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Der Detektiv – Die leuchtende Fratze – Teil 5

Walter Kabel
Der Detektiv
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Die leuchtende Fratze
Teil 1

Die Nachforschungen nach dem Verbleib James Palperlons hatten nicht das geringste Ergebnis. Dabei wurde nichts von Inspektor Shesney verabsäumt, was geeignet gewesen wäre, einen Erfolg herbeizuführen.

Wir, Harst und ich, waren nun beide des liebenswürdigen Detektivinspektors Gäste. Harst zeigte sehr wenig Interesse für all die Bemühungen Shesneys, den Mörder des Ehepaares Doogston festzunehmen. Er sagte unserem aufmerksamen Wirt am zweiten Tag nach jenem ereignisreichen Abend offen, dass man einen Mann von der verbrecherischen Intelligenz eines Palperlon mit den gewöhnlichen Mitteln niemals fangen würde.

Ein dritter Tag verstrich. Shesney hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Er baute darauf, dass ein Europäer in Indien nicht so leicht wie anderswo verschwinden könne und dass die ausgesetzte Belohnung von 300 Pfund Sterling auch die Augen des trägsten Beamten schärfen würde.

Am Abend dieses Tages kehrten Harst und ich gegen acht Uhr von einer Autofahrt durch die umliegenden Dörfer zurück. Die Provinz Gudscharat, insbesondere die weite Ebene um Baroda herum, ist außerordentlich fruchtbar. Hier wird auch ein Pferdeschlag gezüchtet, der in ganz Indien berühmt ist. Pferderennen spielen daher in Baroda und Bombay im Vergnügungsprogramm der Einwohner eine große Rolle. Wir hatten uns ein Gestüt im Dorf Makresch angesehen, dessen Leiter ein gebürtiger Ostpreuße war, der uns mit Stolz die modernen Stallungen und die sonstigen Einrichtungen des Millionenunternehmens zeigte.

Harst war seit dem Tod der beiden Doogstons sehr still und sehr ernst gestimmt. Ich merkte ihm an, wie nahe es ihm ging, dass er Lizabet Doogston vor diesem traurigen Ende nicht hatte bewahren können. Er sprach möglichst wenig von diesen Vorfällen, und wenn Shesney davon anfing, lenkte er die Unterhaltung stets schnell auf ein anderes Thema.

Auf der Veranda von Shesneys reizendem Bungalow erwartete uns der gedeckte Abendbrottisch. Der Inspektor hatte für Harst einen versiegelten Brief zurückgelassen. Darin stand, dass ihn der Gaekwar, also der Fürst von Baroda, plötzlich telefonisch ins Schloss beordert habe; wir möchten daher ohne ihn speisen.

Als Nachsatz aber hatte Shesney hinzugefügt: »Bester Harst, ich werde doch recht behalten: Wir werden Palperlon noch in dieser Nacht fangen!«

Harst hatte mir den Brief über den Tisch zugereicht, meinte nun: »Shesney jagt einem Schemen, einem Gebilde nach, von dem er nur den Namen kennt. Du wirst mir recht geben, dass es so ist, mein Alter. In dem Steckbrief steht: Mittelgroß, vermutlich blond; besondere Kennzeichen hier nicht bekannt. Dürfte versuchen, eine Verkleidung als Eingeborener anzulegen. Trug zuletzt die Maske eines graubärtigen Engländers und so weiter. Du hast diesen sogenannten Steckbrief selbst gelesen, Schraut. Es ist alles andere, nur kein Steckbrief. Palperlon wird einen Lachkrampf bekommen, wenn er diese Veröffentlichung sieht, die doch nichts weiter ist als ein Eingeständnis der absoluten Unmöglichkeit, durch derart mangelhafte Angaben einen Verbrecher irgendwo aufstöbern zu können. Shesney wird sich blamieren, fürchte ich. Nun, ich habe ihn ja gewarnt. Er weiß, dass ich es für ausgeschlossen halte, einen James Palperlon abzufassen wie jeden Alltagsmörder …«

»Hm – was sollte er wohl in den Steckbrief sonst noch hineinschreiben?«, wagte ich einzuwenden. »Wir selbst konnten Shesney doch nichts weiter für diesen Zweck angeben. Wir haben Palperlon ja nie recht zu Gesicht bekommen! Wir wissen nicht von seinem Aussehen, ob er besondere Kennzeichen besitzt oder dergleichen. Es dürfte dir daher auch sehr schwer werden, dein Versprechen einzulösen und diesen Unhold unschädlich zu machen. Ich mochte bisher hierüber nicht sprechen. Jetzt will ich ehrlich sein: Auch du jagst doch einem Schemen nach, wenigstens so lange, bis du nicht in England, besonders in Margate, genügend Material über Palperlons Person gesammelt hast, das dir gestattet, dir mosaikartig ein Bild dieses Menschen zusammenzustellen.«

»Margate? England?«, meinte Harst und begann ein kaltes Brathuhn zu zerlegen. »Margate, weil Doogstons dort zu Hause sind? Lieber Alter, sei überzeugt: Ein James Palperlon wird seine Persönlichkeit in so undurchdringliche Schleier gehüllt haben, dass ich mir die überflüssige Mühe spare, ein solches Mosaikbild zusammenzusuchen. Du unterschätzt dieses Genie. Bedenke, was er alles durch sein gefügiges Werkzeug Warbatty-Doogston an und ausgerichtet hat. Bedenke weiter, wessen dieser Mensch fähig sein muss, wenn er erst persönlich handelnd auftritt! Bedenke schließlich, dass er jetzt in seinem eignen Interesse darauf bedacht sein wird, mir meine Arbeit zu erschweren, denn dass ich ihn nicht ohne Weiteres laufen lassen werde, sagt er sich selbst! Nein, wir müssen eben abwarten, ob dieses Schemen nicht selbst sich uns in den Weg stellt. Und er wird es tun! Sein Leben wäre fortan nur ein ruheloses Umherirren, wenn es ihm nicht gelingt, uns beide für immer von der Liste seiner Verfolger zu streichen; seine Sicherheit verlangt gebieterisch, uns aus dem Wege zu räumen, und zwar schleunigst! Ich rechne mit einem Angriff von seiner Seite schon für die allernächste Zeit.«

Ich ließ ein zweifelndes Hm! hören, fügte hinzu: »Und ich rechne, dass er froh sein wird, den Staub Indiens von seinen Schuhen zu schütteln und einige hundert Seemeilen schleunigst zwischen sich und uns legen zu können! Vielleicht befindet er sich bereits an Bord irgendeines Dampfers und …«

In diesem Augenblick bemerkte ich, dass Harst mit hochgerecktem Kopf über das Geländer der Veranda hinweg den Gartenweg entlangschaute, dass sein Gesicht einen Ausdruck von gespannter Erwartung angenommen hatte und über seine Lippen leise ein Name kam.

»Timoleit!« Nun erhob er sich, rief: »Hierher, Landsmann. Hierher!«

Ich stand gleichfalls auf. Der breitschultrige, blonde Hüne, der nun die Verandastufen eilig emporschritt, war kein anderer als der Direktor des Makresch-Gestüts, das wir nachmittags besichtigt hatten.

Karl Timoleit nahm Platz, wischte sich den Schweiß von der Stirn und begann: »Wenn ich eine Ahnung gehabt hätte, Herr Harst, wer Sie sind, dann würde ich Sie doch schon in Makresch gebeten haben, mir so ein wenig zu helfen, diese alberne Geschichte aufzuklären, die meine braunen Angestellten seit zehn Tagen zu einer Herde verängstigter Affen gemacht hat. Aber erst als Sie wieder davongefahren waren, erinnerte ich mich, den Namen Harst letztens in der Zeitung gelesen zu haben. Na, so kam denn heraus, dass Sie doch fraglos jener berühmte …«

»Stopp«, unterbrach Harst ihn. »Also gut, ich bin Harald Harst. Und nun kramen Sie Ihre alberne Geschichte mal aus, Landsmann. Darf ich Ihnen einen Whisky-Soda mit Eis anbieten und eine Zigarre? Da, bitte bedienen Sie sich.«

»Danke, bin so frei. Lassen Sie sich beim Essen nicht stören. Die Sache ist nämlich so harmlos, dass ich nie wagen würde, Sie damit zu belästigen, wenn Sie nicht eben auch Deutscher wären und ich daher nicht zu fürchten brauche, Sie könnten mich auslachen, insofern nämlich, als auch ich zuerst dieses leuchtende Gesicht für etwas Übernatürliches gehalten habe. Die Geschichte ist mit ein paar Sätzen erzählt. Sie haben heute die Tempelruine gesehen, die im Garten unseres Verwaltungsgebäudes liegt. Ich sagte Ihnen, dass wir den noch gut erhaltenen Keller des alten Hindutempels als Kühlraum benutzen. Jeder unserer verheirateten Leute hat dort unten einen kleinen Holzschrank stehen. An der Mauer gegenüber des Kellereingangs zeigte sich nun – ja, es war genau heute vor zehn Tagen zum ersten Male – ein mit dicken Strichen gepinseltes Menschengesicht, ein Kopf, der in gelblichweißen mattem Licht erstrahlte. Diese leuchtende, hässliche Fratze – in dem Keller ist es auch am Tage stockdunkel – wurde jeden Tag sichtbar, meist mittags, und verlor erst nach einer Stunde langsam an Leuchtkraft, bis sie dann gänzlich wie weggewischt war. Die Frauen wollten sehr bald nicht mehr in den Keller hinein, um aus den Kühlschränken zu holen, was sie gerade brauchten. Auch meine Etienne, meine Frau wurde von dieser Angst angesteckt. Die Fratze an der Wand, die beinahe einen Meter lang war, wirkte ja ein bisschen unheimlich, das will ich nicht bestreiten. Ich dachte sofort an irgendeinen Schabernack, dass vielleicht einer unserer Leute mit Phosphorfarben den Kopf hinpinselte. Aber das war ein Irrtum von mir. Ich habe selbst im Keller aufgepasst, um den Kerl abzufassen. Und so konnte ich in den letzten fünf Tagen mittags feststellen, dass die Fratze ganz von selbst auftauchte. Mehr weiß ich darüber nicht anzugeben, Herr Harst. Eigentlich schäme ich mich jetzt deswegen, hier zu Ihnen in die Stadt gekommen zu sein. Meine Frau riet mir auch davon ab. Aber ich gehe eben allen Dingen gern auf den Grund.«

»Sie taten recht daran, lieber Landsmann, mir die Angelegenheit vorzutragen«, erklärte Harst lebhaft. »Man soll derartige Dinge, die einen geheimnisvollen Anstrich haben, nie unbeachtet lassen. Man weiß nie, was dahinter steckt. Hier zum Beispiel, wo ein Schabernack scheinbar ausgeschlossen ist, wird wahrscheinlich – doch, wir wollen der Sache ganz systematisch zu Leibe gehen. Ich werde Sie morgen Mittag wieder besuchen. Dann dürften wir sehr bald heraushaben, was das leuchtende Gesicht bezweckt. Wenn Sie heute heimkommen, Landsmann, so erzählen Sie Ihrer Gattin, Sie hätten mich nicht angetroffen. Frauen plaudern gern. Und unser Besuch morgen bei Ihnen soll verborgen bleiben. Wir finden uns unbemerkt gegen zwölf Uhr ein. Wachen Sie nur wieder im Keller. Hat dieser eine verschließbare Tür?«

»Ja. Ich habe sie erst anlegen lassen. Vorher war nur ein Mauerloch vorhanden. Weitere Eingänge gibt es nicht. Oben der Tempel ist nur noch ein Schutthaufen.«

»Die Tür lehnen Sie dann bitte nur an. Hat sich auf dem Gestüt oder im Dorf Makresch in letzter Zeit sonst etwas ereignet, das irgendwie auffällig war? Ich bitte Sie, sehr genau nachzudenken. Ich meine mit etwas Auffälligem auch Geschehnisse, die Ihnen vielleicht recht bedeutungslos vorkommen.«

Karl Timoleit paffte dicke Wolken aus seiner Zigarre und schien sich das Hirn geradezu zu zermartern. Dann erklärte er: »Nichts, Herr Harst, wirklich rein gar nichts!«

»Hm, als wir heute auf dem Gestüt ankamen, waren Sie doch zunächst offenbar sehr schlechter Laune. Ich hörte auch Ihre wetternde Stimme schon von Weitem. Sie hatten Ärger gehabt?«

»Richtig – richtig, ich war sogar wütend auf den verdammten Burschen, den Stalljungen Jimmy, der wieder weiß Gott wo gesteckt hatte, anstatt den Stern von Siam den gewohnten Morgengalopp erledigen zu lassen. Der Hengst soll am nächsten Rennen in Bombay teilnehmen. Wir setzten unsere Hoffnung auf ihn; er muss das Viktoria-Rennen machen, wenn nicht gerade irgendein Missgeschick dazwischenkommt.«

»Jimmy? Wohl ein Engländer oder Amerikaner, wie?«

»Amerikaner, 15 Jahre alt, Sohn des letztens tödlich verunglückten Jockeys Busleyton. Ein gerissener, kleiner Halunke sag ich Ihnen! Faul, frech, schlau, aber ein Reiter, der mal berühmt werden wird. Der Besitzer des Gestüts, Major Knoxon, hält große Stücke auf ihn. Ich auch, nur – nur – ja, denken Sie, Herr Harst, der Bengel spielt schon, wettet, macht Geschäfte, kurz, er ist mir zu frühreif!«

»Nun, das bringt der Pferdesport so mit sich. Denken Sie doch nochmals nach, Landsmann. Vielleicht haben Sie sonst noch Anlass zum Ärger gehabt.«

»Ach, Ärger gibt es oft, Herr Harst. Meine Tochter …« Er verstummte plötzlich; meinte dann: »Das sind schließlich nur Familienangelegenheiten, obwohl …« Das Weitere brummelte er in seinen blonden Bart, qualmte dann wieder dicke Wolken und erhob sich bald. »Ich muss heim. Mit meinem Einspänner bin ich doch noch eine Stunde unterwegs. Und später als vier Uhr stehe ich morgens nie auf. Da heißt es zusehen, dass man noch ein paar Stunden Schlaf erwischt.«

Kaum hatte er uns verlassen, als Inspektor Shesney erschien.

»Der Fürst hat sich ganz genau Bericht erstatten lassen über die Beraubung der Stahlkammer des Nazar Bagh«, erzählte er uns. »Er ist erst heute Nachmittag von einem Jagdausflug zurückgekehrt. Er möchte Sie gern persönlich kennen lernen, bester Harst. Sie sind für ihn so eine Art Weltwunder. Er bittet Sie, ihn morgen ganz zwanglos zu besuchen, vielleicht gegen Abend.«

»Wenn es sein muss!«, erwiderte Harst, der alles andere, nur nicht ehrgeizig war. »Weit wichtiger ist mir, ehrlich gesagt, James Palperlon. Sie haben also Aussicht, ihn zu fangen? Da bin ich gespannt, wie!«

»Oh, das Wie ist schon genügend vorbereitet. Wir haben Glück gehabt. Die ausgesetzte Belohnung hat geholfen. Heute Nachmittag kam ein Hindu zu mir in die Polizeidirektion und berichtete mir Folgendes. Er wohnt in der Nähe des sogenannten Dschemala außerhalb der Stadt.«

»Verzeihung – Dschemala? Das ist doch das frühere Sommerschlösschen der fürstlichen Familie!«

»Ganz recht. Jetzt ist es seit vielen Jahren unbenutzt. Sie kennen doch wohl die berühmte Geschichte von dem Verschwinden des früheren Fürsten, des Vorgängers des jetzigen?«

»Keine Ahnung.«

»So, so. Für Baroda sind diese Vorgänge das Wichtigste in der Geschichte des Landes seit 40 Jahren. Der frühere Fürst wollte 1875 seinen englischen Aufpasser Sir Bebberton ermorden lassen. Der Anschlag misslang. Der Fürst sollte darauf in seinem Sommerschloss verhaftet werden. Er war jedoch anscheinend rechtzeitig gewarnt worden und entflohen. Anscheinend! Man hat ihn nämlich nie mehr zu Gesicht bekommen und nie wieder etwas von ihm gehört. Die Leute hier behaupten nun, der Fürst sei damals ermordet worden und hause als Geist noch heute in dem Sommerschlösschen. Tatsache ist, dass der jetzige Gaekwar jeden Tag durch einen vertrauten Diener Speisen und Getränke in der Vorhalle des Dschemala niedersetzen lässt, die dann stets verschwinden. Dies geht so seit dem Jahr 1875. Der jetzige politische Agent Englands am Fürstenhof hier duldet diese Geisterfütterung mit überlegenem Lächeln, obwohl dadurch im Volk die Erinnerung an das rätselhafte Ende des früheren Fürsten immer wieder aufgefrischt wird. In diesem Schlösschen hat nun der Hindu Tomar Sangri, seines Zeichens Gärtner, seit drei Abenden regelmäßig ein Fenster in dem einzigen Turm des Gebäudes erleuchtet gesehen, und sein Enkel, ein Bursche von achtzehn Jahren, wieder behauptet, zweimal einen Europäer beobachtet zu haben, der nach Dunkelwerden das Dschemala verlies. Gestern Nacht hat Tomar Sangris Enkel daraufhin eine unweit des Turmes stehende Zypresse erklettert und durch das Fenster in das Turmgemach hineingeschaut. Er bemerkte, dass ein Weißer sich einen dunklen Bart vor einem Spiegel anklebte und dann die beiden Kerzen ausblies. Die beiden Hindu, Vater und Sohn, hoffen nun schon sehr stark auf die ausgesetzte Belohnung. Ich aber habe das Schlösschen heimlich umstellen lassen und werde jeden anhalten, der nach zehn Uhr abends hinein oder heraus will.«

Shesney strahlte förmlich, als er die letzten Sätze sprach. Leider erlebte er eine arge Enttäuschung.

»Sie glauben also, dass Palperlon sich im Dschemala verborgen hält?«, meinte Harst sehr gedehnt. »Mir erscheint das reichlich zweifelhaft. Aber wir werden ja sehen! Natürlich möchte auch ich die Angaben der beiden Hindu nachprüfen. Es ist jetzt halb zehn. In einer Viertelstunde können wir aufbrechen.«

Der Inspektor schüttelte den Kopf. »Bester Harst, weshalb zweifeln Sie denn daran, dass …«

»Oh, ich habe verschiedene Gründe, lieber Shesney«, unterbrach Harst ihn. »Gewiss – möglich ist es ja, dass Palperlon derartige Dummheiten macht. Aber auch nur möglich, wenn er damit bestimmte Absichten verfolgt. Lassen wir das jetzt. Eine Frage Shesney: Kennen Sie den Direktor des Makresch-Gestüts näher? Es ist ein Landsmann von uns, und …«

»Ja, Karl Timoleit, eine der populärsten Persönlichkeiten der Umgegend«, konstatierte Shesney eifrig. »Timoleit ist seit fünfzehn Jahren in Indien. Er war früher Wachtmeister bei der Kavallerie. Jetzt ist er Millionär. Einen so gerissenen Geschäftsmann und gleichzeitig so tüchtigen Pferdesachverständigen findet man nicht oft.«

»So – also gerissen ist er. Den Eindruck macht er nicht«, meinte Harst nachdenklich.

Shesney lachte. »Stimmt! Man sieht ihm nicht an, dass er an der Börse in Bombay schlauer spekuliert als ein New Yorker Getreidemagnat. Von dem Gestüt gehört ihm auch mindestens die Hälfte. Der Besitzer Knoxon ist selten dort.«

Harst stand auf. »Machen wir uns fertig. Übrigens, Shesney, Timoleit hat doch eine Tochter, nicht wahr?«

»Ja, die schöne Irmgard. Die ist ganz Französin geworden durch ihre Mutter, eine geborene Lagrange. Der alte Lagrange ist Kaufmann in Bombay und außerdem Rennstallbesitzer.«

Wir fuhren dann in Shesneys Dienstauto die Hauptstraße zur nächsten größeren Stadt Ahmedabad nordwärts. Das Schlösschen liegt etwa zwei Kilometer von Baroda entfernt inmitten einer sehr poetischen Waldlichtung, die sich nach Westen zu öffnet und in weite fruchtbare Felder übergeht. Die Gärtnerei Tomar Sangris schloss sich unmittelbar an die westliche Parkmauer an. Harst hatte zunächst die beiden Hindu sprechen wollen, die auf die 300 Pfund Sterling so sehr erpicht waren. Er hielt sich mit ihnen jedoch nicht lange auf und kletterte sehr bald uns voran über die niedrige Steinmauer, die den Park abteilte. Dieser war nun völlig verwahrlost. Das Dschemala selbst war eines jener alten Bauwerke, deren gefällige Formen leider in Indien so oft durch ein Übermaß von Türmchen, Erkerfenstern und kunstvollem Ausputz stark beeinträchtigt werden. Als Material war grauer und weißer Marmor verwandt worden. In der Mitte des Gebäudes wuchs ein viereckiger stumpfer Turm heraus, der stockwerkweise angeordnet Bogenfenster mit schmiedeeisernen Ziergittern davor und dann wieder weit vorspringende Erkerfensterchen mit bunten Scheiben hatte.

Die Zypresse, von der aus der Sohn des Gärtners den Europäer im Turmgemach des zweiten Stockes beobachtet haben wollte, befand sich rechts von uns.

Shesney hatte sich soeben von uns getrennt, um seinen, die Parkmauer besetzt haltenden Leuten den Befehl zu geben, jeden Fremden wohl in den Park hinein-, aber niemand hinauszulassen.

Kaum war er wie ein Schatten in der Dunkelheit des Hauptweges verschwunden, als Harst leise rief: »Ah, tatsächlich! Dort oben im zweiten Stockwerk des Turmes ist es soeben hell geworden!«

Ich schaute empor. Und ich sah auf den geschlossenen hellen Fenstervorhängen nun den Schatten eines Mannes, der in dem Gemach langsam auf und ab ging.

Harst lachte leise auf. »Shesney ist ein recht harmloses Gemüt«, sagte er. »Palperlon scheint seine ganze Intelligenz in den letzten drei Tagen eingebüßt zu haben. Eine so rapide Verdummung findet man nicht oft.«

Ich wusste nicht, was diese Ironie sollte. Bevor ich noch fragen konnte, wie er diese letzten Sätze meine, zog er mich schon zu der Freitreppe hin.

»Wir wollen warten, bis der Bewohner des Dschemala seinen Abendspaziergang antritt«, flüsterte er. Wir drückten uns neben die große Flügeltür in eine Ecke des Steingeländers der Treppe.

»Willst du allein an ihn heran oder soll ich helfen?«, fragte ich nach einer Weile.

»Weder das eine noch das andere, lieber Alter«, erwiderte er. »Shesneys Garde wird den Herrn schon abfassen. Wir werden uns nur das Schlösschen mal von innen ansehen. Mich interessiert diese seit dem Jahr 1875 regelmäßig erfolgende Speisung des hier hausenden Geistes. Du wirst mir recht geben: Seltsam ist diese Gepflogenheit! Der Gaekwar soll doch ein aufgeklärter Mann sein, wie Shesney behauptet. Er ist jetzt fast 50 Jahre alt und dürfte genügend europäische Bildung besitzen, um sich zu sagen, dass es mit diesen stets verzehrten Speisen und Getränken eine sehr harmlose Bewandtnis haben müsse. Oder aber, mein lieber Alter: Hier liegt ein Geheimnis vor, das dem der Leuchtfratze im Tempelkeller in Makresch ziemlich gleichwertig ist. Pst! Soeben hörte ich an der Tür von innen ein Geräusch.«

Kaum hatte Harst das letzte Wort ausgesprochen, als der eine Türflügel sich mit nur sehr geringem Knarren öffnete. Ich erkannte undeutlich einen Menschen, der nun den Schlüssel von innen abzog und ihn dann wieder von außen ins Schlüsselloch steckte. Nun drückte er den Türflügel zu, nun schnappte ein Schlossriegel ein.

In demselben Moment schnellte Harst vorwärts, wobei er jedoch stolperte und mit dem einen Fuß so laut auftrat, dass der Unbekannte jäh herumfuhr und dann geradezu wie ein Blitz die Treppe hinabschoss. Selten habe ich einen Menschen mit so fabelhafter Geschwindigkeit eine flache Treppe hinabeilen sehen. Dass ich ihn nicht einholen würde, war mir sofort klar. Ich trat daher an Harst heran, der merkwürdigerweise ganz ruhig dastand und ebenso wenig Miene machte, dem Mann zu folgen.

»Es ist geglückt«, sagte er nun und hielt mir den Schlüssel dicht vors Gesicht. »Es kam mir lediglich darauf an, dass der Fremde vor Schreck den Schlüssel stecken ließ. Nun brauchen wir nicht gewaltsam einzudringen. Komm, schauen wir uns das Geister-Dschemala in Ruhe an.« Harst war nun offenbar in bester Laune. Seit dem verhängnisvollen Abend, der dem Ehepaare Doogston das Leben kostete, hatte ich ihn nicht so angeregt und unternehmungslustig gesehen.

Wir betraten die Vorhalle. Hinter uns schloss Harst die Tür ab und ließ den Schlüssel stecken. Dann schaltete er seine Taschenlampe ein. Auf dem Mosaikboden der Vorhalle standen in der Mitte auf einem hellen kostbaren Teppich mehrere gefüllte Metallschüsseln und -schalen sowie zwei Kannen. Die Speisen waren jedoch nicht angerührt worden.

»Hm«, meinte Harst. »Sehr merkwürdig. Der Geist leidet an Appetitlosigkeit!« Er blickte sich forschend um. Die Halle war mit altertümlichen Möbeln ausgestattet. Linker Hand stand vor einem Ruhebett ein großer, niedriger Tisch, der mit einer kostbaren Decke belegt war.

Harst deutete auf den Tisch. »Machen wir es uns darunter bequem.« Er schaltete die Lampe wieder aus, als wir nebeneinander auf dem Bauch lagen. Unter uns hatten wir ein prächtiges Exemplar von seidig glänzendem Afghan-Teppich.

»Hier halten wir es eine Weile aus, mein Alter«, flüsterte Harst. »Shesney wird sich nun den Kopf zerbrechen, wo wir geblieben sind! Mag er! Zu dritt arbeite ich ungern. Wir beide kennen uns und sind aufeinander sozusagen eingespielt. Aha, Shesney rüttelt an der Tür! Nun, er wird es bald aufgeben und denken, wir hätten außerhalb dieser Mauern irgendeine Fährte aufgenommen. Da, nun ruft er gar! Tut mir leid, lieber Shesney! Wir können dich hier nicht brauchen.«

Gleich darauf herrschte um uns herum Grabesstille. Ich hatte mich möglichst bequem gelegt, denn ich rechnete auf stundenlanges Warten. Es kam jedoch anders.

Harst hatte soeben auf seine Uhr geschaut, deren Leuchtzeiger auf elf standen. Wir konnten hier also kaum eine halbe Stunde auf der Lauer gelegen haben. Er hatte die Uhr gerade wieder weggesteckt, als irgendwoher aus dem Inneren des Dschemala ein dumpfes Geräusch hervordrang. Es klang etwa wie das gewaltsame Aufstoßen einer verquollenen Tür.

»Achtung!«, flüsterte Harst.

Doch nach diesem einen Geräusch war vorläufig wieder Totenstille eingetreten.

Die Minuten schlichen wie die Schnecken. Harst regte sich nicht. Er atmete tief und ruhig. Die Uhr lag nun auf dem Teppich zwischen uns. Schlief er etwa?

»Harst!«, hauchte ich vorsichtig. Dann nochmals: »Harst! Schläfst du gar?«

Keine Antwort. Ich streckte den Arm aus. Ich fühlte, dass Harst noch auf dem Bauch lag und die Stirn auf die Hände gelegt hatte. Er schlief wirklich! Beneidenswerte Nerven! Und ich – ich begriff nun: Ich sollte ihn um zwölf Uhr wecken – um Mitternacht – zur Geisterstunde!

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