Heftroman der

Woche

Neueste Kommentare
Archive
Folgt uns auch auf

Die drei Musketiere – Zwanzig Jahre danach – 4. – 6. Bändchen – Kapitel VI

Alexandre Dumas
Zwanzig Jahre danach
Viertes bis sechstes Bändchen
Fortsetzung der drei Musketiere
Nach dem Französischen von August Zoller
Verlag der Frankh’schen Buchhandlung. Stuttgart. 1845.

VI. Die lange Straße

Sie ritten in gleicher Eile durch den ganzen Faubourg-Saint-Antoine und den Weg nach Vincennes entlang. Bald befanden sie sich außerhalb der Stadt, bald im Wald, bald im Angesicht des Dorfes.

Die Pferde schienen sich bei jedem Schritt immer mehr und mehr zu beleben und ihre Nüstern fingen an, rot zu werden wie glühende Öfen. D’Artagnan, die Sporen am Bauch seines Pferdes, war höchstens zwei Fuß vor Porthos voraus. Mousqueton folgte auf zwei Pferdelängen, die Garden ritten in einer Entfernung je nach dem Wert ihrer Tiere.

Von einer Anhöhe herab erblickte d’Artagnan eine Gruppe von Personen, welche auf der anderen Seite des Grabens standen, vor demjenigen Teil des Turmes, der eine Aussicht nach Saint-Maux bot. Er begriff, dass der Gefangene in dieser Richtung entflohen war und dass er hier Auskunft erhalten würde. In fünf Minuten gelangte er zu diesem Punkt, wo ihn nach und nach die Garden wieder einholten.

Alle Menschen, welche die Gruppe bildeten, waren sehr beschäftigt. Sie betrachteten den nahe an der Schießscharte hängenden und zwanzig Fuß vom Boden abgebrochenen Strick. Sie maßen mit ihren Augen die Höhe und tauschten allerlei Vermutungen aus. Oben auf dem Wall gingen Wachen mit bestürzter Miene auf und ab.

Ein Posten von Soldaten, von einem Sergenten befehligt, entfernte die Bürger von der Stelle, wo der Herzog zu Pferde gestiegen war.

D’Artagnan ritt gerade auf den Sergenten zu.

»Mein Offizier«, sprach der Sergent, »man darf sich nicht hier aufhalten.«

»Dieser Befehl ist nicht für mich«, erwiderte d’Artagnan »Hat man die Flüchtlinge verfolgt?«

»Ja, mein Offizier; aber leider sind sie gut beritten.«

»Wie viele sind es?«

»Vier Gesunde und ein Fünfter, den sie verwundet mitgenommen haben.«

»Vier!«, sprach d’Artagnan und schaute dabei Porthos an. »Hört Ihr, Baron? Es sind ihrer nur vier.«

Ein freudiges Lächeln erleuchtete das Antlitz von Porthos.

»Und wie viel haben sie Vorsprung?«

»Zwei und eine Viertelstunde, mein Offizier.«

»Zwei und eine Viertelstunde? Das ist nichts. Wir sind gut beritten, nicht wahr Porthos?«

Porthos stieß einen Seufzer aus. Er dachte an das, was seiner armen Pferde harrte.

»Sehr gut, »sagte d’Artagnan, »und nun sprecht, in welcher Richtung sind sie weggeritten?«

»Was das betrifft, mein Offizier, so hat man verboten, es zu sagen.«

D’Artagnan zog aus seiner Tasche ein Papier und erwiderte: »Befehl des Königs!«

»Dann sprecht mit dem Gouverneur.«

»Und wo ist der Gouverneur?«

»Im Felde.«

Der Zorn stieg d’Artagnan ins Gesicht, seine Stirn faltete sich, seine Schläfe wurden blutrot.

»Ah, Elender!«, sagte er zu dem Sergenten.

Er öffnete das Papier, bot es mit einer Hand dem Sergenten und nahm mit der anderen aus seinen Halftern eine Pistole, die er spannte.

»Befehl des Königs, sage ich dir. Lies und antworte oder ich zerschmettere dir die Hirnschale. Welchen Weg haben sie eingeschlagen?«

Der Sergent sah, dass d’Artagnan ernsthaft sprach.

»Die Straße nach Vendome«, antwortete er.

»Und durch welches Tor sind sie entflohen?«

»Durch das Tor von Saint-Maux.«

»Wenn du mich täuschst, Elender«, sprach d’Artagnan, »so wirst du morgen gehenkt.«

»Und wenn Ihr sie einholt, so kommt Ihr nicht wieder, um mich hängen zu lassen.«

D’Artagnan zuckte die Achseln, machte seiner Eskorte ein Zeichen und ritt weiter.

»Hier durch, Messieurs, hier durch«, rief er und wandte sich zum Tor des bezeichneten Parks.

Aber nun, da der Herzog entkommen war, hatte es der Concierge für geeignet erachtet, das Tor doppelt zu verschließen. Man musste ihn zwingen, es zu öffnen, wie man den Sergenten gezwungen hatte, und dadurch gingen wieder zehn Minuten verloren.

Als das letzte Hindernis überwunden war, setzte die Truppe ihren Lauf mit derselben Geschwindigkeit fort.

Doch nicht alle Pferde bewährten denselben Eifer; einige konnten den unangemessenen Lauf nicht lange aushalten. Drei hielten nach einem Marsch von einer Stunde inne; eines fiel.

D’Artagnan, der den Kopf nicht umwandte, bemerkte es nicht einmal.

Porthos sagte es ihm mit seiner ruhigen Miene.

»Wenn wir nur zu zweit ankommen«, erwiderte d’Artagnan, »mehr braucht es nicht, da sie nur zu viert sind.«

»Das ist wahr«, sprach Porthos.

Und er stieß seinem Pferd die Sporen wieder in den Bauch.

Nach zwei Stunden hatten die Pferde zwölf Meilen, ohne anzuhalten, gemacht. Ihre Beine fingen zu zittern an und der Schaum, den sie ausschnaubten, befleckte die Wämser der Reiter, während der Schweiß durch ihre Hosen drang.

»Ruhen wir einen Augenblick, um diese unglücklichen Tiere Atem holen zu lassen«, sagte Porthos.

»Töten wir sie im Gegenteil«, rief d’Artagnan, »und erreichen wir das Ziel. Ich sehe frische Spuren. Es ist nicht mehr als eine Viertelstunde, dass sie hier vorübergekommen sind.«

Die Oberfläche der Straße war von Pferdetritten bearbeitet worden. Man sah die Spuren bei den letzten Strahlen des Tages.

Sie setzten sich wieder in Marsch; aber nach zwei Meilen stürzte das Pferd von Mousqueton.

»Gut!«, sprach Porthos, »Phöbus ist verloren.«

»Der Kardinal wird ihn mit tausend Pistolen bezahlen.«

»Oh«, rief Porthos, »darüber bin ich weg.«

»Reiten wir wieder und im Galopp.«

»Ja, wenn wir können.«

Das Pferd von d’Artagnan weigerte sich wirklich, weiterzugehen. Es atmete nicht mehr. Ein letzter Spornstreich machte, dass es fiel, statt vorzurücken.

»Ah, Teufel!«, sagte Porthos, »Vulkan ist verschlagen.«

»Mord und Teufel!«, schrie d’Artagnan und fasste sich mit der vollen Faust bei den Haaren. »Man soll also hier still halten! Gebt mir Euer Pferd, Porthos. Doch was Teufels macht Ihr?«

»Ei, bei Gott, ich falle«, erwiderte Porthos, »oder Bayard bricht vielmehr zusammen.«

D’Artagnan wollte ihn wieder aufstehen machen, während sich Porthos, so gut er konnte, aus den Steigbügeln zog, aber er bemerkte, dass ihm das Blut aus den Nüstern schoss.

»Drei sind hin!«, sagte er. »Nun ist alles vorbei!«

In diesem Augenblick ließ sich ein Wiehern vernehmen.

»Still!«, sprach d’Artagnan.

»Was gibt es?«

»Ich höre ein Pferd.«

»Es ist das von einem unserer Kameraden, die uns einzuholen versuchen.«

»Nein«, versetzte d’Artagnan, »Es ist voraus.«

»Dann ist es etwas anderes«, sprach Porthos und horchte ebenfalls, das Ohr in der von d’Artagnan angegebenen Richtung vorstreckend.

»Gnädiger Monsieur«, sagte Mousqueton, der, nachdem er sein Pferd auf der Straße zurückgelassen hatte, seinen Herrn zu Fuß einholte, »gnädiger Monsieur, »Phöbus konnte nicht wieder stehen, und …«

»Still doch«, versetzte Porthos.

In diesem Augenblick drang ein zweites Gewieher, von dem Nachtwind herbeigetragen, zu der kleinen Gruppe.

»Das ist fünfhundert Schritte von hier! Vorwärts!«, rief d’Artagnan.

»In der Tat, gnädiger Herr«, sagte Mousqueton, »fünfhundert Schritte von uns liegt ein kleines Jagdhaus.«

»Mousqueton, deine Pistolen!«

»Ich habe sie in der Hand.«

»Porthos, nehmt die Euren aus Euren Halftern.«

»Ich habe sie.«

»Gut«, sprach d’Artagnan, indem er ebenfalls nach den seinen griff.

»Ihr versteht nun, Porthos?»

»Nicht ganz.»

»Wir reisen im Dienst des Königs.«

»Nun?«

»Für den Dienst des Königs verlangen wir diese Pferde.«

»So ist es«, sprach Porthos.

»Dann kein Wort mehr und zu Werke.«

Alle drei rückten in der Nacht schweigsam wie Gespenster vor. An einer Biegung der Straße sahen sie ein Licht mitten unter Bäumen glänzen.

»Hier ist das Haus«, sprach d’Artagnan ganz leise, »lasst mich gewähren, Porthos, und macht es, wie ich es machen werde.«

Sie schlichen von Baum zu Baum und gelangten, ohne gesehen zu werden, bis auf zwanzig Schritte zu dem Haus. In dieser Entfernung erblickten sie durch eine unter einem Schuppen aufgehängte Laterne vier Pferde von schönem Aussehen. Ein Knecht striegelte sie. Neben ihm lagen ihre Sättel und Zäume.

D’Artagnan näherte sich rasch und machte dabei seinen zwei Gefährten ein Zeichen, sich einige Schritte hinter ihm zu halten.

»Ich kaufe diese Pferde«, sagte er zu dem Knecht.

Dieser wandte sich erstaunt um, jedoch ohne etwas zu sprechen.

»Hast du nicht gehört, Bursche?«, versetzte d’Artagnan.

»Allerdings«, erwiderte er.

»Warum antwortest du nicht?«

»Weil diese Pferde nicht zu verkaufen sind.«

»Dann nehme ich sie.«

Er legte die Hand an dasjenige, welches in seinem Bereich war.

Seine Gefährten erschienen in diesem Augenblick und taten dasselbe.

»Aber, Messieurs«, rief der Lakai, »sie haben eine Strecke von sechs Meilen zurückgelegt und sind kaum eine halbe Stunde abgesattelt.«

»Eine halbe Stunde Ruhe genügt«, versetzte d’Artagnan »und sie sind dann nur umso besser im Atem.«

Der Knecht rief um Hilfe.

Eine Art von Verwalter kam gerade in dem Augenblick heraus, wo d’Artagnan und seine Genossen den Pferden die Sättel auf den Rücken legten.

Der Verwalter wollte Lärm machen.

»Mein lieber Freund«, sagte d’Artagnan, »wenn Ihr ein Wort sprecht, zerschmettere ich Euch die Hirnschale.«

Er zeigte ihm den Lauf einer Pistole, die er sogleich wieder unter seinen Arm steckte, um sein Geschäft fortzusetzen.

»Aber, Monsieur«, sagte der Verwalter, »wisst Ihr, dass diese Pferde dem Monsieur von Montbazon gehören?«

»Desto besser«, erwiderte d’Artagnan, »es müssen gute Tiere sein!«

»Monsieur«, sprach der Verwalter, während er Schritt für Schritt zurückwich und die Tür zu erreichen versuchte, »ich sage Euch, dass ich meine Leute rufe.«

»Und ich die meinen«, antwortete d’Artagnan, »ich bin Lieutenant bei den Musketieren des Königs, habe zehn Wachen, die mir folgen, und Ihr … halt … hört Ihr sie galoppieren? Wir wollen doch sehen!«

Man hörte nichts, aber der Verwalter fürchtete sich, etwas zu hören.

»Seid Ihr fertig, Porthos?«, fragte d’Artagnan.

»Ich bin fertig.«

»Und Ihr, Mouston?«

»Ich auch.«

»Dann zu Pferde, und vorwärts!«

Alle drei schwangen sich auf ihre Rosse.

»Herbei!«, rief der Verwalter. »Herbei, Bedienten, und die Karabiner heraus!«

»Vorwärts!«, sprach d’Artagnan; »es könnte hier Musketenfeuer geben.«

Und alle drei ritten wie der Wind davon.

»Zu Hilfe!«, brüllte der Verwalter, während der Knecht zu dem benachbarten Haus lief.

»Hütet Euch, Eure Pferde zu töten!«, rief d’Artagnan und brach in ein schallendes Gelächter aus.

»Feuer!«, antwortete der Verwalter.

Ein Schimmer, dem eines Blitzes ähnlich, beleuchtete den Weg und zu gleicher Zeit mit dem Knall hörten die drei Reiter die Kugeln pfeifen, welche sich in der Luft verloren.

»Sie schießen wie Bedientenvolk«, sagte Porthos. »Zur Zeit des Kardinals von Richelieu schoss man besser. Erinnert Ihr Euch der Straße nach Crevecoeur, Mousqueton?«

»Ja, gnädiger Monsieur, der rechte Hinterbacke tut mir noch weh.«

»Wisst Ihr gewiss, dass wir auf der richtigen Spur sind, d’Artagnan?«, fragte Porthos.

»Bei Gott! Habt Ihr denn nicht gehört?«

»Was?«

»Dass diese Pferde Monsieur von Montbazon gehören?«

»Nun?«

»Nun! Monsieur von Montbazon ist der Gatte von Frau von Montbazon.«

»Weiter?«

»Und Frau von Montbazon ist die Geliebte von Monsieur von Beaufort.«

»Ah, ich begreife«, sagte Porthos, »sie hatte Relais gelegt.«

»Richtig!«

»Und wir eilen dem Herzog mit den Pferden nach, die er zurückgelassen hat.«

»Mein lieber Porthos, Ihr besitzt wirklich einen erhabenen Verstand«, sprach d’Artagnan mit seiner halb süßen, halb sauren Miene.«

»Bah!«, sagte Porthos, »wie ich bin, so bin ich.«

So ritt man eine Stunde, die Pferde waren weiß vom Schaum und das Blut floss ihnen vom Bauch.

»He! Was habe ich da unten gesehen?«, sagte d’Artagnan.

»Ihr seid sehr glücklich, wenn Ihr in einer solchen Nacht etwas seht!«, versetzte Porthos.

»Funken!«

»Ich habe sie auch gesehen«, sprach Mousqueton.

»Ah, ah! Sollten wir sie eingeholt haben?«

»Gut, ein totes Pferd«, sagte d’Artagnan, indem er sein Ross von einer Wendung zurück lenkte, die es gemacht hatte. »Es scheint, sie sind auch mit ihrem Atem zu Ende.«

»Es kommt mir vor, als hörte ich das Geräusch einer Truppe von Reitern«, sprach Porthos, auf die Mähne seines Pferdes vorgebeugt.

»Unmöglich; sie sind zahlreich.«

»Dann ist es etwas anderes.«

»Noch ein Pferd«, sagte Porthos.«

»Tot?«

»Nein, verendend.«

»Gesattelt oder abgesattelt.«

»Gesattelt.«

»Dann sind sie es!«

»Mut! Wir haben sie!«

»Aber sie sind zahlreich«, sprach Mousqueton. »Wir sind es nicht, die sie haben, sondern sie sind es, die uns haben.«

Bah!«, versetzte d’Artagnan, »sie werden uns für stärker halten, da wir sie verfolgen; dann wird sie die Furcht erfassen und wir werden sie zerstreuen.«

»Das ist sicher«, sagte Porthos.

»Ah, seht Ihr!«, rief d’Artagnan.

»Ja, abermals Funken. Diesmal habe ich sie auch wahrgenommen«, sprach Porthos.

»Vorwärts, vorwärts!«, sagte d’Artagnan mit seiner scharfen Stimme, »und in fünf Minuten werden wir lachen.«

Und sie jagten abermals fort. Wütend vor Schmerz und Wetteifer flogen die Pferde auf der finsteren Landstraße hin, auf deren Mitte man eine dunklere Masse als der übrige Horizont zu erblicken anfing.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert