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Dämonische Reisen in alle Welt – Kapitel VII, Teil 1

Johann Konrad Friederich
Dämonische Reisen in alle Welt
Nach einem französischen Manuskript bearbeitet, 1847.

Kapitel VII, Teil 1

Bilder der Zukunft. Deutschlands Zustand in hundert Jahren. Eine Wettermacherdampfmaschine. Ein Generalkalorifere. Eine Schlacht-, Garküchen-, Kleider-, Schuh-, Wagen-, Möbeldampfmaschinenfabrik. Eine Spazierfahrt nach Longchamp. Eine Vorstellung aux français.

Als sich der Hinkende bei Michel wieder einstellte, empfing er ihn verdrießlich und sagte zu ihm: »Diese Sternenreise hat mich ganz verwirrt gemacht. Ich wollte, wir hätten sie unterlassen. Ich weiß gar nicht, wie mir zumute ist. Träume ich oder wache ich? Es will mir nun nichts mehr auf unserer Erde behagen; fast sehne ich mich davon.«

»Oho, Freund Michel, noch ein wenig Geduld, wir wollen uns schon wieder zerstreuen.«

»Das wird schwer halten.«

»Mitnichten, ich will dir wieder einige Bilder der Zukunft vorführen. Dies wird dir gleich deinen Spleen heilen.«

»Wohlan, so versuche es.«

»Was wünschst du zu sehen?«

»Lass mich Deutschland nach einem Jahrhundert erblicken«, versetzte Michel nach einigem Besinnen.

Der Teufel verwandelte abermals einen Tisch in einen Guckkasten und hieß den Michel hineinsehen.

Vor ihm rollte sich nun eine unermessliche Landkarte auf, bei Franz Barrentrapp in Frankfurt am Main 1946 erschienen. Sie hatte mindestens einen Flächeninhalt von zehn Quadratmeter und umfasste ganz Deutschland nebst einem kleinen Teil der angrenzenden Länder. Alle Berge, Täler, Wälder, Flüsse, Seen, Städte und Ortschaften waren in proportionierten Erhöhungen und Vertiefungen dargestellt und hatten ihre natürlichen Formen und Gestalten im verjüngten Maßstab, sodass man in den Städten sogar die Straßen und Plätze, Gebäude, Promenaden etc. deutlich erkennen konnte. Die Flüsse und Wasser waren mit einer quecksilberartigen, sich zu bewegen scheinenden Farbe gemalt. Zu seiner großen Verwunderung konnte Michel in Deutschland nur noch fünf Staaten entdecken, nämlich Preußen, Österreich, Bayern, Württemberg und Hessen, alle Übrigen waren in diesen Ländern verschmolzen und ihnen zugeteilt. Preußen besaß ganz Norddeutschland, die Hansestädte, Oldenburg, Mecklenburg, Hannover, Holstein, alle sächsischen Lande waren demselben einverleibt, ebenso Hessen-Kassel. Österreich hatte sich noch durch einen Teil der Türkei und der Schweiz vergrößert, dagegen war ganz Italien unter einem Fürsten von deutscher Abstammung zu einem römischen Kaisertum geworden, dessen Haupt- und Residenzstadt Rom war. Bayern war dasselbe geblieben, es hatte nur noch die Reusischen, Schwarzburgischen und Hildburghäuser Länder akquiriert. Württemberg hingegen hatte sich nicht nur durch das ganze Großherzogtum Baden vergrößert, sondern ihm gehörte auch der ganze Elsass samt Straßburg. Hessen-Darmstadt war ebenfalls ein Königreich geworden, das sich durch das Herzogtum Nassau, Frankfurt, Rheinbayern und fast ganz Lothringen, Metz und Nancy inbegriffen, vergrößert hatte. Außerdem war Preußen eine gewaltige Seemacht geworden, und Danzig, Kolberg, Stettin, Stralsund, Rostock, Hamburg und Bremen waren mit die ersten Handelsstädte der Welt wie zur Zeit der Hanse, wo die deutschen Flotten selbst England und Frankreich zittern machten und deren Herrscher Gesetze vorschrieben, war Preußens Flagge allenthalben geehrt und gefürchtet, und das Land im höchsten Flor.«

»Aber wie zum Henker ist denn dies alles so gekommen?«, fragte Michel seinen Beschützer.

»Dir dies ausführlich mitzuteilen, würde viel zu viel Zeit erfordern. Ich müsste ein ganzes Geschichtswerk in wenigstens zehn Bänden schreiben. Daher in aller Kürze nur so viel zu deiner Verständigung: Gegen das Ende des 19. Jahrhunderts brach abermals eine Revolution in dem ewig unruhigen Frankreich aus. Die nun ans Ruder kommenden Regenten sahen sich gezwungen, um dem allgemeinen Wunsch der Mehrheit des Volkes zu entsprechen, dem Deutschen Bund den Krieg zu erklären, um das schon längst begehrte linke Rheinufer dem französischen Reich einzuverleiben. Sie überfielen daher, mit Belgien verbunden, diese Provinzen und bemächtigten sich Aachens und eines Teiles derselben, Der nun ausgebrochene blutige Krieg währte mehrere Jahre. Auch Italien hatten die Franzosen zum Aufstand vermocht. Sie wurden aber hauptsächlich durch die Tapferkeit des besonders von Hessen und Württemberg gut unterstützten preußischen Heeres besiegt und endlich gänzlich geschlagen, wozu sich noch Uneinigkeit und Rivalität zwischen den im Inneren von Frankreich herrschenden Parteien gesellte. Frankreich war gezwungen, um Frieden zu bitten, und musste denselben durch die Abtretung von Elsass und Lothringen und Zahlung der Kriegskosten erkaufen. Es wurde nun in Leipzig ein Kongress gehalten, in welchem ein preußischer Prinz, ein würdiger Nachkomme des großen Friedrich, der sich als ein zweiter Blücher in dem eben beendeten Krieg gezeigt hatte, auf die Mediatisierung aller Staaten derjenigen Regierungen antrug, die eben nicht die glänzendsten Beweise von Patriotismus für das deutsche Vaterland abgelegt hatten. Dem Unwesen der sogenannten freien Städte hatte man schon früher ein Ende gemacht. Nach vielen Debatten und Federkriegen setzte Preußen, dank seiner imposanten Stellung, die neue Einteilung Deutschlands zu dessen großem Heil und Glück durch. Die jetzt noch bestehenden deutschen Mächte bildeten einen der ganzen Welt furchtbaren und imponierenden Bund. England, das scheel dazu sah, konnte sich jedoch nicht sehr mausig machen. Amerika, das bereits die Unabhängigkeit Irlands, welches sich vom großbritannischen Reich für getrennt erklärt, anerkannt hatte, saß ihm im Nacken. Seine ungeheuren indischen Besitzungen machten schon lange Mienen, ihm den Gehorsam aufkündigen zu wollen. Österreich willigte ein ganz Italien unter den Zepter eines deutschen Prinzen zu vereinigen. Seine heilige Unfehlbarkeit zu Rom wurde zugleich für immer aller weltlichen Regierungssorgen enthoben. So wurde der Zustand Deutschlands, wie du ihn auf der Karte von 1946 findest, hervorgerufen.«

»Recht artige Träumereien«, meinte Michel.

»Die sich wohl verwirklichen könnten, wenn …«, meinte der Teufel. »Nun, in hundert Jahren sprechen wir uns wieder.«

»Ich will nicht hoffen, denn ich denke in die Venus zu kommen.«

»Oho, Freund, schlage dir solche Gedanken aus dem Sinn. Du bist uns längst mit Haut und Haar verfallen.«

»Das wird sich finden; ich wäre nicht der Erste, der dem Teufel ein Schnippchen schlug. Doch lass mich weitersehen.«

»Was wünschst du mehr zu schauen?«

»Lass mich die Fortschritte in den Künsten, Wissenschaften, Gewerben etc. gewahren.«

»Gut, du sollst Wunderbares schauen.«

Michel legte abermals die Augen ans Guckloch.

Es präsentierte sich ihm die Hasenheide bei Berlin. Mitten auf derselben erblickte er ein ungeheures, turmartiges Gebäude, das auf einem künstlichen Hügel stand. Es hatte an der Basis wenigstens Tausend Meter im Umfang, verlor sich fast in den Wolken und schien die Sage vom babylonischen Turm fast verwirklichen zu wollen. Von Zeit zu Zeit stieß es an einer oberen Öffnung ungeheure Qualmsäulen mit einer furchtbaren Heftigkeit aus.

»Was ist denn dies für ein Ding?«, fragte Michel.

»Das ist eine im Jahr 1892 zuerst erfundene Wettermachedampfmaschine. Wenn es zu viel oder zu lange regnen will oder man zu irgendeinem Fest, einer Nationalfeier des guten Wetters, des heiteren Himmels bedarf und trübe Wolken ihn bedecken, so lässt man diese Dampfsäulen, von dreißig Millionen Pferdestärken durch eine Art Riesenblasbälge angeblasen, mit Blitzesschnelle in die Luft steigen. Sogleich verteilen sich alle Wolken und auf drei Meilen in der Runde ist der Himmel so heiter und rein, dass auch nicht das kleinste Wölkchen die Sonne verdunkelt. Doch sieh selbst, soeben wird sie in Funktion gesetzt.«

Michel sah in der Tat, wie der düstere, von schweren Wolken bedeckte Himmel, welche schon begannen, Wasser fallen zu lassen, durch diese Qualmstöße in wenig Augenblicken sich in das heiterste Azurblau verwandelte, worauf sofort die Einwohner Berlins zum Teil zu Fuß, zum Teil in prächtigen Ballons ankamen, um das Geburtsfest des jetzt regierenden Königs Friedrich III. zu feiern. Diesmal hatte die Stadt die Kosten der Schönwettermacherei getragen, die jedes Mal einen Aufwand von zehntausend Talern an Kohlen verursachte.

Nachdem Michel eine Weile den zum Teil seltsamen Vergnügungen  des Berliner Volkes zugesehen hatte, von denen er mehreres nicht begriff, sagte er zu dem höllischen Guckkastenmann: »Genug dieser Ansicht, ein anderes Bild!«

Der Hinkende führte ihm nun die Ansicht eines ungeheuren Platzes mitten in St. Petersburg vor. In dessen Mitte stand abermals ein seltsames, ebenfalls ungeheuer großes Gebäude, das jedoch bei Weitem nicht die Höhe und den Umfang des vorigen hatte und eine Art Rundgebäude von schwarzem angelaufenem Gusseisen zu sein schien, ringsum mit runden Löchern bis in seine Spitze versehen, denen Luftströme zu entfahren schienen.

»Nun, was ist denn das wieder für ein Ding?«, fragte Michel.

»Dies ist ein neuerdings erfundener Generalkalorifere oder ein allgemeiner Wärmofen, wenn du willst. Er erwärmt die Luft einer ganzen Stadt, wird mit Stein-, Braunkohlen oder Torf von unten geheizt und gibt der Atmosphäre auf eine Meile in der Runde die beliebige Wärme, sodass niemand mehr in seinem eigenen Haus zu heizen braucht; dagegen ist eine allgemeine Wärmesteuer eingeführt, um die Kosten dieser Heizung zu decken. Man verfertigt diese Generalkaloriferes zu jeder beliebigen Größe, je nachdem die Stadt oder der Ort, für den sie bestimmt sind, mehr oder minder Umfang hat. In ganz Russland sind sie schon fast allgemein eingeführt, in Deutschland fängt man erst an, sich ihrer zu bedienen. Diese Neuerung hat hauptsächlich die Liebhaber der Schlittenfahrten gegen sich, die dadurch wenigstens in den Straßen der Städte wegfallen, übrigens seit der Erfindung der bequemen Luftfahrten so ziemlich aus der Mode gekommen sind.«

»Genug gesehen«, sagte Michel, »ein anderes Bild!«

Sogleich präsentierte sich ihm ein großes, geräumiges Gewölbe, in dessen Mitte eine Art hohe und breite Pyramide aus Backsteinen und Eisenplatten erbaut stand, zu deren Spitze eine schmale Treppe führte, und um welche herum viele Männer mit aufgeschürzten Hemdsärmeln beschäftigt waren.

»Was zum Henker ist denn das für ein Hokuspokus?«, fragte Michel.

»Dies ist eine Schlacht-, Garküchen-, Kleider-, Schuh-, Wagen-, Möbeldampfmaschinenfabrik, die ein englischer Mechanikus aus Liverpool erfand und dafür die radgroße goldene Ehrenmedaille erhielt. Sie ist auf 100.000 Aktien gegründet, die jetzt dreihundert Prozent über ihren Nennwert stehen.«

»Dass dich der … doch was soll sie eigentlich?«

»Sieh nur hin, sogleich wird eine Operation beginnen.«

Michel sah, wie die Arbeiter eine Winde in Bewegung setzten und mit derselben alle möglichen Gegenstände, die man ihnen zuführte, wie lebendige Ochsen, Kälber, Schafe, Baumstämme jeder Gattung, Strohbunde, Korn, Flachs, Hanf und Tabakpflanzen, Gänse, Schweine, tote Pferde, Esel, Hunde, Katzen und anderes Getier, ganze Fässer voll Kokos, rohe Baumwolle, Eisen-, Blei-, Gold- und Silbererze, Lumpen etc. auf die Spitze der Pyramide wanden und so, wie sie ankamen durch- und untereinander in den geöffneten Schlund derselben warfen, aus dem man noch das Brüllen der Ochsen, das Blöcken der Schafe, das Schnattern der Gänse, das Grunzen der Schweine vernahm. Einige Minuten darauf öffneten andere Arbeiter fünfzig auf den vier Seiten am Fuß der Pyramide angebrachte eiserne Türen. Einigen dieser Öffnungen entfielen die köstlichsten Rinder-, Kalbs-, Hammel-, Schweine-, Gänse- etc. Braten, andere entrollten trefflich gebackene Brote und Kuchen, wieder andere gaben ganz fertige Kleidungsstücke jeder Größe und Farbe, Stroh- und andere Hüte etc. von sich, noch andere entluden Möbel der verschiedensten Gattung, wie Stühle, Tische, Kommoden, Schränke, wieder andere lieferten das herrlichste Weißzeug, Hemden, Betttücher, Tischtücher, auch Schmuck, goldene und silberne Ketten, ja sogar Uhren hatten die Maschine in kürzester Frist verfertigt, das schönste Seidenzeug, Schuhe und Stiefel, das trefflichste Leder, Schlösser und andere Eisenwaren entnahm man diesen Öffnungen, und einigen der größeren entrollten sogar ganz fertige Wagen und Prachtkarossen, während noch andere ganze Bibliotheken von Romanen, Gedichte von der jovialsten bis zur sentimentalsten und grausigsten Gattung ausspien.«

»Jetzt habe ich genug«, rief endlich Michel aus, »ich sehe wohl, du hälst mich zum Besten«, und sprang von dem Guckkasten weg.

»Wärst du nur sitzen geblieben, das Schönste wäre erst noch gekommen.«

»Und das wäre?«

»Bewegliche Gemälde häuslicher und öffentlicher Szenen, die dich wahrhaft ergötzt haben würden, eine Erfindung des 20. Jahrhunderts.«

»Ich mag nichts mehr von deinen Schnurrpfeifereien sehen, lass uns in die wirkliche Welt, mich zu zerstreuen.«

»Wohlan, heute ist der besuchteste Longchampstag.«

»Gut, sorge für eine schöne Equipage, ich will einmal der fashionablen Pariser Welt etwas zu schauen geben.«

»Du sollst bedient werden.«

»Sage mir doch, was hat es denn eigentlich mit diesen Longchampsfahrten für eine Bewandtnis, was ist ihr Ursprung?«

»O! Die Geschichte von Longchamp könnte Stoff zu einem merkwürdigen Buch geben. Ganz in der Nachbarschaft von Paris, fast zwischen dem Boulogner Wäldchen und den heutigen elysäischen Feldern lag in einer etwas wilden und romantischen Gegend die Abtei und das Kloster Longchamp, in welchem gar manche berühmt gewordene Schönheit, ihre Sünden zu büßen, Nonne geworden war, und in dem manche der Nonnen auch noch  weiter sündigte und königliche Besuche annahm. Doch hatte mehrere Jahrhunderte die früher dort herrschende Einfalt der Sitten sich trotz der Nachbarschaft der sittenlosen Hauptstadt rein und die strenge Klosterzucht zu erhalten gewusst. Erst im 17. Jahrhundert ergriff die immer mehr einreißende Sittenverderbnis auch diese Klostergemeinde, machte aber dann auch so schnelle und so reißende Fortschritte, dass sich selbst die Ausgelassenheit der Hauptstadt noch über den Skandal aufhielt. Die Abtei sah bald ihrem zeitlichen und geistlichen Ruin entgegen. Den ersten Grund dazu, wer sollte es denken, gab die Himmelstochter, Tonkunst genannt. Unter dem Deckmantel der Musik schlich sich das Laster in die heiligen Mauern ein. Um jene zu lernen und außerdem eine glänzende Erziehung zu erhalten, sandten die ersten Familien die Blüte ihrer Töchter nach Longchamp. Drei Tage in der heiligen Karwoche, den Mittwoch, Donnerstag und Karfreitag hörte man die Gewölbe der Klosterkirche von Longchamp von den harmonischsten und reinsten Silbertönen und Akkorden widerhallen, deren Klänge man in der Tat versucht war, den Engeln im Himmel zuzuschreiben. Diese Musik war es, die zuerst den königlichen Hof und was zu ihm gehörte, und sodann den ganzen hohen und niedere Adel der Hauptstadt, und was sie sonst von Notabilitäten enthielt, während der heiligen Woche nach Longchamp zog. Aber was zuerst ein Magnet für die Frömmigkeit gewesen war, wurde bald zu einem Magnet profaner irdischer Gelüste, die Chöre der weiblichen Engel zogen die der männlichen Teufel an, und für die Weltdamen war dies eine Gelegenheit, dem Putz- und Toilettenteufel, von dem sie besessen waren, freien Lauf zu lassen. Von Paris, Versailles, St. Germain drängten sich während der drei Tage die glänzendsten Equipagen nach Longchamp. Die Kleider der Hofbeamten und reichen Finanzmänner starrten von Goldstickereien, und die Köpfe, Hälse und Busen der Damen blitzten von Brillanten. Es war eine Pilgerfahrt, eine Wallfahrt, die einzige ihrer Art in der Welt. Da aber bald der Skandal zu arg wurde und der Chronik skandalöse gar mancherlei Stoff lieferte, sogar Ent- und Verführungen von angesehenen und durch angesehene Personen Leben in die Unterhaltung der ganzen Stadt brachte, so fand sich endlich der Erzbischof von Paris bewogen, dem frommen Skandal und diesen Pilgerfahrten ein Ende zu machen, indem er die das Lob des Allmächtigen preisenden und die Gelüste der ohnmächtigen Menschenkinder anregenden musikalischen Übungen plötzlich einstellte. Man hörte die Nonnen und ihre Schülerinnen nicht mehr in dem Halbdunkel der Abende in der mystisch und spärlich erleuchteten Kirche singen, auch in der heiligen Woche blieb es jetzt schweigsam und still, wenigstens in der Kirche und den Kreuzgängen des Klosters. Die hübschen Nonnen mussten zu ihrem großen Leidwesen ihre Andacht in der alltäglichen Einsamkeit verrichten. Indessen war es einmal Mode geworden, an diesen drei Tagen nach Longchamp zu fahren, und die fürstlichen, herzoglichen, gräflichen und anderen Wappenwagen fuhren fort an denselben den Weg nach Longchamp einzuschlagen, jedoch umkehrend, bevor sie die Abtei erreicht hatten. Aber bald war es nicht mehr die alte Aristokratie allein, welche hier ihre Pracht auskramte. Reich gewordene Parvenüs, geldstolze und prunksüchtige Roturier mischten sich unter die hochadeligen Staatskarossen, und was noch schlimmer war, berüchtigte Schönheiten vom zweideutigen Ruf, das ganze Heer von reichen Wüstlingen unterhaltener Maitressen entfaltete hier eine Pracht und einen Luxus, der nicht selten die Wagen und Toiletten der legitimen Frauen der ersten Familien verdunkelte. Oft waren es die keuschen Ehemänner derselben, welche die Mittel zum Prunk dieser Dirnen hergaben, die sie ihren teuren Ehehälften mit Rauheit versagten. Noch mehr, diese Maitressen der vornehmsten Herren und Generalpächter maßten sich sogar an, Ton und Mode anzugeben. Mehr als eine Theaterprinzessin lachte der Fürstin ins Gesicht, deren Mann sie ruiniert hatte! Das Gespann mehrerer derselben war nicht selten mit silbernen Hufeisen beschlagen, ihre Livreen strotzten von Goldborten und die Kutschen, mit Goldbrokat ausgeschlagen, waren mit den feinsten Malereien verziert. Aber auch diese Pilgerfahrten erreichten, wie alles Irdische, ihr Ende. Diesmal war es aber nicht die hohe Geistlichkeit, sondern die Sturmglocke von 1789, die sie einstellte. Von der Abtei und dem Kloster selbst war ebenfalls bald jede Spur verschwunden, der revolutionäre nivellierende Hammer, der nichts verschonte, war auch über diese Gebäude weggegangen. Aber nachdem er ausgewütet und mit dem Frieden auch die Lust und Liebe zum Prunk wiederkehrte, begannen die Longchampfahrten wieder und wurden abermals Modesache. Jetzt zeigt sich hauptsächlich die moderne plumpe Aristokratie der Geldsäcke und kramt bei dieser Gelegenheit ihre Pracht nicht selten mit gar bizarrem Geschmack aus. Nach Longchamp fahren heißt: sich vornehm nachlässig in pomphafter Toilette in einer modernen Kalesche ausgestreckt vom Concordienplatz bis zum großen Rondell in den elysäischen Feldern fahren lassen, wieder umkehren und dieses einförmige Manöver ein paar Stunden lange wiederholen, wobei hauptsächlich Jäger, Kutscher, Lakaien und andere dienstbare Geister nebst Pferdegeschirr usw. die Hauptrollen spielen.«

»Gut, wir haben lange keine Teufelei verübt. Ich habe Lust, heute einmal die Parade von Longchamp in Erstaunen zu setzen«, sagte Michel.

Es war drei Uhr nachmittags am Karfreitag, als eine ganze Reihe prächtiger Equipagen aus der Straße Richelieu kommend auf die Boulevards fuhren und den Weg nach Longchamp einschlugen. Bald war das Gedränge um dieselben so groß, dass sie sich nur mit Mühe vorwärts bewegen konnten. Aber dies war kein Wunder, denn so etwas hatte Paris lange nicht, ja wohl noch nie gesehen. Den ersten Wagen zogen acht herrliche weißgeborene Hengste, so schön, wie sie kein königlicher Marstall aufzuweisen hatte. Das Geschirr war von rotem Saffian reich mit Gold verziert, ihre Hufeisen waren Vermeil; vor diesem Wagen schritten vier fantastisch gekleidete, aber mit Steinen und Schwungfedern reich geschmückte Läufer, die jedoch nur sehr langsam vorwärts konnten; die Reitknechte, Kutscher, Bediente und Jäger waren mit Gold überladen. In diesem Wagen, der in jeder Hinsicht mit seiner kostbaren Attelage harmonierte, dessen Räder silberne Reife hatten, und der mit den kostbarsten indischen Stoffen ausgeschlagen war, saßen zwei dicht verschleierte Damen und an den beiden Schlägen standen schmucke Pagen. Dieser Equipage folgten mehrere sechs- und vierspännige Wagen in analoger Pracht, in allen befanden sich verschleierte Damen in den reichsten Und geschmackvollsten Toiletten Und Schmuck von unschätzbarem Wert. Es bedarf wohl kaum einer Erwähnung, dass diese Prachtkarossen alle anderen, selbst die der reichsten Parvenüs und Bankiers, deren Frauen sich bis jetzt in dem süßen Wahn gewiegt hatten, die Ersten bei diesem Auskramen des Luxus und des Reichtums zu sein, so gewaltig in den Schatten stellten, dass niemand mehr ihrer achtete oder Notiz von ihnen nahm, worüber sich die Damen ärgerlich auf die Lippen bissen und ihnen jeder Genuss, alle Freude des Wonnegefühls, die glänzendsten Gestirne des Tages zu sein, verbittert wurde. Wer mögen diese Fremden sein, die inkognito mit solchem Prunk Longchamp besuchen? Dies fragten sich alle, und einer den anderen, und niemand wusste Auskunft zu geben. Einige meinten, es sei die Königin Viktoria, andere glaubten, es wäre die verwundete Königin Christine von Spanien, noch andere rieten auf die russische Kaiserin und wollten in einem der Herrn, die in einer zweispännigen offenen, sehr einfachen Kalesche den glänzenden Zug schlossen, sogar den Herrscher aller Reusen erkennen. Viele meinten auch, es müsse ein indischer Nabob oder sonst ein orientalischer Fürst der Schöpfer dieser Pracht sein. Nachdem sich der Zug einige Male die elysäischen Felder auf und nieder bewegt hatte und genug bewundert und auch beneidet worden war, schlug sich der obere Teil dieser Wagen wie auf ein gegebenes Kommando auseinander und die sich in denselben besuchenden Schönen saßen nun frei in den Kaleschen da, sodass man mit aller Muße und Bequemlichkeit ihre glänzenden Toiletten, aber noch dicht verschleierten Reize in Augenschein nehmen konnte.

Hat etwa der türkische Sultan oder der Schah von Persien seinen Harem nach Longchamp gesandt, fragte man sich erstaunt, die wespenschlanken Schönen musternd. Möchte es ihnen doch gefallen, sich zu entschleiern, damit wir ihre, ohne Zweifel himmlischen Reize auch entblößt bewundern könnten.

Der Wunsch wurde erfüllt und die Damen schlugen plötzlich ihre Schleier zurück, aber was stellte sich den erstaunten erschrockenen Blicken der Neugierigen dar? O Gräuel! Zähnefletschende Affengesichter, leibhaftige, wahrhafte, blökende Affengesichter. Man konnte sie im Affenhaus des Jardin des plantes, das man ausgeleert zu haben schien, nicht natürlicher suchen. Mit Abscheu wandten sich die anderen Weltdamen von ihren Nebenbuhlerinnen in der Pracht und der Mode ab und meinten, so etwas sollte man von Polizeiwegen verbieten und die Urheber dieses Spuks, der eine hämische Satire auf die ganze vornehme und reiche Welt sei, auf das Strengste bestrafen.

»O der Schmach, uns durch Äffinnen parodieren zu wollen!«, riefen mehrere aus.

Als der Unwille der eleganten Schönen immer größer wurde, bedeckten die Ersteren wie auf ein Zeichen schnell ihre Affengesichter wieder mit den Schleiern, als fürchteten sie den Zorn und den Unwillen ihrer Nebenbuhlerinnen. Einige Augenblicke darauf entschleierten sie sich abermals. Man sah nun lauter Gesichter von raphaelischer Madonnenschönheit mit blitzenden Feueraugen, welche eine so anziehende Kraft hatten, dass die Wagen, in welchen diese Schönen saßen, Gefahr liefen, von dem fashionablen Löwen zu Ross, im Cabriolet und auf Schusters Rappen einher trabend, fast gestürmt zu werden, sodass sie abermals ihre Schleier rasch herabfallen ließen. Als sie dieselben zum dritten Mal lüfteten, grinsten weiße Totenköpfe unter denselben hervor. Nun verwandelte sich der prächtige Wagenzug in einen Leichenzug, die achtspännige Karosse wurde zu einem Leichenwagen und alle ihr folgenden zu Trauerkutschen, alle Pferde wurden zu kohlschwarzen, mit Leichendecken behangenen Rossen. Auf dem Concordienplatz angekommen, verschwand plötzlich die ganze traurige Herrlichkeit und löste sich in Dunst und Rauch auf. Auf

der Spitze des viertausendjährigen Obelisken las man die Worte: Vanitas Vanitatum.

Aber dieses leichtsinnige Pariser Modevolk kehrte sich den Henker an all diese Dinge, erklärte dieselben für eine Spiegelfechterei des Philipp oder Bosko und strömte noch denselben Abend aux français, wo ein neues Stück gegeben wurde, in dem die Rachel, wie man versicherte, die Rolle einer Jungfrau auf das Täuschendste und zum Entzücken spielen werde.

Michel, fast verdrießlich, dass seine so derben Lektionen so wenig bei der verdorbenen Menschheit fruchten wollten, beschloss demnach, diesen Abend dem Publikum aux français bei dessen heutiger Vorstellung , wie ihn Asmodi versicherte, sich viel Geldsacknotabilitäten einfinden würden, einige Lehren wie die, welche er der Londoner haute volée aux italiene dort gab, zu erteilen.

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