Deutsche Märchen und Sagen 132
Johannes Wilhelm Wolf
Deutsche Märchen und Sagen
Leipzig, F. A. Brockhaus, 1845
172. Unschuldige gehängt
In einem Wirtshaus hatte die Tochter heimlich unerlaubten Umgang mit einem Mann und die Folge davon war, dass sie ein Kind gebar. Weil die Mutter welche ein böses und heimtückisches Weib war, nun fürchtete, das möge unter die Leute kommen, tötete sie das Kind und legte die Leiche ins Bett der Magd. Als diese nun abends schlafen gehen wollte und ihr Bett aufdeckte, da schrie sie laut auf vor Schrecken ob des Kindes.
Da lief die Wirtin nebst ihrer Tochter herbei und sie riefen: »O du Teufelin, du Mörderin, du bringst unser Haus in Schande!«
Die Magd beteuerte und schwor, sie wisse von nichts, doch das half ihr wenig. Die Wirtin schrie die Nachbarsleute zusammen und diese eilten zum Gericht. Nun wurde die Magd gefangen und weil alles gegen sie sprach, verurteilt, um mit dem Strick vom Leben zum Tode gebracht zu werden.
Als das Mädchen nun den Tod vor Augen sah, da betete sie zu der Mutter Maria und sprach: »O du gnadenreiche und milde Frau, stehe mir doch bei in meinen Todesängsten. Du weißt am besten, dass ich nichts verbrochen habe.« Sie beteuerte auch ihre Unschuld bis zum letzten Augenblick und litt geduldig den harten Tod.
Drei Tage danach kam der Liebste der Magd, welcher in der Nähe des Dorfes als Knecht diente, in die Schenke und fragte nach ihr.
Da erzählte die Wirtin ihm alles, doch er wollte das nicht glauben und sprach: »Nein, mein Mädchen ist unschuldig.« Erging unter vielen Tränen zu dem Galgen und seufzte aus der Tiefe seines Herzens: »Ach Gott, wie hängst du da, mein schönes Lieb!«
Da rief ihm das Mädchen zu: »Ich hänge da, doch ich bin nicht tot.«
Als der Knecht das hörte, da wäre er fast vor Schrecken und Angst weggelaufen, doch er ermannte sich und fragte: »Wie kann dies geschehen, mein süßes Lieb?«
Da sprach die Magd: »Ich stehe auf unserer lieben Frauen Schultern.«
Da lief der Knecht zum Richter und beschwor ihn, alsbald zu dem Galgen zu kommen und das Mädchen zu erlösen. Der Richter folgte ihm schnell und als der Strick durchgeschnitten war, da stieg das Mädchen lebend herunter und sank in ihres Liebsten Arm. Nun ließ der Richter das Weib mit ihrer Tochter greifen. Sie bekannten ihre Untat und wurden an demselben Strick aufgeknüpft, an welchem das unschuldige Mädchen drei Tage lang lebendig gehangen hatte.
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