräulein Schumann hier erzählte, war äußerst wertvoll. Wir haben Glück gehabt, dass wir gleich vor die rechte Schmiede kamen. Sonst hätten wir erst anderswo diese Auskünfte einholen müssen. Es ist jetzt elf Uhr. Um Mitternacht werden wir aufbrechen. Bitte bis dahin wieder Mann zu werden, mein Alter!«

Um zwölf Uhr ging die Laterne vor unseren Fenstern aus. Dann gingen wir aus, gelangten ungesehen auf die Straße und schritten diese Seitengasse nach Osten zu entlang, fragten uns bis zum Kastell St. Jorge durch, passierten zahllose dunkle Gässchen, fragten wieder und standen nun gegen ein Uhr vor dem maurischen Haus Slami Zchumlas in der Rua Kaspino. Ein redseliger Polizist, dem Harst ein Trinkgeld in die griffbereite Hand gedrückt hatte, war zuletzt unser Führer gewesen.

Dem Haus gegenüber lag eine von Unkraut überwucherte Ruine, von der nur noch ein Turmrest übrig war. Offenbar einst der Palast eines maurischen Großen. Dort fanden wir auf Mauertrümmern einen versteckten Sitz, saßen nun, schwiegen und warteten. Worauf? Ich wusste es nicht.

Harst hatte nur gesagt: »Wir haben ja Zeit. Irgendetwas wird sich schon ereignen.«

Das Haus war dunkel; auch nicht der geringste Lichtschimmer hinter den Fenstern des Oberstocks, wo der Seher wohnen sollte. Ich war müde, nickte ein, saß zurückgelehnt da und fuhr plötzlich wieder aus dem Halbschlaf hoch: Der Platz neben mir war leer. Aber da drüben in der finsteren Wölbung des Hauseingangs war nun für Sekunden ein weißer Streifen aufgezuckt; einer Taschenlampe dünner Lichtkegel! Das konnte nur Harst sein – nur er!

Ich schlich über die Gasse, über ein Pflaster, das diesen Namen gar nicht verdiente, drückte mich in das Dunkel der Vorhalle und lauschte. Totenstille; nein, mein Ohr unterschied nun doch ein Geräusch, ein ganz leises Plätschern. Und meine Augen, bald an die Finsternis gewöhnt, gewahrten da vor mir einen helleren Fleck. Ich erkannte: Die Vorhalle war wie eine Durchfahrt und mündete auf einen kleinen Hof.

Ich wagte mich weiter vorwärts. Der Boden hier war mit Steinfliesen ausgelegt. Nun war ich an der gegenseitigen Torwölbung, stand, horchte, schaute. Das Plätschern rührte von einem Springbrunnen in der Mitte des Hofes her. Weiter hinten linker Hand wuchsen zwei Olivenbäume. Sie bewegten sich nur schwach im Nachtwind. Mein Ohr fing ein neues Geräusch auf: ein Scharren, Kratzen – dann wieder etwas wie keuchende Atemzüge und Winseln.

Das klang recht unheimlich. Zu sehen war nichts.

Dann – und ich fuhr entsetzt zurück – rasten zwei Hunde vom Hof her knurrend an mir vorüber auf die Gasse, fingen dort wütend zu bellen an, verschwanden aber bald. Gleich darauf löste sich eine Gestalt von einem der Bäume los, huschte auf mich zu: Harst!

Ich rief ihn leise an.

»Komm zurück zur Ruine!«, flüsterte er. »Hier ist es nicht geheuer. Die verhungerten Köter machten zu viel Lärm.«

Wir schlichen an den Häusern entlang, überquerten die Gasse, schlichen auf dieser Seite nun wieder zu unserem bisherigen Versteck.

»Willst du hier etwa die ganze Nacht bleiben?«, fragte ich nach einer halben Stunde etwa, da ich beim besten Willen die Augen nicht mehr offen halten konnte.

»Ja. Dieser Seher ist nämlich noch wach. Drei Fenster zum Hofe zu waren erhellt. Ich sah die Schatten zweier Männer. Hm – mir fällt da soeben ein, man wird von der sehr hohen Hofmauer leicht auf das Dach gelangen können. Versuchen wir es mal. Jetzt dürfte das Hundegebell vergessen sein, falls es wirklich Argwohn erregt hat.«

Nach meinem Geschmack war diese Kletterpartie nicht. Aber danach fragte Harst nicht. Wir gelangten ohne Geräusch auf das Dach. Es war ebenfalls mit Steinplatten belegt, zwischen denen Gräser und Unkraut wucherten. Die Schornsteine waren neuesten Datums. In der Mitte gab es eine Luke, die durch einen schweren Holzdeckel verschlossen war. Der Deckel ließ sich ohne Weiteres lüften. Harst legte sich der Länge nach hin und leuchtete nach unten. Der Raum war eine mit Gerümpel angefüllte Kammer. Eine Leiter oder dergleichen fehlte. Harst turnte trotzdem hinab, baute ein paar Kisten übereinander auf und erleichterte mir den Abstieg. Aus der Kammer ging eine Tür in eine Art Flur. Die Tür war von außen nur mit einem Holzriegel versehen, der unschwer herunterzudrücken war. Wir zogen die Schuhe aus und standen nun in dem sehr geräumigen Flur, den Harst nur für Sekunden abgeleuchtet hatte. Es roch hier sehr stark nach Zigaretten – nach einer parfümierten Sorte.

Harst raunte mir zu: »Es gibt hier nur Türöffnungen mit Vorhängen. Ah – Stimmen! Das werden die beiden Männer sein! Vorsicht – Schritt für Schritt! Dielen, die knarren, brauchen wir nicht zu fürchten. Der Fußboden ist Steinmosaik.«

Er nahm meine Hand. Es dauerte endlos lange, bis wir zwei Türöffnungen und zwei winzige Räume im Finstern durchtastet hatten. Nun aber hörten wir dafür auch die Stimmen ganz deutlich, rochen die Zigaretten noch deutlicher und sahen vor uns zwei seitliche helle Streifen und unten helle Flecken: der Lichtschein, der neben und unten am Vorhang sichtbar wurde.

Ein Pause im Gespräch der beiden da drinnen.

Dann eine tiefe, weiche, fast singende Stimme in fehlerfreiem Deutsch.

»Die Propheten des alten Bundes verachteten jeglichen Besitz, um jeden Gedanken an irdische Dinge weit von sich zu weisen. Besitz zieht die Gedanken an sich. Wer nichts besitzt, ist wahrhaft frei. Auch ich, mein Sohn, bin der Ärmsten einer. Dafür wurde mir das gegeben, was du erstrebst – mit Recht erstrebst! Nur wer soweit Herr über die zwecklose Masse seines Körpers wird, dass er sie nach seinem Willen sterben und sich wieder regen lässt, wer seine Seele frei macht von dem Gefängnis dieses vergänglichen Leids, wird ewig leben, wenn er selbst stürbe. Aber er stirbt nur nach eigenem Wunsch und Willen – wie ich! Ich lebe noch, obwohl ich mehr denn zwei Jahrhunderte sah! Sterben konnte ich jede Minute – jede! Und doch würde ich, wollte ich der Erde Lebewohl sagen, neben meinem Totenbett stehen und leben! Wenn es dir bisher nicht geglückt ist, das Doppelwesen hervorzurufen, Seele und Leib zu scheiden, so trägt die Schuld daran lediglich dein Sinn nach irdischem Besitz. Nur so waren meine beiden Warnungen aufzufassen: Es gibt keinen Läuterungsprozess, kein Erklimmen der Jakobsleiter, solange du noch sagen kannst: Ich hin reich! Sterben muss in dir alles, was die Gedanken abzieht von dem hohem Ziel. Ich verheiße dir: Werde arm, und du wirst der Reichsten einer sein!«

Diese so seltsam monotone Stimme hauchte etwas Grausig-Geheimnisvolles aus. Mich überlief ein Frösteln.

Dann eine andere Stimme, und das konnte kein anderer als Johannes Partorius sein, der da sprach.

»Ich will arm sein! Ich danke dir, dass du mir heute erklärt hast, welches Hindernis wie Klammern noch immer meine Seele an ihre fleischliche Hülle kettete. Gib mir einen Rat, mich meiner Reichtümer zu entäußern, Slami Zchumla.«

»Tausende von Brüdern leben schlechter als das Vieh«, erwiderte der Seher langsam. »Ich kenne einen, dem ich vertraue. Gib ihm Vollmacht. Er wird alles regeln. Und schweige, mein Sohn! Schweige, weshalb du einen nach Hamburg sendest, der alles zu Geld macht! Verführer würden sonst dir ins Ohr flüstern: Narr, behalte, was du hast!«

»Gut, ich werde alles tun, was du verlangst.«

Harst zog mich nun nach rückwärts. Lautlos schlichen wir davon, kehrten auf demselben Wege auf die Gasse zurück, schritten dem Hafen zu, kamen in breitere Straßen, hatten bald die Mündung des Tajo mit ankernden Seglern und Dampfern vor uns.

Harst schwieg beharrlich. Erst als wir nun den Triumphbogen hinter uns hatten, mit dem die Rua Augusta beginnt, als das helle Licht elektrischer Straßenlampen auf das grellbunte Mosaikpflaster dieser Prachtstraße fiel, sagte Harst versonnen: »Es gehört wirklich schon ein geniales Verbrechergehirn dazu, einen solchen Plan auszuklügeln! Die Kabbala mit ihren mystischen Lehren als Schlinge zu gebrauchen, das dürfte noch nie da gewesen sein! Nun, wir werden den Herrschaften das Spiel verderben! Gründlich!«