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Nick Carter – Ein verhängnisvoller Schwur – Kapitel 6

Nick Carter
Amerikas größter Detektiv
Ein verhängnisvoller Schwur
Ein Detektivroman

Auf neuer Fährte

Wohl nie zuvor in seinem ereignisvollen Leben sah sich der berühmte Detektiv so ratlos wie gerade in diesem Augenblick. Die Entdeckung des Coroners hatte alle bisherigen Annahmen mit einem Schlag über den Haufen geworfen. Bevor er weiter handelnd eingriff, musste er sich über die nunmehrige Sachlage erst klar geworden sein.

Nick wehrte die Detektive von der Zentrale ab, die eifrig mit ihm über den neuen, interessanten Fall diskutieren wollten. Er musste einige Minuten lang mit sich allein sein und ungestört nachdenken können.

So begab er sich in den Park und suchte eine einsam gelegene Bank auf.

Mit der ihm eigenen Willenszähigkeit verstand er es augenblicklich, sich in die der Lösung harrenden Probleme zu vertiefen. In logischer Reihenfolge überdachte er die Geschehnisse.

Ursprünglich hatte er an diesem Vormittag Morris Carruthers zum Totenhaus in Sing-Sing überführen wollen. Natürlich hatte hiervon, wie auch aus ihrem Brief hervorging, die sich verborgen haltende Inez Navarro gewusst. In diesem Brief hatte sie ihren Entschluss, Selbstmord zu begehen, zum Ausdruck gebracht. Sie hatte ferner an den von ihr genannten Ort eine Leiche geschafft, deren Antlitz mit großer Sorgfalt so emailliert worden war, dass selbst der Detektiv nicht dem ihm vorgespielten Betrug bemerkt, sondern die Tote für Inez Navarro gehalten hatte.

Es war ihm völlig klar, dass die Verbrecherkönigin hierbei von zwei Absichten geleitet worden war. Einmal hatte sie Nick Carter von dem Transport Morris Carruthers’ abhalten wollen – das war ihr gelungen. Ferner aber hatte sie den Detektiv beseitigen wollen. Darum hatte sie den Telefonapparat in der Bauhütte mit dem Dynamo im Keller in Verbindung gebracht. Da die ihre Züge tragende Leiche nicht, wie Nick Carter ursprünglich angenommen hatte, durch den Starkstrom vorsätzlich und mit Überlegung getötet worden sein konnte, denn das Leben war aus ihr ja schon eine volle Woche zuvor entflohen, so konnte das geschickte Arrangement der Drähte nur für ihn selbst bestimmt gewesen sein. Dass der teuflische Anschlag misslungen war, war lediglich das Spiel des Zufalles. Wäre die isolierte Drahtleitung des Tischapparates nicht in die Arme der Leiche verwickelt gewesen und hätte Nick Carter nicht von der Benutzung des Telefons Abstand genommen, weil er die Lage der Toten vor Ankunft des Coroners um keinen Preis zu verändern wünschte, so hätte er unbedenklich nach dem Hörrohr gegriffen – mit anderen Worten, er wäre nun längst ein toter Mann.

Warum hatte Inez Navarro so teuflisch grausam gehandelt? Lediglich um ihren Rachedurst zu befriedigen? Das glaubte der Detektiv doch noch bezweifeln zu sollen. Nein! Inez Navarro hatte den ihrer Meinung nach unfehlbaren Anschlag ausgeheckt und in Szene gesetzt, um ihren gefährlichsten und unversöhnlichen Gegner aus dem Wege zu räumen. Nick Carter hatte sterben sollen, damit sie – und mutmaßlich auch ihr Geliebter, Morris Carruthers – sich des Lebens umso ungestörter erfreuen konnten.

Was den Verbrecherkönig anbetraf, so konnte er, Nick Carter, vielleicht in einer Stunde Nachricht von Inspektor McClusky erhalten, ob es diesem gelungen war, den gefährlichen Mann sicher im Zuchthaus zu Sing-Sing abzuliefern. Bis dahin musste er sich bescheiden.

Weshalb aber hatte Inez ihren teuflischen Anschlag gerade in der Bauhütte ihres Schwagers sich abspielen lassen? Das war der Punkt, der allen Schlussfolgerungen des Detektivs Hohn sprach; denn dieser Umstand erschien ihm geradezu unsinnig. Er konnte nicht begreifen, dass eine solche kluge Frau wie diese Inez sich eine derartige plumpe Blöße geben sollte. Hier aber harrten auch noch andere Rätsel ihrer Lösung. Wenn Inez gegenwärtig die Rolle der Baumeistersgattin spielte – und Nick Carter hätte einen Eid darauf ablegen mögen, dass dies der Fall war – was war alsdann aus ihrer Zwillingsschwester, der wirklichen Mrs. Menasto, geworden? Hatte Inez sie beseitigt? Kaum denkbar, denn so leicht lässt sich ein Mensch nicht beseitigen … zumal Inez ja auf den Schutz ihres Schwagers angewiesen war.

Noch ein weiterer Umstand existierte, dessen Aufklärung aller Verstandeskräfte des Detektivs spottete. Diese vermeintliche Mrs. Menasto musste bereits gestern und auch schon geraume Zeit zuvor die Rolle der Hausherrin gespielt haben, denn sie wusste um Dinge, welche ihren tagelangen Aufenthalt im Haushalt unwiderleglich dartaten. Sollte Inez auch dem Baumeister gegenüber, welcher doch erst am Nachmittag zuvor das Haus verlassen hatte, die Rolle seiner Frau gespielt haben?

Nein! Das erschien ausgeschlossen, denn Menasto musste geradezu ein Idiot sein, hätte er einen solchen Betrug nicht sofort durchschaut. Er sagte selbst, dass er bereits seit fünf Jahren mit seiner Frau verheiratet war und in denkbar glücklichster Ehe mit ihr lebte. Und mochte die Zwillingsschwester seiner Frau dieser noch so ähnlich sein, so konnte sie den Ehegatten doch nicht über ihre Identität täuschen. Darüber nachzudenken, lohnte sich nicht, denn das war einfach lächerlich.

Wie aber, wenn die gewissenlose, in allen Ränken und Intrigen erfahrene Inez ein Doppelleben geführt hatte, wenn sie zugleich Inez Navarro, die Verbrecherkönigin, und Carmen Menasto, die angebetete Frau des Millionärs, gewesen war? Doch auch diesen Gedanken verwarf Nick Carter sofort wieder, denn er schien noch unmöglicher als seine vorige Annahme. Aus den Mitteilungen des Baumeisters ging klipp und klar hervor, dass er die Zwillingsschwester seiner Gattin genau kannte und dass Inez sich zuweilen in seiner und seiner Gattin Gesellschaft befunden hatte. Verdoppeln konnte sich auch Inez Navarro nicht – und auf der anderen Seite wusste der Detektiv, dass Baumeister Menasto die lautere Wahrheit sprach. Er gehörte zu den angesehensten Geschäftsleuten von New York und entstammte einer altaristokratischen sizilianischen Familie. Sein Name war dem Detektiv schon seit vielen Jahren auf das Vorteilhafteste bekannt. Menasto hatte eine Reihe der hervorragendsten Kirchen und öffentlichen Gebäude der Weltstadt erbaut, er verdiente jahrein, jahraus Hunderttausende und eine glänzende Zukunft lag vor ihm. Ein solcher Mann lügt weder, noch wird er zum Mitschuldigen von Verbrechern. Nick Carter entsann sich genau, dass dem Baumeister seinerzeit seine Verheiratung mit jener engelschönen Frau vielfach verdacht worden war. Er hatte sie in einem fashionablen Badeort kennen gelernt, sich unsterblich in sie verliebt und ihr ohne langes Besinnen Hals über Kopf seine Hand angeboten. Doch die Entrüstungswogen hatten sich bald besänftigt, als man erst die bildschöne Gattin des Baumeisters von Angesicht gesehen hatte. Schon in ihrem ersten Ehejahr hatte Carmen Menasto zu den umschwärmtesten und gefeierten Schönheiten der vornehmen Gesellschaftskreise der Hudsonmetropole gehört.

Was war nun die Wahrheit?

Allem Anschein nach musste die im Haus des Baumeisters gegenwärtig Befindliche dessen Gattin Carmen sein … und doch konnte Nick Carter sich in seiner Annahme nicht täuschen. Er hatte ein untrüglich zuverlässiges Personengedächtnis. Selbst gleichgültige Menschen, mit denen er kaum ein Wort gesprochen hatte, erkannte er noch nach Jahren wieder und wusste sie mit Namen anzureden … und nun gar Inez Navarro, die Verbrecherkönigin … aus ihrer äußeren Erscheinung, aus ihren Bewegungen, ihrem Lächeln, der Art ihres Sprechens, ihrem stolzen, furchtlosen Blick hatte er ein Studium gemacht – und hätte sie tausend Doppelgängerinnen gehabt, Nick Carter würde sie unbedenklich sofort erkannt haben. Nein und tausendmal nein! Er irrte sich nicht, und er konnte sich nicht irren! Diese angebliche Mrs. Carmen Menasto war in Wirklichkeit Inez Navarro, die Verbrecherkönigin.

Doch wie es ihr beweisen? Das erschien unmöglich! Sie hatte ungezählte Zeugen zur Hand, welche sie als Mrs. Menasto kannten. Gerade der Umstand, dass man ihre Doppelgängerin in des Baumeisters Büro tot aufgefunden, musste zu ihren Gunsten sprechen … denn Nick Carters Behauptung, dass jene, auf ebensolche Ähnlichkeit pochend, den Platz der Baumeistersgattin eingenommen und diese beseitigt hatte, würde niemand glauben.

Ah! Diese Inez war eine geniale Frau. Sie hatte ihm, dem Meisterspieler, alle Trümpfe aus der Hand genommen. Was lag ihr daran, was man vermutete, wessen man sie verdächtigte … es lag auch nicht der Schatten eines Beweises gegen sie vor! Sie würde als Siegerin aus diesem mit teuflischem Raffinement ersonnenen Spiel hervorgehen … sie würde ihren Platz behaupten und die alte Erfahrung, wonach alle Schuld sich auf Erden rächt, zuschanden machen.

Unzufrieden mit sich selbst sprang Nick Carter auf und stand mit geballten Fäusten da, finster vor sich hinbrütend. Sollte diese Verbrecherkönigin ihn wirklich besiegen? Sollte diese dämonische Frau ihm die erste Niederlage seiner ruhmvollen Laufbahn beibringen? Nein und tausendmal nein! Das sollte, das durfte nicht gesehen!

Stehenden Fußes wollte er sich zu Inez Navarro zurückbegeben und den Entscheidungskampf aufnehmen!

Häufig pflegte Nick Carter scherzhaft zu versichern, dass er sich nur mit einem einzigen Kollegen nicht zu messen wagte – und dies sei Detektiv Zufall. Er pflegte aber regelmäßig hinzuzufügen, dass, bis auf wenige Ausnahmen, sich sein berühmter Kollege ihm gegenüber immer freundlich gezeigt und in der Regel sich zu seinem Bundesgenossen gemacht habe.

Auch jetzt war Detektiv Zufall sein hilfreicher Freund. Als sich nämlich Nick Carter wieder dem nächsten Parkausgang näherte, nahm er plötzlich die Gestalt eines Mannes wahr, welcher offenbar in großer Hast von Osten herkommend den breiten Fahrweg herabschritt. Der Mann war augenscheinlich in derart großer Eile, dass er weder nach links noch rechts schaute, sondern aus Leibeskräften voranstrebte.

Auf den ersten Blick erkannte Nick Carter den Mann, der in wenigen Schritten Abstand an dem durch dichtes Gebüsch verborgenen Detektiv vorübereilte, ohne von dessen Gegenwart auch nur das Geringste wahrzunehmen.

»Pancho!«, schoss es Nick Carter blitzschnell und siedend heiß durchs Hirn. »Pancho, die rechte Hand und der vertraute Gehilfe der schönen Inez Navarro.«

Die gefährliche junge Frau hatte es verstanden, sich mit einer männlichen Leibgarde zu umgeben, deren Mitglieder, vielleicht ein Dutzend an der Zahl, mit hündischer Treue an dem schönen Dämon hingen und die willigen Ausführer und Vollstrecker ihrer verbrecherischen Anschläge waren. Sie schreckten vor keiner Tat, so verrucht sie auch sein mochte, zurück. Sehr zu des Detektivs Leidwesen war es ihnen gelungen, sich gleichzeitig mit Inez Navarro unmittelbar nach der Verhaftung von Morris Carruthers aus dem Staub zu machen, und sie hatten, gleich ihrer schönen Herrin, keinerlei Spuren zurückgelassen, sondern waren wie vom Erdboden verschwunden gewesen.

Nun erblickte Nick Carter unvermutet Pancho, den Südamerikaner. Wohl hatte dieser seine Erscheinung äußerlich verändert. Er trug keinen Schnurrbart mehr und ein Klemmer mit blauen Gläsern sollte seine stechenden schwarzen Augen verbergen. Doch durch derartige Praktiken vermochte Pancho nicht den scharfen Späherblick des berühmten Detektivs über seine Identität zu täuschen. Sofort nahm Nick Carter die Verfolgung des den breiten Fahrweg Hinaufeilenden auf. Natürlich geschah dies in der meisterhaften Weise, wie sie nur dem großen Detektiv eigen war. Selbst wenn Pancho sich misstrauisch umgeschaut hätte, so würde er nicht imstande gewesen sein, die Gestalt seines Verfolgers zu gewahren, so behutsam wusste sich dieser immer gedeckt zu halten, ohne dabei auch nur die geringste Bewegung des von ihm Beschatteten aus den Augen zu verlieren.

Aus der Richtung, welche Pancho eingeschlagen hatte, glaubte der Detektiv ohne Weiteres entnehmen zu können, dass der Mann Inez Navarro aufzusuchen im Begriff stand.

Der Verfolgte verließ den Central Park und eilte quer über Central Park West in die 86th Street hinein. Er erreichte die nächstgelegene Columbus Avenue im selben Moment, als Nick Carter sich an der Ecke von Central Park West und 86th Street versteckte, um die Weiterbewegung des Beschatteten zu beobachten. Ohne Besinnen bog Pancho in südlicher Richtung in die Columbus Avenue ein.

Blitzschnell kam Nick Carter zu der Erkenntnis, dass Pancho die Verbrecherkönigin tatsächlich aufzusuchen gedachte. Natürlich würde er dann das Wohnhaus des Baumeisters nicht von der Straßenseite aus betreten. Er mochte wohl Mittel und Wege wissen, um von einem anderen, im selben Straßenviereck gelegenen Gebäude aus Zutritt zu gewinnen.

Da kam ihm der glückliche Gedanke, dass er im Vorteil war, gelang es ihm, Pancho zu überholen und ihm zuvorzukommen. Sofort schoss Nick Carter auch schon gleich einem Pfeil den Central Park West in südlicher Richtung dahin, natürlich sehr zum Erstaunen der zahlreichen Spaziergänger, welche den elegant Gekleideten notwendigerweise für einen entsprungenen Tollhäusler halten mussten. Sogar ein an der einen Hausecke lehnender Policeman wollte eingreifen und den vermeintlichen Durchgänger aufhalten, doch er kannte Nick Carter vom Sehen und sperrte nun Mund und Nase auf, als er den großen Detektiv windschnell an sich vorüberlaufen sah. »Well!«, knurrte er kopfschüttelnd. »Da hat er wieder einen aufgegabelt, dem er den Wind abfängt … in dessen Haut möchte ich auch nicht stecken, denn dem besorgt Nick Carter Freiquartier – und nicht nur für die kommende Nacht!«

In rasendem Tempo war Nick bis zu dem Block (Häuserviereck) gelaufen, dessen vorletztes Haus der Baumeister bewohnte. Hier war die Straße menschenleer, und sofort erspähte der Detektiv seinen Gehilfen Chick, der auf der anderen Straßenseite stand, seine Annäherung gleichfalls wahrgenommen hatte und nun über die Straße herüberkommen wollte.

Doch Nick Carter hielt sich nicht auf. Er minderte nicht einmal die Schnelligkeit seines Laufes, sondern winkte Chick nur kurz in diesem verständlicherweise zu und bog die Sekunde darauf blitzschnell um die Ecke, um im gleichen rasenden Tempo bis zur Columbus Avenue zu eilen. Dort angekommen, setzte Nick Carter tollkühn gerade vor einem in südlicher Richtung sausenden elektrischen Straßenbahnwagen über die Straße, wodurch er erreichte, dass seine Gestalt völlig gedeckt blieb.

In der nächsten Sekunde hatte Nick Carter in einem Hausgang der westlichen Gebäudereihe an der Columbus Avenue Deckung gefunden und spähte nun mit äußerster Spannung in nördlicher Richtung nach dem von ihm Verfolgten aus.

Richtig! Da kam auch schon Pancho heran! Er war noch über zwei Blocks entfernt und schien vom raschen Laufen ermüdet, denn er bewegte sich wesentlich langsamer als zuvor.

Nick Carter wartete ruhig ab, was der von ihm Beobachtete weiter unternehmen würde. Die an der Columbus Avenue gelegene Seite des Straßenblockes, in welchem sich auch das Menastosche Haus befand, war mit lauter Tenementhäusern (Mietskasernen) bebaut, deren Erdgeschosse eine Flucht der verschiedenartigsten Verkaufsläden bildeten. Nicht zu Unrecht sagte man Nick Carter nach, dass dieser ganz New York so genau wie seine eigene Hosentasche kannte. Was die Häuserreihe des ihm schräg gegenüberliegenden Straßenblocks anbelangte, so wusste Nick, dass sie von demselben Bauunternehmer nach der gleichen Schablone gebaut waren. Vom zweiten bis sechsten Stockwerk enthielten die Häuser Quartiere, welche sich einander völlig glichen. Immer zwei Wohnungen waren in jedem Stockwerk; vorn nach der Straße der zweifenstrige Parlor (Salon); dann zogen sich zwei Schlafzimmer und der Baderaum, die sämtlich nur durch Lichtschächte kümmerliche Beleuchtung erhielten, nach der hinteren Gebäudeflucht, um in die nach der Gartenseite gelegene, wiederum zweifenstrige Küche einzumünden. Nach New Yorker Art waren die Dächer der Mietshäuser flach und dienten zum Aufhängen von Wäsche und dergleichen.

Als nun Nick Carter den von ihm Beobachteten in einem dieser Häuser verschwinden sah, begriff er augenblicklich, dass es nicht Panchos Absicht war, in diesem Haus zu verweilen, sondern dass er von ihm aus nur in unauffälliger Weise die Hintergebäude erreichen und von diesen aus zu dem Haus des Baumeisters gelangen wollte. Jedenfalls begab sich Pancho zum Keller, um durch dessen hinteren Ausgang auf den Hof zu gelangen. Von dort aus konnte er dann ohne viele Schwierigkeiten oder Aufsehen über die hölzernen Gartenzäune klettern.

Die Sekunde darauf war auch der Detektiv im Nachbarhaus verschwunden. Doch er begab sich nicht zu dem Keller, sondern immer vier Stufen auf einmal nehmend, flog er förmlich die Treppen bis zum Dach hinauf. Auf dieses hinaus führte ein Bretterverschlag, der gleichzeitig den sogenannten Dumbwaiter (eine Art Fahrstuhl zum Auf- und Niederlassen von Wäsche, Kohlen und dergleichen) umfasste. Die aufs Dach mündende Tür war unverschlossen, und es war dicht mit Wäsche behangen, was dem Detektiv äußerst lieb war, denn die im Wind flatternden großen Leinentücher verbargen seine Gestalt vor jeglichem Späherblick.

Wie der Blitz rannte Nick Carter zum Dachrand der Hofseite und legte sich flach auf den Leib, um vorsichtig in die Tiefe hinunterzuspähen. Richtig! Unten im Hof tauchte soeben Pancho auf und stand im Begriff, über den ersten Gartenzaun zu klettern. Gelassen blieb Nick Carter liegen und beobachtete die Bewegungen des Mannes unter ihm. Elastisch schwang sich dieser auf den Zaun, doch statt abzuspringen, blieb er oben und balancierte nun auf der breiten Oberleiste der Zäune entlang.

»Das macht der Bursche nicht zum ersten Mal«, brummte der Detektiv vor sich hin. »Auf solche Weise hat er sich auch den Häusern genähert, in die er dann eingebrochen ist.«

Unwillkürlich richtete der Detektiv seinen Blick auf die Rückseite der an Central Park West sich entlangziehenden Häuserreihe des Blocks. Ohne Schwierigkeiten vermochte er das dem Baumeister gehörige schmale Gebäude herauszufinden. In der nächsten Sekunde entdeckte er an einem Fenster im zweiten Stockwerk eine weibliche Gestalt. Es war Inez Navarro, wie der geschärfte Blick Nicks sofort deutlich wahrnehmen konnte. Sie hatte die eine Fenstergardine zur Seite gezogen und beobachtete augenscheinlich die Annäherung des auf den Gartenzäunen herumkletternden Pancho.

Auch dieser musste inzwischen die am Fenster Befindliche erblickt haben. Plötzlich blieb er stehen und schlug mit den Armen kreisförmig wie die Flügel einer Windmühle um sich. Dann stand er bewegungslos; doch nur, um nach Verlauf einer halben Minute die nämlichen Bewegungen zu machen und sie ein drittes Mal zu wiederholen, nachdem er sich wiederum kurze Zeit unterbrochen hatte. Dann stand er abwartend, um zu lauschen.

Nick Carter nahm wahr, wie die am Fenster Stehende dieses halb öffnete und dann mehrere Male hintereinander heftig zuschlug, sodass ein klirrendes Geräusch entstand, das auch das Ohr des Detektivs erreichte.

Es musste sich um ein verabredetes Zeichen handeln, wie auch die seltsamen Bewegungen Panchos ein solches dargestellt hatten; denn der Mann wendete sich plötzlich und begann in der gleichen Weise, wie er seinen Herweg bewerkstelligt hatte, zu der an der Columbus Avenue gelegenen Häuserreihe zurückzuturnen.

Blitzschnell überlegte Nick Carter, was er nun zunächst tun sollte. Es konnte ihm verhältnismäßig nicht schwerfallen, sich der Person Panchos zu versichern. Doch was erreichte er dadurch? Er kannte seinen Mann zu genau, um nicht zu wissen, dass dieser Widerstand bis zum Äußersten leisten würde. Aber ganz davon abgesehen, er würde sich auch, selbst wenn er gefangengenommen wurde, eher in Stücke reißen lassen, als auch nur mit einem Wort seine Herrin zu verraten. Vor den Augen des Detektivs hatte er dies schon getan. Denn nunmehr wusste dieser, dass es wirklich Inez Navarro war, welche sich als Gattin des Baumeisters ausgab, stand sie doch in Verbindung mit ihrem verschlagensten und getreuesten Komplizen.

Allerdings war Pancho ein gefährlicher Verbrecher, der verhaftet werden musste. Doch ungleich wichtiger erschien dem Detektiv die Festnahme des schönen Dämons. Panchos Verhaftung beanspruchte Zeit … und diese war kostbar – gerade jetzt, da Inez irgendeine Botschaft erhalten hatte, deren Natur dem Detektiv natürlich unbekannt war, welche aber die Verbrecherkönigin vielleicht zu ungesäumtem Handeln veranlassen konnte. Nein! Mochte Pancho sich einstweilen seiner Freiheit ungestört weiter erfreuen.

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