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Der Hexer Band 2

Robert Craven (Wolfgang Hohlbein)
Der Hexer Band 2
Der Seelenfresser

Horror, Grusel, Heftroman, Bastei, Bergisch-Gladbach, 30. April 1985, 64 Seiten, 1,70 DM, Titelbild: Les Edwards

Die Nacht war still und fast endlos gewesen, und als die Dämmerung kam, wirkte die Morgensonne grell und hart. Lowry Temples wusste, dass es ein böser Tag werden würde – für ihn, für Jane, für sie alle und für Innsmouth. Er hatte die ganze Nacht gebetet und zu Gott gefleht, ihn zu verschonen. Aber als aus dem angrenzenden Zimmer der erste, dünne Schrei des Neugeborenen drang und wenige Augenblicke später die Tür aufging und er in die Augen des Arztes sah, wusste er, dass seine Gebete nicht erhört worden waren. Der Fluch, der seit Generationen auf Innsmouth lag, hatte sich ein weiteres Mal erfüllt …

Leseprobe

Trotzdem stand er auf, schlurfte gebückt um den Tisch herum und streckte die Hand nach der Türklinke aus. Aber er führte die Bewegung nicht zu Ende, als der Arzt ihm den Weg vertrat und den Kopf schüttelte; sanft, aber trotzdem mit Nachdruck, vielleicht sogar mit einer Spur von Trauer.

»Nicht, Lowry«, sagte er, sehr leise und mit der erschöpften Stimme eines Menschen, der die Grenzen seiner Kraft längst erreicht und überschritten hat. »Geh nicht hinein. Wenigstens … jetzt noch nicht.«

Lowry wusste, dass Doktor Maine recht hatte – wozu sollte er hineingehen und sich und Jane noch mehr quälen? Es änderte nichts an der Wahrheit, wenn man die Augen vor ihr verschloss.

Aber manchmal half es.

»Es ist ein Junge, nicht?«, flüsterte er.

Maine nickte, ohne ihn anzusehen. Sein Gesicht war bleich, und in seinen Augen stand ein Schrecken, der Temples mehr, viel viel mehr verriet als alles, was er hätte sagen können.

Er schluckte. Ein harter, stacheliger Kloß schien in seiner Kehle zu wachsen, als er weitersprach.

»Ist es schlimm?«

Maine seufzte. Er richtete sich auf, fuhr sich erschöpft mit der Hand über die Augen und sah ihn nun doch an. Sein Blick flackerte.

»Er … wird leben«, sagte er schließlich. »Und soweit ich das beurteilen kann, ist er geistig gesund.«

Lowry lachte, aber es klang eher wie ein Schrei. »Geistig?«, wiederholte er bitter. »Wie schön. Sie meinen, er wird völlig normal sein, hier oben?« Er hob die Hand an die Stirn und starrte den Arzt aus brennenden Augen an. »Er wird ganz normal aufwachsen, und eines Tages wird er denken lernen, und kurz darauf reden, und irgendwann wird er vor mir stehen oder hocken oder was immer er kann, und er wird mich fragen: Daddy, warum bin ich nicht so wie die anderen? Was soll ich ihm antworten, wenn er diese Frage stellt? Dass er für etwas bezahlt, was sein Urururgroßvater getan hat?«

»Bitte, Lowry«, sagte Maine sanft. »Ich … ich verstehe dich, glaube mir. Aber es hätte schlimmer sein können.« Er versuchte zu lächeln, trat auf ihn zu und legte ihm in einer freundschaftlichen Geste die Hand auf die Schulter.

Lowry wich zurück und schlug seinen Arm beiseite. »Schlimmer?«, keuchte er. »Sie wissen nicht, was Sie da reden, Doc! Es kann immer schlimmer kommen, aber … aber das heißt noch nicht … dass …« Er begann zu stammeln, ballte in plötzlichem, hilflosem Zorn die Fäuste und spürte, wie seine Augen zu brennen begannen und heiße Tränen über sein Gesicht liefen. Er schämte sich ihrer nicht einmal.

»Haben Sie Kinder, Doktor Maine?«, fragte er leise.

Maine nickte. »Drei«, antwortete er. »Ein Mädchen und zwei Jungen.«

»Und sie sind gesund?«

Maine antwortete nicht, aber Lowry hätte seine Worte wohl auch kaum gehört, selbst wenn er es getan hätte. »Sie wissen nicht, wie es ist«, fuhr er mit bebender Stimme fort. »Oh ja, Sie verstehen mich, Doc, das glaube ich Ihnen gerne. Schließlich sind Sie lange genug hier, um mich zu verstehen. Sie haben genug Kinder wie meinen Sohn gesehen, wie? Aber Sie verstehen trotzdem nicht. Sie können nicht verstehen, wie man sich fühlt, wenn es einen trifft. Niemand kann das. Niemand, dem es nicht selbst passiert ist.«

Seine Stimme begann immer stärker zu beben. Plötzlich zitterte er am ganzen Leib. »Ich will nicht mehr, Doktor«, keuchte er. »Ich … ich habe zu lange stillgehalten. Ich werde diesen Wahnsinn beenden. Ich …«

»Beruhige dich«, sagte Maine sanft. Er klappte seine Tasche auf, kramte einen Moment darin herum und zog schließlich ein kleines Etui hervor, aus dem er eine Spritze nahm.

»Ich gebe dir etwas«, sagte er. »Danach wirst du schlafen, und morgen früh reden wir noch einmal in Ruhe über alles.«

Er hob die Spritze und streckte die freie Hand nach Lowrys Arm aus, aber Temples wich mit einem keuchenden Laut zurück und hob abwehrend die Hände.

»Nein!«, sagte er entschlossen. »Ich will keine Spritze. Wenn Sie jemandem eine Spritze geben wollen, dann gehen Sie durch diese Tür und erlösen die arme Kreatur von ihren Leiden.«

Maine starrte ihn an. »Versündige dich nicht«, sagte er ernst. »Das Kind kann am allerwenigsten dafür.«

»Das stimmt.« Mit einem Mal war Temples Stimme kalt. Alle Furcht und alle Verzweiflung waren daraus gewichen, aber dafür schwang eine Entschlossenheit in seinen Worten, die den Arzt schaudern ließ.

»Sie haben vollkommen recht, Doktor«, sagte er. »Das Kind kann nichts dafür, und Sie und ich und Jane auch nicht. Aber es gibt jemanden, der dafür kann …«

»Hör auf«, sagte Maine sanft. »Das ist lange vorbei. Zu lange, um noch etwas daran ändern zu können.«

»… und dieser Jemand ist hier«, fuhr Temples fort, als hätte er die Worte des Arztes gar nicht gehört.

Maine erstarrte. »Was redest du da?«, fragte er. »Du … du bist verwirrt, Lowry.«

»Ganz und gar nicht, Doc«, antwortete Temples. »Ich weiß, was ich sage. Er ist hier. Er lebt, Doktor. Der Teufel lebt, und er ist nicht einmal sehr weit von Innsmouth weg.«

»Das ist unmöglich!«, behauptete Maine. Aber sein Blick flackerte und seiner Stimme fehlte die Entschlossenheit, die zu solchen Worten gehörte.

Trotzdem fuhr er fort: »Es ist fast zweihundert Jahre her, Lowry. Das weißt du besser als ich.«

»Und doch lebt er«, beharrte Temples. Plötzlich fuhr er herum, riss seinen Mantel vom Haken und begann ihn mit fliegenden Fingern überzustreifen. Sein Gesicht rötete sich hektisch.

»Fragen Sie die anderen, wenn Sie mir nicht glauben«, fuhr er fort. »Fragen Sie Floyd und Bannister und Malone – sie haben ihn gesehen.«

»Gesehen?«, keuchte Maine.

Temples nickte. »Vorgestern«, sagte er. »Er kam in die Schänke. Sie alle haben ihn gesehen. Ich auch.«

Maine schüttelte verwirrt den Kopf. »Das ist nicht möglich«, murmelte er. »Es … es muss sich um eine Verwechslung handeln. Jemand, der so aussieht wie er. Das kommt vor.«

»Er war es«, beharrte Lowry. »Ich habe es gespürt, genau wie die anderen. Er hat die gleiche Macht wie damals, Doktor. Ich habe das Böse gespürt, wie eine Hand, die mir die Kehle zuschnürte. Er … er hat uns angegriffen. Und er hat gesiegt – er allein, gegen zwölf von uns. Er lebt.«

Maine starrte ihn lange an. »Und was willst du jetzt tun?«, fragte er schließlich.

Temples lachte, ganz leise und verbittert. »Das, was schon vor zweihundert Jahren hätte getan werden sollen«, sagte er. »Ich weiß, dass es meinen Sohn nicht normal macht und den Fluch vielleicht nicht einmal von uns nimmt. Aber ich werde ihn bestrafen für das, was er mir und den anderen angetan hat, und unseren Kindern. Ich werde den Hexer töten.«

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