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Neue Gespenster – 22. Erzählung

Samuel Christoph Wagener
Neue Gespenster
Kurze Erzählungen aus dem Reich der Wahrheit
Erster Teil

Zweiundzwanzigste Erzählung

Ein Rasender an Ketten stirbt, spukt, und erwacht mit Vernunft zum neuen Leben

Um das Jahr 1770 ging W., ein hoffnungsvoller junger Maler aus Duderstadt, auf Reisen, um sich in seiner Kunst zu vervollkommnen. Kaum war er einige Meilen von der Vaterstadt, so fiel er preußischen Werbern in die Hände, die ihn mithilfe ihrer bekannten Überredungskünste zum Rekruten machten.

Der junge Mensch, den das unüberlegt gegebene Wort schon nach dem ersten Ausschlafen bitter gereute, fügte der ersten Übereilung die zweite hinzu und ergriff die erstbeste Gelegenheit, die sich ihm zum Entwischen darbot.

Er entsprang sehr unglücklich, denn er wurde von den Werbern sogleich eingeholt, und weil er sich zur Wehr setzte, sehr misshandelt. Einige Schläge, die er in der Hitze des Zweikampfes über den Kopf bekommen hatte, waren in ihren Folgen von so übler Wirkung, dass er den Verstand darüber verlor.

Er war vaterlos und ohne Geschwister, hatte nur eine alte, selbst hilfsbedürftige Mutter. Diese nahm sich des Unglücklichen an, war aber nicht imstande, ihn zu bändigen. Er entlief ihr oft und irrte mit fürchterlichen Gebärden in der Stadt herum. Indessen schien seine Narrheit glücklicherweise gutartiger Natur zu sein, denn er tat keinem Kind etwas zu Leide. Aber ein jeder, dem er begegnete, entsetzte sich ob des fürchterlich wilden Blickes des Wahnsinnigen und wich ihm aus.

Die Polizei hätte unter diesen Umständen die erforderlichen Sicherheitsanstalten treffen und so dafür sorgen sollen, dass er nicht entwischen, mithin auch die Einwohner der Stadt in keinerlei Gefahr setzen konnte. Da indessen seinetwegen noch keine Klage eingelaufen war, so schwieg friedliebend auch die Polizei. Unstreitig wartete sie nur auf Beschwerde über ein von dem Verrückten angerichtetes Unglück, des festen Vorsatzes, Gegenastalten und herrliche Vorkehrung zu treffen, sobald der Schaden geschehen sein würde.

Zu seinem und seiner Mitbürger Glück war im Rat der Vorsehung seine Besserung beschlossen. Sein Wahnsinn ließ nach einigen Jahren nach und verwandelte sich in ein bloß scheues Wesen. Seiner Nachbarin, einem bildschönen, aber gefallenen armen Mädchen, glückte es, ihn auch davon zu befreien. Menschenfreundlich und gewiss ohne alles unedle Interesse unternahm es diese gute Person, ihn schon während der wirklichen Geistesabwesenheit durch ein nachgebendes, zuvorkommend gütiges Betragen an sich zu gewöhnen und sich ihm bei der nachmaligen bloßen Menschenscheu nach und nach in eben dem Grad unentbehrlich zu machen, in welchem die Menschen überhaupt durch ein – wo nicht liebloses – doch fehlerhaftes Betragen ihn von sich entfernten und zurückstießen.

Dadurch gelang es ihr, dass sie zuletzt alles über ihn vermochte. Was sie ihm riet, das tat er, auch wenn es ihm Überwindung kostete; und was sie nicht gut heißen konnte, das wurde ohne Bedenken auch von ihm verworfen und aufgeopfert.

Geleitet von einem edlen Herzen und von dem natürlich richtigen Gefühle der oft verkannten Pflicht gegenüber Geisteskranken, betrug sie sich jederzeit gegenüber dem unglücklichen Nachbarn so, dass der erfahrenste Seelenarzt ihr kein richtigeres Benehmen gegen ihn hätte zur Pflicht machen können. Dafür hatte sie nun die unbeschreibliche Menschenfreude, ihren Kranken täglich mehr genesen und ihn endlich ganz hergestellt zu sehen.

O, möchte keiner von allen, in deren Hände sich Unglückliche dieser Art befinden, zu früh verzweifeln!

Aber der Guten, von der hier die Rede ist, war es vorbehalten, ihrem schönen Werk die Krone aufzusetzen. Es hatte nicht fehlen können, ihr sich immer gleichbleibendes, liebreiches Betragen hatte schon in der noch halb verwirrten Seele des Jünglings das Pflichtgefühl der reinsten Dankbarkeit und Liebe rege gemacht, zu welcher sich, als der Geist genas, auch Geschlechtsliebe und die in deren Gefolge befindlichen Wünsche und Pläne gesellten.

Den Liebenden lehrte die Liebe wieder Geschmack an nützlicher Tätigkeit finden. Einige menschenfreundliche Mitbürger, welche mit Recht diesen rückkehrenden Geschäftigkeitstrieb, sofern er genährt würde, für das beste Mittel zur Vollendung der Kur hielten, gaben ihm vollauf zu tun. So gewann er selbst wieder sein gutes Brot und noch so viel darüber, dass er damit allenfalls noch eine arbeitsame liebe Frau mit ernähren konnte.

Diese Betrachtungen machten ihn so dreist, dass er im Ernst seiner geliebten Pflegerin sein liebevolles und dankbares Herz antrug.

Die Geliebte kam dadurch in keine geringe Versuchung. Welchen Entschluss sollte sie fassen, welchen Bescheid ihm geben? Ihr Herz durfte sie nicht um Rat fragen, denn auch hier war das, was anfangs bloß uneigennütziges Mitleid gewesen war, längst in Zuneigung und Liebe übergangen. Aber als eine nicht mehr leichtsinnige Person forderte sie von ihrem Verstand einen Entschluss. Und der – ach, wie hätte der einen anderen Ausspruch tun können, als den, dass es immer ein sehr gewagtes Unternehmen sei, einen Mann zum Gatten zu nehmen, dessen Verstandslosigkeit, vielleicht im verletzten Gehirn begründet, durch zufällige Veranlassung wiederkehren könne – einen Mann also, der ihr nur so lange Brodt geben werde, wie er das Glück habe, an Leib und Seele gesund zu bleiben.

Herz und Verstand kämpften eine Zeitlang, und das Herz, dieser sieggewohnte Zweikämpfer, trug den Sieg davon. Die Vorstellung, dass sie als Gattin eines solchen, in immerwährender Gefahr schwebenden Mannes, die beste Gelegenheit haben werde, ihn vor jeder, von außen her herbeigeführten Gefahr zu bewahren, festigte vollends den schon gefassten Entschluss.

In der Tat ging auch alles besser, als man glaubte. Er überließ sich ganz der liebevollen Leitung seiner schönen Frau. Sein scheues Wesen verlor sich nach und nach ganz, und seine Kunst, die Malerei, gab ihm und den einen Brot.

Nun vermehrte sich auch seine Familie, denn nach neun Monaten gebar ihm seine Frau einen Sohn, und sie fuhr fast jährlich damit fort. Sein Fleiß und seine ordentliche Wirtschaft ernährte auch nun die zahlreicheren seinen.

Seine Gattin hatte ihm zwar ein eigenes kleines Häuschen zugebracht; allein dieses war für vermehrte Brotgeschäfte viel zu klein. Er konnte die Chaisen, Rennschlitten etc., welche er teils anstreichen, teils malen musste, nicht auf die Diele zum Trocknen hinstellen.

Er mietete sich daher für einen billigen Mietzins in einer abgelegenen Straße ein sehr geräumiges Haus, welches nicht nur mit einer großen Diele, sondern auch mit Hofraum versehen war, der ihm in mancher Hinsicht nicht minder unentbehrlich war. Dieses Haus hatte er bereits fünfzehn Jahre bewohnt und für jedes Jahr die Pacht immer richtig und pünktlich abgetragen, als er plötzlich, nicht in dem Mietzins gesteigert, sondern hinterpachtet oder ausgemietet und vertrieben wurde. Ein katholischer Geistlicher hatte sich zum Werkzeug dieser Hinterlist missbrauchen lassen.

Schon mancher hatte bis dahin bei der Eigentümerin des Hauses den Versuch gemacht, den Maler zu hinterpachten, indem man immer, wie wohl fälschlich, vorausgesetzt haben mochte, dieser Mietsmann, mit einem nicht unbeträchtlichen Häuschen Kinder, werde die Hausmiete nicht gehörig entrichtet haben. Aber die gutmütige Eigentümerin widerstand lange der Versuchung, den etwas höheren Mietzins, den andere ihr darboten, zu nehmen; sie konnte sich nicht entschließen, eine Familie, welche in Zahlung des Schuldigen immer so pünktlich ordentlich gewesen war, zu verstoßen.

Aber diese von Natur gutmütige Dame war katholisch und ihr natürliches Billigkeitsgefühl konnte endlich den Überredungskünsten ihres Seelsorgers nicht ferner Widerstand leisten. Genug, der arme Maler, der diese Wohnung umso unentbehrlicher fand, je weniger im ganzen Ort ein anderes ihm brauchbares Haus zu mieten war, musste sie plötzlich der Schwestertochter jenes katholischen Geistlichen einräumen, die einen Schreinermeister zu heiraten im Begriff stand, dem die Wohnung auch für seine Brotgeschäfte brauchbar und bequem war.

Der Maler vernahm, dass er ohne Wohnung – oder welches hier einerlei ist – mit einer innig geliebten Frau und vielen Kindern ohne Brot sei. Auf der Stelle bringt dieser schreckliche Gedanke ihn abermals um den Verstand. Er wird wahnsinniger, als er je war. Frau und Kinder waren bei ihm des Lebens nicht mehr sicher.

Die verzweifelnde Frau meldete ihr Unglück der Obrigkeit und bat, den Rasenden in Verwahrsam zu nehmen. Er wütete so heftig, dass man ihn an Ketten anschließen musste. In diesem erbarmenswürdigen Zustand sahen die brotlosen seinen den bisherigen Ernährer drei lange Jahre hindurch.

Im kalten Winter des Jahres 1789 bewohnte der Wütende ein Zimmer, welches nicht geheizt werden konnte. Bei dem heftigen Grad der Kälte fand man ihn daher eines Morgens in toter Gefühllosigkeit und Erstarrung. So hatte nun der Erlöser aus aller Not auch den Leiden dieses Unglücklichen ein Ende gemacht! Seine tiefgerührte Frau und seine Kinder – vielleicht die Einzigen unter allen – weinten ihm ungekünstelte Tränen des Mitleids nach.

Man traf die erforderlichen Beerdigungsanstalten, und die Stunde, wo die Leiche zur Erde gebracht werden sollte, war da. Ungefähr dreißig Stunden nach dem Zeitpunkt, wo man ihn tot gefunden hatte, warf man die steife Leiche in den Sarg, um sie gegen Abend zu beerdigen. Es war in einer frühen Morgenstunde, als man den Deckel auf den Sarg legen und befestigen wollte.

In diesem Augenblick aber richtete sich der verstorbene Tollhäusler gespenstartig im Sarg auf und erwachte – mit völlig gesunder Vernunft – zum neuen Leben.

Alle liefen vor Schrecken davon, denn sie glaubten nicht, es mit einem Scheintoten, sondern mit einem Gespenst, mindestens mit einem Rasenden, zu tun zu haben. Wäre dieser Scheintote etwas früher in der Nacht erwacht, wahrscheinlich würde er dann zum zweiten Mal und wirklich gestorben sein, indem aus Gespensterfurcht sich vielleicht niemand in ein Zimmer gewagt hätte, worin ein in Ketten gestorbener Rasender sich hören ließ. Glücklicherweise war nun der Tag angebrochen. Einer von den beherztesten Leuten wagte es, in das Sterbezimmer zurückzukehren. Er fand die vermeinte Leiche noch immer in sitzender Stellung im Sarg. Sie sah ihn bittend an, winkte ihm, und sprach matt einige unverständliche Worte.

Man gab sogleich der Obrigkeit Nachricht hiervon. Der Wiedererwachte wurde in ein warmes Zimmer gebracht und erhielt augenblicklich die Hilfe eines Arztes. Er kam wieder zu sich und kehrte nicht nur völlig ins Leben zurück, sondern hatte auch von Stunde an den Wahnsinn verloren.

Er lebte noch lange, gesund an Leib und Seele, als ein ruhiger und fleißiger Arbeiter im frohen Kreis der seinen, und schien des Sarges noch lange nicht zu bedürfen.

Der Wiedererwachte erzählte, er habe während seines Scheintodes das Sprechen der Leute bei seiner Entkleidung deutlich vernommen, auch mit Seelenangst bemerkt, dass man nach seiner Länge das Maß zum Sarg nehme, aber es sei ihm durchaus unmöglich gewesen, auch nur den kleinsten Teil an seinem Leib zu rühren, geschweige denn, zu sprechen. Auch meinte er, er würde ohne die außerordentliche Heftigkeit, womit man ihn in den Sarg geworfen habe, und wodurch sein ganzes Wesen erschüttert worden sei, schwerlich ins Leben zurückgekehrt sein.

Dieser letzte Umstand erinnert mich an folgende biblische Auferstehungsgeschichte ähnlicher Art.

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