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Nach Amerika! – Erster Band – 9

Friedrich Gerstäcker
Nach Amerika!
Erster Band
Leipzig, Berlin, 1855

Rüstungen

Nach New-Orleans!
Das ausgezeichnet schöne, 360 Last große, schnellsegelnde, kupferfeste und gekupferte dreimastige Bremer Schiff erster Klasse: Die Heidschnucke, Kapitän E. Siebelt, mit vorzüglicher Gelegenheit für Kajüt- und Zwischendeckpassagiere, wird am 30. August expediert.

Agent dafür, I. G. Weigel, Hauptagent des Zentralbüros für Norddeutsche Auswanderung in Heilingen, am Markt Nr. 17

Diese Anzeige stand am Morgen nach den im letzten Kapitel beschriebenen Vorfällen im Heilinger Tageblatt. Dr. Haide, der Redakteur desselben, hatte die Gelegenheit nicht unbenutzt wollen vorübergehen lassen, einige entsetzliche Mordgeschichten und falsche Bankrotte aus den Vereinigten Staaten wie zur Entmutigung aller Auswanderungslustigen in der nämlichen Nummer seines Blattes abzudrucken.

Weigel war wütend darüber und schrieb augenblicklich einen anderen Artikel dagegen; den nahm Doktor Haide aber nicht auf, weil er, wie er ganz naiv erklärte, sich dadurch selber blamieren würde. Übrigens sei die Sache auch schon erledigt, indem die Schiffsanzeige für sein Artikel aber gegen Amerika und die Auswanderung wäre und er es sich zum Grundsatz gemacht hätte, jeden Artikel nach beiden Seiten hin zu beleuchten – wenn Herr Weigel etwas gegen ihn wolle einrücken lassen, sei er keineswegs verpflichtet, es aufzunehmen, und er möge ihn deshalb, wenn er damit durchzukommen glaube, nur ganz einfach darauf verklagen.

Die Abfahrt dieses Schiffes war aber für Heilingen insofern von nicht unbedeutender Wichtigkeit, als sich mehrere Familien dieser Stadt ernstlich dahin entschlossen hatten, mit demselben nach Amerika auszuwandern. So unter anderen Professor Lobenstein, der sein Haus nun verkauft und der Stadt überhaupt durch seine beabsichtigte Auswanderung höchst willkommenen Stoff zu den mannigfaltigsten Vermutungen und Erörterungen geliefert hatte. Mehrere Kaffeegesellschaften der näheren Bekannten Lobensteins waren nur einzig und allein zu dem Zweck gegeben worden, sich einmal ordentlich über die Sache aussprechen zu können.

Auch in dem Dollingerschen Haus hatten die letzten Wochen bedeutende Veränderungen hervorgebracht, indem der junge Henkel Briefe von Amerika erhielt, nach denen seine Anwesenheit dort dringend notwendig geworden war. Zwei Wechsel trafen zugleich für ihn ein, wie ziemlich starke Aufträge zu Ankäufen in Tuch- und Seidenwaren von seinem Haus, welches Geschäft er mit Herrn Dollinger in Gemeinschaft auszuführen gedachte.

Der alte Herr Dollinger, so schwer es ihm auch wurde und solange er sich dagegen gesträubt hatte, musste da wohl endlich seine Einwilligung zu der Verbindung Claras mit dem jungen amerikanischen Kaufmann, über dessen Familie und Geschäft in New Orleans er von einem dortigen Geschäftsfreund das Beste erfahren hatte, geben. Nur wunderte man sich dort, dass der junge Henkel in Norddeutschland sei, während man ihn auf einer größeren Tour durch Italien und Griechenland vermutet. Die Leute dort konnten nicht wissen, dass der junge Mann auf dem Rhein andere Pläne für seine Zukunft geschaffen habe, als er sie früher vielleicht ausgesonnen hatte.

Am letzten Sonntag war also ganz in der Stille die Trauung vollzogen und Clara, das liebe holde Mädchen, die Frau des jungen reichen Amerikaners – wie man ihn überall in der Stadt nannte, geworden. Nun galt es noch, in der kurzen Zeit all die nötigen und so mannigfachen Vorbereitungen zu einer Reise nach Amerika für die junge Frau zu treffen. Es sollte aber wirklich auch nicht viel mehr als eine Reise werden, denn Henkel hatte sich schon selber fest erklärt, seinen künftigen Wohnsitz keineswegs in Amerika, sondern in Havre nehmen zu wollen, wo überdies der bedeutenden Geschäftsverbindung wegen mit diesem Hafen ein Associé des Hauses sich aufhalten musste. Ein oder zwei Monate gedachten die jungen Eheleute dann jedes Jahr in dem reizend gelegenen Heilingen zuzubringen, was ihnen und den Eltern die jetzige Trennung sehr erleichterte, und spätestens im März oder April schon wieder nach Europa zurückkehren zu können. Die ganze Reise war dadurch fast nur zu einer etwas längeren Vergnügungsfahrt geworden.

Auch für Claras Mutter war das Bewusstsein, ihr Kind nicht für immer zu verlieren und bald wieder in die Arme schließen zu können, eine unendliche Beruhigung. Selbst hierzu hatte es ihr einen großen Kampf gekostet, ihre Einwilligung zu geben. Clara selbst aber hing mit ganzem Herzen an dem teuren Mann und fühlte sich vollkommen glücklich in einer Verbindung, die, seit sie den Fremden kennen und lieben gelernt, ihr das Ziel ihrer irdischen Wünsche geschienen.

Was war ihr die Reise, was die Gefahr und Mühseligkeit derselben? Sie wäre ihm in eine Wildnis gefolgt und hätte sich doch glücklich an seiner Seite gefühlt.
Der junge Henkel wünschte nun die Überfahrt in einem englischen Dampfer nach New York und von da mit einem amerikanischen Dampfschiff nach New Orleans zu bewerkstelligen. Clara fürchtete sich aber an Bord eines Dampfers zu gehen, teils der doppelten Gefahr, teils der unangenehmen Bewegung derselben in schwerem Wetter wegen, von der sie viel gehört hatte. Da es sich nun gerade so traf, dass eine ihr befreundete Familie, Professor Lobensteins, ebenfalls nach New Orleans und in einem Segelschiff von Bremen ab auswanderte, bat sie mit diesen reisen zu dürfen. Henkel selber schien nicht recht damit einverstanden, fügte sich aber doch endlich den Bitten seiner jungen Frau.

Wenn aber bei Dollingers im Haus wenig mehr als Wäsche und Kleider herzurichten waren, nur zu einer Reise nicht zu einer Übersiedelung nach Amerika, und man diese schon großenteils gepackt und vorausgeschickt hatte, die letzten Stunden in der Heimat durch kein Aussuchen und Packen gestört zu haben, so schien dagegen bei Professor Lobenstein das ganze Haus von innen nach außen gekehrt zu sein.

Der Professor nämlich hatte auf keinerlei Weise bewogen werden können, mit seinen Sachen eine Auktion anzustellen und nur das Notwendigste mitzunehmen, da Fracht und Spesen unterwegs ein wirkliches Kapital auffressen würden, für das er sich alles, was er dort brauchte, auch an Ort und Stelle neu anschaffen könnte. Allen, die ihm dies rieten, zeigte er aus verschiedenen Schriften die statistisch aufgestellten Arbeitslöhne der verschiedenen Handwerker sowie die Preise der Provisionen und bewies ihnen auf das Klarste und Unumstößliche, was jedes einzelne Stück Möbel und Hausgerät in notwendiger Folgerung in Amerika kosten müsse. Ebenso hatte er sich mit unendlicher Ausdauer einen Überschlag der verschiedenen Frachtpreise nach New Orleans und von da ins Innere gemacht, bis er endlich zu dem obigen Resultat gekommen war, und nun auch augenblicklich eine Anzahl Tischler in Arbeit setzte, lauter neue Kisten für seine Sachen anzufertigen.

Eine große Anzahl von diesen war nun schon gepackt und mit eisernen Reifen beschlagen, als Fracht vorausgeschickt. Eine andere Sendung sollte heute abgehen, und die letzten dann in den nächsten Tagen befördert werden, um noch zur rechten Zeit an Ort und Stelle zu sein. Kellmann selbst, mit dem Haus eng befreundet, hatte dahin mehrere Aufträge übernommen und kam am Morgen, Bericht über die Ausführung derselben abzustatten.

Er selber war mit der ganzen Übersiedelung gar nicht einverstanden, hatte aber doch, als er alle Gründe des Professors dafür gehört, weit weniger dagegen gesagt, als die Familie im Anfang vermutet und auch wohl gefürchtet haben mochte. Der Professor sei eben ein Professor, meinte er nur, und wo der einmal seinen Kopf aufgesetzt habe, ließ sich auch nichts mehr abstreiten oder gar dagegen beweisen. Man müsse ihn eben sich selber überlassen, und es tue ihm nur um die Familie leid. Nichtsdestoweniger gab er sich jede erdenkliche Mühe, ihnen, wo er es nur irgend vermochte, beizustehen, wobei er den Professor doch von manchem unüberlegten oder unpraktischen Schritt zurückhielt. So kämpfte er, und zwar glücklicherweise mit Erfolg, gegen die unglückselige Idee des Professors an, sich hier, trotz allem, was er darüber schon gelesen hatte, von dem Auswanderungsagenten Land und eine Farm zu kaufen. Er wollte drüben nicht in Gefahr kommen von amerikanischen und betrügerischen Landspekulanten hintergangen zu werden, und seine Berechnung sämtlicher Kosten gleich hier an Ort und Stelle machen können, was ihm nicht möglich sei, wenn er die Kontrakte nicht in der Tasche habe.

Kellmann, auf dessen praktisches und gesundes Urteil er sonst überhaupt viel gab, machte ihn mit seinen ernstlichen Vorstellungen aber doch stutzig. Noch eine authentische Person über die dortigen Verhältnis zu hören, wandte er sich zuletzt an den jungen Henkel und bat diesen um Meinung und Rat über die ihm allerdings sehr am Herzen liegende Sache. Dieser riet ihm aber ebenfalls auf das Entschiedenste ab, sein Geld hier an eine solche Spekulation wegzuwerfen, denn dieser Weigel scheine ihm, was er bisher von ihm gesehen hatte, eine keineswegs volles Vertrauen verdienende Persönlichkeit. Er solle warten, bis sie drüben wären, dort habe er Zeit genug (Kellmann hatte ihm dasselbe gesagt). Finde er in New Orleans oder Missouri nichts Besseres, so sei er selber vielleicht imstande, ihm ein kleines reizendes Gut abzutreten, das er einmal auf einem Jagdzug ins Innere des Landes gekauft und nun noch verpachtet hätte.

»Und der Preis?«

»Er würde zufrieden sein.«

Damit war die Sache für jetzt abgemacht; freilich zu Weigels Verdruss, der die Farm, wie er sich ausdrückte, nun noch zur Verfügung behielt.

Es mochte etwa morgens um elf sein, als Kellmann Professor Lobensteins besuchte. Das Haus war am vorigen Tag öffentlich verauktioniert und von einem reichen Weinhändler in Heilingen erstanden worden, die Familie aber nun in angestrengter Arbeit eifrig bemüht, das unangenehme Gefühl nicht allein zu verscheuchen, sondern auch eines vor dem anderen zu verbergen, zum ersten Mal in der eigenen Heimat fremd zu sein, zum ersten Mal fremd in den Räumen, die ihrer Kindheit Spiele gesehen und Zeuge gewesen waren ihrer keimenden Hoffnungen und Träume.

Der erste schwere Schritt zu einem neuen Leben und Wirken war aber damit geschehen; freilich auch zu gleicher Zeit die Brücke abgebrochen, die noch zurück hätte führen können in das Vaterland. Das Band war damit zerrissen, das sie noch an dieses knüpfte. Wunderbarerweise hatte sich nun, wie sie sich gestern noch fast alle vor dem Gedanken gefürchtet hatten, die lieben teuren Räume zu verlassen, ein fremdes unheimliches Gefühl zwischen sie und das Haus geworfen. Sie ersehnten den Augenblick, wo sie hinaus konnten, fort, nur fort von hier – aus den Erinnerungen fort. Und doch sprachen sie das nicht aus gegeneinander. Jedes hielt sich nur allein für so töricht und kindisch, mit den quälenden Gedanken; keines wusste, dass das Gefühl, in ihrer aller inneres Leben verwoben sei und in des Herzens feinsten Fasern Wurzel schlug.

Die Stimmung aller, so sehr sie sich auch hüteten, dem, was sie dachten, Worte zu geben, war denn auch an dem ganzen Morgen schon eine stille, gedrückte gewesen, und Kellmanns Erscheinen befreite alle wie von einer Last. Unten auf der Treppe wurde der aber schon laut.

»Na, ist das ein Vergnügen zu so einer Auswanderungsfamilie ins Haus zu kommen«, rief er, als er sich mit zusammengehaltenen Schößen zwischen einer Reihe Kistendeckel hindurchdrückte, die, mit den Nägeln nach außen, an der Wand lehnten, und dabei noch über eine Unzahl Körbe und Schachteln hinwegsteigen musste, nur um in die Stube zu kommen.

»Nehmen Sie sich in Acht, lieber Kellmann«, rief ihm der Professor, der seine Stimme gehört hatte, aus der halb geöffneten Tür entgegen. Er konnte diese nicht ganz aufmachen, da ebenfalls eine Kiste dahinter stand. »Sie könnten sich da draußen die Kleider zerreißen.«

»Ist schon bereits geschehen«, brummte Kellmann, indem er versuchte, einen Blick nach seinem allerdings beschädigten Rückteil zu gewinnen. »Meine Güte, wie sieht das bei Ihnen aus … ah guten Morgen meine Damen … und schon so fleißig? Was um Gottes Willen nähen Sie denn da? Getreidesäcke für die nächste Ernte?«

»Fehlgeschossen, Herr Kellmann«, rief ihm aber Marie, die sich gern mit dem freundlichen Mann neckte, entgegen, »Jacken sind das für uns, in den Busch, zwischen den Dornen und Schlingpflanzen, die uns sonst das leichte Zeug von den Schultern rissen. Warten Sie einen Augenblick, da können Sie uns gleich Ihre Meinung sagen; die meine ist gerade fertig und ich will sie eben anprobieren. Lassen Sie nur, ich werde schon allein fertig, dort drüben müssen wir überdies alles allein machen. So – nun, wie gefalle ich Ihnen darin?«

»Gar nicht«, sagte Kellmann mürrisch, »ich sähe Sie weit lieber in einem leichten Ballkleid und mit Ihrem gewöhnlichen heiteren Gesicht als in der Sackleinwand und … hm … das verdammte Amerika. Geht denn Eduard jetzt noch mit oder bleibt er da? Wo steckt er denn wieder? Der ist immer fort, wenn ich komme.«

»Der geht mit, lieber Kellmann«, rief der Professor, »er konnte sich nicht dazu entschließen, seine Eltern und Geschwister allein in die Welt ziehen zu lassen, wo er ihnen vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben nützlich sein würde, und ist jetzt noch in der Schnelle zu einem Tischler gegangen, die paar Wochen wenigstens zu benutzen und doch eine Idee von dem Handwerk zu gewinnen. Wer weiß, was wir da alles zu tun bekommen.«

»Wird auch was Rechtes davon in den paar Tagen profitieren«, brummte Kellmann. »Bei wem ist er denn, bei Leupold?«

»Leupold?«, rief der Professor, »der geht ja mit unserem Schiff nach New Orleans.«

»Der Tischlermeister Leupold wandert auch aus?«, rief Kellmann laut und verwundert.

»Hat sein Häuschen und seine Werkstätte verkauft und ist jetzt wahrscheinlich schon unterwegs nach Bremen«, bestätigte ihm der Professor.

»Nanu, ist es mir aber doch über den Spaß«, rief Kellmann. »Da läuft ja halb Heilingen fort; jetzt freut mich mein Leben; nächstens werden wir uns unsere Schränke, Schuhe und Röcke selber machen können, wenn wir etwas haben wollen. Ich darf nur gleich den meinen zum Schneider schicken dass er ihn mir noch ausbessert, ehe er auch durchbrennt. Es ist zum Verzweifeln.«

»Lieber Gott«, sagte der Professor, »die Leute verlangen nur Ellbogenraum, sich zu rühren. Sie wollen einen Platz haben, der ihren Bedürfnissen Befriedigung verspricht.«

»Da haben Sie gleich den faulen Fleck«, rief Kellmann, » Bedürfnisse befriedigen. Wenn die Leute lebten, wie ihre Voreltern gelebt haben, und nicht mit jedem Jahr auch neue Bedürfnisse kennen lernten und befriedigt haben wollten, so hätten wir alle Platz, und das verwünschte Amerika könnte sehen, wo es Hände und Fäuste bekäme, zuzupacken und ihm den Boden zu bestellen. Aber ich will mich nicht länger ärgern – lasst sie laufen, nachher wird es hier erst recht gemütlich – apropos – Ihren Freund Weigel haben sie gestern Abend im Roten Drachen hinausgeworfen. Er wollte Dienstleute, ich glaube einen Schäfer, verlocken, nach seinem gerühmten Amerika auszuwandern.«

»Meinen Freund?«, sagte der Professor achselzuckend, »ich habe mit Herrn Weigel nie in einer solchen Beziehung gestanden, aber ich achte ihn als einen Mann, der ein gutes Herz mit einer tüchtigen Portion gesundem Menschenverstand verbindet und besonders schätzenswerte statistische Kenntnisse Amerikas besitzt.«

»Bah!«, sagte Kellmann, den Kopf auf die Seite werfend und mit den Fingern schnalzend, »so viel für seine statistischen Kenntnisse; unverschämt ist er, das halte ich für seine Hauptforce, und er wirft Ihnen da mit der größten Kaltblütigkeit eine Masse Zahlen in den Bart, denen man nicht gleich widersprechen kann, weil sich der Gegenbeweis eben nicht führen lässt. Wenn das alles wahr ist, was er über Amerika sagt, wäre er der größte Esel, wenn er nicht selber hinüberginge.«

»Seine Verhältnisse gestatten es ihm nicht, wie er mich oft versichert hat«, verteidigte ihn aber der Professor.

»Ja, das kennen wir schon«, sagte Kellmann, »und wenn mich irgendetwas glauben machen könnte, dass er wirklich Amerika kennt, so wäre es der Umstand, dass er selber nicht hinübergeht.«

»Im Roten Drachen war ja wohl gestern ein kleines Fest?«, fragte die Frau Professorin dazwischen, die das unerquickliche Gespräch abzubrechen wünschte.

»Ja, für die Dienstleute von Hohleck«, sagte Kellmann, »und Schollfeld und ich waren ebenfalls hinausgegangen, um den Spaß mit anzusehen.«

»Und ihr Freund, der lange Aktuar war nicht dabei?«, fragte lachend Marie.

»Er kam später nach«, sagte Kellmann. »Der arme Teufel ist jetzt auch immer verdrießlich und niederschlagen.«

»Er hat sein Kind verloren«, sagte Anna mitleidig.

»Ja, und zu Hause fühlt er sich auch wohl nicht so recht wohl und behaglich.«
»Wir haben davon gehört«, sagte die Professorin, »seine Frau soll eigenwillig und heftig sein und ihm oft gar unangenehme Szenen bereiten.«

»Seine Frau ist …«, fuhr Kellmann auf, aber er unterbrach sich selber wieder und trommelte eine Weile mit den Fingern auf dem vor ihm stehenden Tisch.

»Was ist Ihnen denn nur heute, Herr Kellmann?«, fragte aber Marie, nun zu ihm tretend und seinen Arm berührend. »Sie schneiden ja heute Morgen ein so bitterböses Gesicht, wie ich noch fast in meinem Leben nicht an Ihnen gesehen habe. Ist Ihnen irgendetwas Ärgerliches begegnet? Oder sind Sie doch nicht böse mit uns?«

»Böse mit Ihnen? Lieber Gott, Mariechen«, sagte Kellmann herzlich ihre Hand ergreifend. »Ich müsste böse mit Ihnen sein, dass Sie fortgehen und mich hier allein zurücklassen; sonst wüsste ich wahrhaftig nicht, weshalb.«

»So kommen Sie mit«, erwiderte Marie, indem sie neckisch zu ihm aufsah.

Kellmann seufzte tief auf, sagte dann aber kopfschüttelnd und mit der Hand über seine Stirn streichend, als ob er sich daraus all die trüben Gedanken verscheuchen wollte: »Nach Amerika? Ja, weiter fehlte mir gar nichts; aber heute sind es wirklich andere Sachen, die mir im Kopf herumgehen.«

»Ist etwas vorgefallen, und können wir Ihnen helfen, lieber Herr Kellmann?«, fragte Anna freundlich.

»Ach Gott, nein«, sagte der kleine Mann seufzend, »es ist ein Stück von dem allgemeinen Elend, das über den ganzen Erdball hinspielt und das uns gewöhnlich mit einem unheimlichen Gefühl, auch nicht außer dem Bereich desselben zu liegen, durchschauert, wenn wir ihm einmal auf unserem Lebenspfad begegnen. Sie sahen mich, als ich vor dritthalb Stunden etwa drüben aus dem Löwen kam?«

»Ja, Sie grüßten ja herauf«, sagte die Professorin.

»Nun gut, ich war dort, einem armen Mädchen nachzufragen, das wir gestern Abend spät auf der Straße trafen und das ich dorthin schickte, Nachtquartier zu suchen.« Und nun erzählte ihnen Kellmann mit kurzen Worten das gestrige Zusammentreffen mit des unglücklichen Loßenwerder Schwester, und ebenfalls, dass sich schon jetzt herauszustellen scheine, wie der arme Teufel von Loßenwerder unschuldig in Verdacht geraten sei. Nur in reiner Verzweiflung mochte er sich den Tod gegeben haben, als man ihm das Letzte, Einzige, das er auf der Welt hatte – seinen ehrlichen Namen – nehmen wollte oder eigentlich schon von Gerichts wegen genommen hatte. Unsere wackeren Polizeigesetze halten nun einmal jeden Menschen für einen Spitzbuben, bis er nicht durch Atteste genügend dargetan hat, dass gegen ihn noch nichts Gravierendes bekannt geworden war.

»Und was geschieht jetzt mit dem armen Mädchen?«, fragten fast gleichzeitig Marie und Anna. »Lieber Gott, hier in der fremden Stadt, allein, ohne Mittel, ohne Freunde, wie entsetzlich müsste es da sein, wenn sie vielleicht aus rohem Mund zuerst die furchtbare Nachricht vernähme.«

»Gestern Abend«, sagte Herr Kellmann etwas verlegen, »kam uns das Ganze wirklich so schnell und überraschend, dass wir nicht die geringste Zeit zum Überlegen behielten; wir … wir gaben ihr nur ein paar Groschen und schickten sie in den Löwen, hier gegenüber, um da zu übernachten, damit sie nicht in der Stadt nach ihrem Bruder fragte und die entsetzliche Geschichte gleich in der ersten Viertelstunde erführe. Heute Morgen wollte ich dann selber herkommen und sehen, was sich tun ließ …«

»Und jetzt? Weiß sie, was geschehen ist?«, fragte die Professorin, mitleidig die Hände faltend.

Herr Kellmann zuckte mit den Achseln und sagte: »Sie ist fort …«

»Fort? Wohin?«, riefen die Frauen.

»Kein Mensch konnte mir darüber Auskunft geben. Gestern Abend war sie richtig dort angekommen, und ihres dürftigen Aussehens wegen in die Gesindestube gewiesen. Dort muss sie unglückseligerweise ihren Namen genannt, vielleicht nach ihrem Bruder gefragt und das Schrecklichste gleich erfahren haben, denn sie war, selbst ihr Bündel im Stich lassend, hinausgelaufen in Nacht und Nebel und … und nicht wieder zurückgekehrt.«

»Du lieber Gott«, sagte Anna, »wenn sie sich nur kein Leides getan hat.«

»Ich bin gleich zu Ledermann und dann auf die Polizei gegangen, diese aufmerksam zu machen«, sagte Kellmann etwas kleinlaut, »werde auch selber noch mein Möglichstes tun, das arme Ding wieder aufzufinden, aber – ich weiß wahrhaftig nicht, wo man die eigentlich suchen soll, denn sie kennt ja keinen einzigen Menschen in der Stadt.«

»Und in ihres Bruders früherem Logis?«

»Hat sie niemand gesehen – ich war dort.«

»Waren Sie auch schon auf dem Kirchhof?«, fragte ihn Marie nun leise und schüchtern.«

»Wahrhaftig, daran hatte ich gar nicht gedacht«, sagte Kellmann, rasch seinen Stuhl zurückschiebend, »die Möglichkeit ist da, und ich will keinen Augenblick mehr versäumen – vielleicht ist es jetzt noch nicht zu spät.«

»Und Sie geben uns Antwort?«

»So wie ich etwas Bestimmtes über sie weiß – aber – aber was dann mit ihr anfangen? Hier in der Stadt kann sie nicht bleiben«, sagte Kellmann, die Türklinke schon in der Hand, »und überhaupt scheint mir ihr schwächlicher Körper zu grober Handarbeit gar nicht geeignet.«

»Vielleicht bietet sich da für die Schwester in demselben Haus ein Ausweg«, rief Anna plötzlich, »das für den Bruder ja so viel gut zu machen, wenn er wirklich unschuldig gelitten hatte. Gestern Nachmittag noch klagte mir Clara ihr Leid, dass ihre Kammerjungfer, mit der sie sehr zufrieden ist und die ihr bis dahin fest versprochen hatte, mitzugehen, plötzlich anderes Sinnes geworden wäre und sich jetzt weigerte, Heilingen zu verlassen. Clara ist so seelensgut, sie würde gewiss alles tun, was nur in ihren Kräften steht, das arme Kind den herben Verlust vergessen zu machen.«

»Aber wird sich das Mädchen selber dazu eignen?«, fragte Kellmann.

»Weshalb nicht«, rief aber auch jetzt Marie, »bringen Sie die Arme nur hierher, sobald Sie sie finden, und nehmen sie Henkels nicht mit, findet Papa gewiss einen Ausweg.«

»Ja, Papa einen Ausweg«, sagte aber der Professor, »ich kann niemanden mehr mitnehmen, Kinder, so viel solltet Ihr eigentlich jetzt schon wissen, denn wir sind Leute genug.«

»Ach, wenn sie überhaupt gehen will«, rief Kellmann, »die Passage bringen wir hier schon zusammen, und wenn sich Fräulein Anna bei Frau Henkel für sie verwenden will, wäre es ein Glück für das arme Mädchen, den hiesigen für sie so trüben Verhältnissen so rasch wieder entrissen zu werden. Doch jetzt leben Sie wohl – ich habe da nicht lange Zeit mehr zu verlieren und hoffe Ihnen bald günstige Nachrichten bringen zu können.«

 

***

 

Aktuar Ledermann hatte die Nacht einen heftigen Fieberanfall bekommen und sich am anderen Morgen auf seinem Büro entschuldigen lassen. Erst um zehn Uhr etwa fühlte er sich etwas besser und beschloss, ein wenig an die frische Luft zu gehen, in dem sonnigen Morgen draußen die trüben quälenden Gedanken zu verscheuchen.
Er ging auf den Kirchhof, das Grab seines kleinen Lieblings zu besuchen, und nahm einen Monatsrosenstock mit hinaus, ihn darauf zu pflanzen.

Der Weg, der zu dem Grab zwischen den anderen Hügeln hin führte, lief eine kurze Strecke die Mauer entlang, die bisher leer gelassen und von Unkraut überwuchert lag. Nur ein einziger, unter Gras und Unkraut fast versteckter flacher Hügel war dort aufgeworfen, über dem kein Kreuz den Namen des Hingeschiedenen kündete, keine Blume ein sorgendes Herz verriet, das dem Entschlafenen die stille Träne nachgeweint. Und dort? In das hohe, feuchte Gras geschmiegt, lag eine schlanke Mädchengestalt, Stirn und Antlitz in dem wuchernden Unkraut verborgen, auf dem die vollen aufgelösten Locken ruhten.

»Lieber Gott«, sagte der Aktuar, mit dem Blumenstock im Arm neben ihr stehen bleibend, leise vor sich hin, »es ist doch noch viel, viel Elend in der Welt, und wenn einem recht traurig und weh ums Herz ist, sollte man eigentlich immer hinaus auf den Kirchhof gehen. Da haben die Leute nicht ihre glatten unbewegten Alltagsgesichter vor, sondern geben sich, wie sie sind, und wenn es auch eben kein Trost sein sollte, andere Menschen unglücklich zu sehen, ist es doch jedenfalls einer, zu wissen, dass man es nicht allein ist.« Und sich langsam abwendend schritt er dem Grab seines Kindes zu, setzte den Blumentopf auf den kleinen Hügel und sich selber dann auf eine dicht daneben liegende Marmorplatte, die das Grab eines anderen Menschen deckte.

Dort blieb er lange, das Gesicht mit den Händen bedeckt und regungslos in seiner Stellung verharrend, seinen schmerzlichen Gedanken überlassen, bis die Sonne höher und höher stieg und ein stechender Kopfschmerz ihn mahnte, den heißen Strahlen vollkommen ausgesetzten Platz zu verlassen, wenn er sich nicht noch kränker machen wollte als er schon war. Er stand auf und sah sich nach dem Totengräber um, diesen zu bitten, den Blumenstock für ihn einzusetzen, und fand ihn auch, nicht weit von dort entfernt, mit einem neuen Grab beschäftigt. Langsam seinen Spaten schulternd, ging er mit ihm zu dem verlangten Platz. Dort sein Handwerksgerät neben sich in den Boden stoßend und sich den Schweiß von der glühenden Stirne trocknend, sagte er freundlich: »Warmer Tag heute, Herr Aktuar – sehen Sie einmal, was für ein schönes Stöckchen; das müssen wir aber ordentlich angießen, sonst vertrocknet es gleich in der lockeren Erde – werde Ihnen das schon besorgen.«

»Bitte sein Sie so gut«, sagte Ledermann.

Der Mann nahm den Stock auf, drehte ihn um und schlug mit der flachen Hand unter den Topf, diesen locker und los zu bekommen.

»Kennen Sie das junge Mädchen was da auf dem Grab an der Mauer liegt?«, fragte der Aktuar nun, als sein Blick wieder zufällig dort hinüber streifte, »dort drüben, meine ich.«

»Ja, ich weiß schon«, sagte der Mann, ohne den Kopf zu wenden und mit seiner Arbeit beschäftigt, »nein, sie saß vor dem Kirchhofgitter schon heute Morgen, als ich öffnete, um drei Uhr früh, und muss die ganze Nacht da zugebracht haben. Wie ich das Tor aufmachte, fragte sie mich nur nach dem Grab eines armen Teufels, den wir hier vor kurzer Zeit zu Ruhe gebracht hatten, und ist seit der Zeit nicht von dort weggegangen. Das kommt manchmal vor.«

»Und wer liegt da begraben?«, fragte Ledermann schnell, dem ein plötzlicher Gedanke an das Mädchen von gestern Abend aufstieg.

»Dort an der Mauer?«, sagte der Totengräber, »Sie wissen ja, der kleine bucklige Bursche, der von der Brücke gesprungen war und sich den Kopf aufgeschlagen hatte.«

Dem Aktuar fuhr es mit einem eisigen Stich durchs Herz, aber er erwiderte nichts, gab dem Mann eine Kleinigkeit für seine Dienstleistung und ging dann langsam, als ihn dieser wieder verlassen und seine frühere Arbeit aufgenommen hatte, zu Loßenwerders Grab, wo die Trauernde noch still und regungslos in ihrem Jammer lag. Nur das krampfhafte Zittern des Körpers verriet das darin wohnende Leben.

»Liebes Kind«, sagte Ledermann leise – das Mädchen bewegte sich nicht – »mein liebes Kind«, sagte er lauter und berührte ihre Schulter mit einem Finger. Langsam hob sie das bleiche, Tränen überströmte Gesicht zu ihm empor. Als sie den fremden Mann neben sich sah, richtete sie sich verwirrt, beschämt aus ihrer Stellung auf.

»Aber wie können Sie sich hier so Stunden lang in das feuchte Gras werfen«, sagte der Aktuar mit freundlichem Vorwurf, »Sie müssen ja krank werden – nicht wahr, Sie kennen mich nicht mehr?«

Das Mädchen sah ihn groß und verwundert an und schüttelte dann langsam mit dem Kopf.

»Ich sprach gestern Abend mit Ihnen, draußen vor dem Tor, wo die Musik in dem Haus war«, sagte Ledermann. »Hatten Sie gar keine Ahnung von dem Schicksal des Bruders?«

»Keine«, sagte die Arme leise, das Köpfchen wieder senkend.

»Und wo erfuhren Sie seinen Tod?«

Das Mädchen schauderte zusammen, als sie des Augenblicks gedachte, und sagte endlich wie mit angstgepresster Stimme: »Gestern Abend in dem Haus – die Leute in der Gesindestube fragten mich, wo ich herkäme und um meinen Namen, und dann …«

»Und dann?«, fragte der Aktuar mitleidig, als das Mädchen schwieg und ihr Antlitz wieder zitternd in den Händen barg.

»Dann sagten sie«, setzte das Mädchen, am ganzen Körper bebend hinzu, »dass einer, der so hieß … und sie spotteten dabei über sein Gebrechen … dass einer … hier …« Sie vermochte nicht auszureden und warf sich rücksichtslos um den neben ihr stehenden Fremden und in krampfhafter Verzweiflung wieder auf das Grab nieder, das sie laut schluchzend mit ihren Armen umschlang, und den Bruder rief, sie zu sich zu nehmen in sein stilles, kühles Bett.

Nur mit Mühe und herzlichen tröstenden Worten, die er zu ihr sprach, brachte sie Ledermann, als sich ihr Schmerz in etwas ausgetobt hatte, endlich dahin, sich etwas zu fassen und zu beruhigen und ihm mehr über ihr Schicksal und sich selber zu sagen. Sie hieß Hedwig, war fünfzehn Jahr alt und hatte bis zu ihrem elften Jahr bei einer entfernten armen Verwandten zugebracht, nach deren Tod sie, ein Kind noch, bei fremden Leuten in Dienst gehen musste. Ihre Eltern schienen in besseren Verhältnissen gelebt zu haben, waren aber früh gestorben und die Waisen sich selber überlassen gewesen. Ihr um zehn Jahr älterer Bruder Franz hatte sie dabei noch immer dann und wann von dem Wenigen, was er selber verdiente, unterstützt, auch ihr vor einigen Monaten – und das musste etwa grade vor seinem Tode gewesen sein, geschrieben, dass er recht sparsam lebe und bald so viel zusammen zu haben hoffe, mit ihr, der Schwester, nach Amerika auszuwandern, dort vielleicht ein kleines Geschäft oder irgendetwas anderes anzufangen, ehrlich durch die Welt zu kommen. Hedwigs Aussage nach musste er ihr auch die genaue Summe geschrieben haben, die er besaß. Als sie der Aktuar dringend bat, ihm den Brief zu verschaffen, wenn es irgend möglich sei, da der vielleicht vollständig des Bruders Unschuld beweisen konnte, zog sie aus ihrer Brust das zusammengefaltete und dort bisher sorgfältig bewahrte Papier. Es war das Letzte, was sie von ihm bekommen hatte. Und als Monat nach Monat verstrich und keine neue Nachricht kam, wurde sie zuletzt unruhig und schrieb nach Heilingen. Aber auch hierauf erhielt sie keine Antwort. Nicht mehr imstande, die Ungewissheit zu ertragen, verließ sie ihren Dienst und machte sich mit wenigen Groschen in der Tasche auf, den weiten Weg zu Fuß zurückzulegen. Und ihr Empfang? Großer Gott, mit Spott und Hohn wurde ihr Bruder, das einzige noch auf der Welt ihr gehörende Wesen, das sie mehr als sich selber liebte, eines furchtbaren Verbrechens beschuldigt, infolgedessen er sich selber das Leben genommen. Schlimmer, gewaltiger noch als die Nachricht seines Todes, erschütterte das reine, vertrauensvolle Herz des armen Kindes der erste Zweifel an den Hingeschiedenen, der doch heimlich und quälend in ihr aufsteigen wollte, wie sie sich auch dagegen sträubte. Und doch wusste, sie dass er keiner schlechten Handlung fähig gewesen sei.

Während dieser Erzählung flossen ihre Tränen stärker; wenn aber der Schmerz auch nur mehr aufgerüttelt wurde durch das Wiederdurchleben vergangener Szenen, fand sie doch auch einen Trost in dem Aussprechen über ihren Verlust. Der Aktuar überlas indessen flüchtig den Brief. Das Datum mit dem verübten Raub vergleichend sah er, ob Loßenwerder nun schuldig oder unschuldig sei, dass jenes, bei ihm gefundene Geld sein Eigentum gewesen sein müsse, schon vor dem Tag, und nicht mehr als Beweis gegen ihn gelten konnte.

So traf sie Kellmann, der von Lobensteins direkt auf den Gottesacker gegangen war, das arme Mädchen aufzusuchen. Mit wenigen Worten sagte ihm der Aktuar, was er von ihr erfahren hatte. Der gutmütige kleine Kürschner setzte sich neben sie auf das Grab des Bruders, nahm ihre Hand in die seine, und diese streichelnd sprach er ihr Mut und Hoffnung in das arme gequälte Herz. Sie sollte nicht mehr allein stehen auf der Welt; er wollte Freunde für sie finden, die sich ihrer annähmen, und sie beide, Ledermann und er, wollten nicht ruhen noch rasten, bis ihres Bruders Name wieder ehrlich gemacht sei vor der ganzen Stadt; lieber Gott, sie konnten ja nichts mehr für den Armen tun.

Hedwig weinte, während er sprach, aber die Tränen lösten ihren Schmerz – die freundlichen Worte; oh die ersten wieder seit so langer, langer Zeit, die sie gehört hatte, taten ihr gut und bannten die Verzweiflung aus ihrem Herzen, der sie ja sonst wohl rettungslos verfallen wäre. Wie viel Segen hat schon ein herzliches Wort gebracht, dem Unglücklichen gespendet, wie viele Tränen getrocknet, wie manches Weh, wenn es nicht heilen konnte, doch gelindert.

Kellmann erbot sich dann auch, sie zu seiner Mutter zu führen, wo sie wenigstens bleiben konnte, bis sich etwas Weiteres entschieden hatte. Von Amerika sagte er ihr noch nichts, die nächsten Tage mochten sie erst mit dem Gedanken vertrauter machen, wenn sie hörte, wie viel Leute, die auch ihren Bruder gekannt hatten und liebe Freunde von ihm selber seien, gerade jetzt nach dort hinübergingen.

Hedwig zögerte noch schüchtern, das gütige Erbieten anzunehmen, aber die Worte klangen so herzlich, so gut gemeint. Sie stand so hilflos, so allein in der weiten Welt. Der fremde Mann erschien ihr wie ein Engel des Himmels in ihrem Schmerz. Unter Tränen nahm sie seine Hand, dankte ihm und sagte, dass sie ihm folgen würde, wohin er sie führe.

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