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Tony Tanner – Agent der Weißen Väter

Im Wettlauf mit der Zeit – Teil 2

»Ihre Bitte ist sehr ungewöhnlich!«

»Dessen bin ich mir durchaus bewusst.«

Doktor Vlad Serebriakoff betrachtete seinen Gast mit der Ruhe und Intensität, mit der ein Kunstkenner einen gerade ersteigerten Gegenstand betrachten mochte.

»Ich bin mir durchaus bewusst, dass mein Vorgehen weder den Gepflogenheiten entspricht, noch mir zum Vorteil gereichen wird, sollte es zu einer Gerichtsverhandlung gegen mich kommen. Andererseits halte ich es für ein legitimes Anliegen, schließlich geht es um nichts weniger als um meinen Kopf.«

Tony Tanner spürte, wie sich ein Schweißtropfen aus seiner linken Achselhöhle herabrollte.

Die Situation war absolut Deodorant zerschmetternd. Dabei schien alles gut zu laufen. Er hatte Serebriakoff am Telefon sprechen können, hatte ihm sein Anliegen schon mitgeteilt – er wollte so viel wie möglich über die Frau herausfinden, die er angeblich vergewaltigt hatte – und Serebriakoff hatte ihn für den nächsten Tag eingeladen. Und nun saß er hier wie ein Trottel und rettete sich in geschmiert daherlaufende Floskeln.

War er es, der seine Rolle so miserabel spielte – oder ahnte Serebriakoff, dass er selbst der eigentliche Grund des Besuches war und nicht diese verlogene Blondine? Der Mann, der Tony jenseits des riesigen Schreibtisches gegenübersaß, war mit Sicherheit ein Typ, auf den die Frauen nur so flogen. Anfang fünfzig, schlank, kultiviert gekleidet und mit ebensolchem Benehmen, das Gesicht geprägt von seiner Herkunft mit leicht gebräunter Haut und einer großen, edel geschwungenen Korsarennase über einem sinnlichen Mund. Jeder Theaterintendant, der die Rolle des reifen Liebhabers besetzten musste, hätte hier seinen Idealkandidaten gehabt.

Allerdings, stellte Tony bald fest, schien der Kopf Sebriakoffs keine wirkliche Verbindung zu dem Rest des Körpers zu haben. Während die Arme und die langen manikürten Finger gekonnte Gestik zeigten, während die männlich tiefe Stimme Humor oder Anteilnahme verriet, blieb das Gesicht in völliger Unbewegtheit. Die Augen unter den kräftigen Brauen waren riesengroß und so schwarz, dass die Pupillen nicht erkennbar waren.

Irgendwann hatte Tony Tanner schon einmal solche Augen gesehen, aber so sehr er sich auch mühte, er konnte sich nicht mehr erinnern, wann und wo es gewesen war.

 

Das Büro, in dem sie sich gegenübersaßen, entsprach dieser Eigenheit Serebriakoffs. Es war groß und gediegen und trotz der dunklen Eichenmöbel und der ebenfalls dunklen Ledersessel – in einer Ecke stand die unvermeidliche Couch – von freundlicher Helligkeit.

Durch ein Fenster, das fast die gesamte Wandbreite einnahm, strömte das kräftige Licht eines sonnigen Vormittages. Wenn Tony an Serebriakoff vorbeischaute, konnte er den gepflegten Rasen und die schönen alten Bäume, die dem Gelände einen parkähnlichen Charakter gaben, sehen. Und dennoch schien dieser Raum nichts mit einem Menschen zu tun zu haben. Er wirkte wie der Nachbau eines Katalogfotos oder wie die Kulisse zu einem Artikel in Beautiful Homes.

Nirgendwo konnte Tony Tanner etwas erkennen, was auf den Menschen Serebriakoffs schließen ließ. Es gab kein Foto einer Frau, einer Familie, von Freunden, Katzen, Hunden oder Segeljachten, keine Jagdtrophäe, keine stolze Erinnerung an ein gewonnenes Pferderennen, nichts, was auf eine Freizeitbeschäftigung, ein besonderes Interesse, gar eine Leidenschaft, die sich jenseits dieser Mauern auslebte, deutete. Die Bücher paradierten wie gesichtslose Gardisten in ihren Regalen, die Ölgemälde dünsteten Geschmack und Langeweile aus, die Tische waren staubfrei und bekundeten mit leeren Platten ihre Nutzlosigkeit. Alles wirkte, als hätte eine unsichtbare Hand mit einem Desinfektionsmittel jeden Hauch von Persönlichkeit getilgt.

Tony rückte in eine andere Position. Der Hosenbund kniff. Wahrscheinlich wog eine halbe Stunde keuchender Dauerlauf nicht die Schokoladentafeln in Maxigröße auf, die er sich in den letzten Tagen abends vor dem Fernseher gegönnt hatte. Jede dieser Tafeln trug den Namen Das ist jetzt aber die Letzte und gab ihn an ihre Nachfolgerin weiter. Zu allem Überfluss hatte er seine lästige Geldbörse noch in die falsche Tasche gesteckt und musste nun unauffällig in seinem Sessel nach einer Sitzstellung suchen, in der ihm das Ding nicht unangenehm auf den Schenkel drückte.

»Das ist bezeichnend – spontan, energisch, aber völlig unüberlegt.« Serebriakoffs Stimme kam ohne Vorwarnung in das Schweigen, ohne Ansatz und vorheriges Räuspern, als läge jedes Wort stets abrufbereit in einem mechanischen Magazin. Unbewegt, wie sein Gesicht, dachte Tony. Er wollte sich gerade vergewissern, dass Serebriakoff von der Frau sprach, über die er ein Gutachten verfertigt hatte, als dieser fortfuhr.

»Ich rede natürlich von Ihnen, damit darüber keine Unklarheit herrscht. Ich rede von den Eigenschaften, die Sie zu mir geführt haben, obwohl Ihnen, bei geringster Einschaltung rationalen Verstehens klar sein muss, dass ich Ihnen keinerlei Informationen über das Gutachten geben werde. Weil ich nicht will und weil ich nicht darf. Ihr Anwalt hätte Sie darüber belehren können. Haben Sie ihn gefragt …? Natürlich nicht, das hätte den Fluss der Spontaneität gestört, auf dem Sie Ihre Handlungen transportieren – Sie erlauben mir dieses etwas poetische Bild. Aber diese Eigenschaften passen in der Tat sehr gut zu einem Mann, der einer Frau zu nahe tritt, bis er sie vergewaltigt. Sie sagt Nein aber er ist sich sicher, dass sie Ja meint, er vertraut dem, was er Intuition nennen würde. Und er ist spontan und energisch und tut, was er für richtig hält.«

»Ich bin dieser Frau nicht zu nahe gekommen. Wenn Ihr Gutachten das Papier wert ist, auf dem es steht, werden Sie festgestellt haben, dass die Frau lügt!«

Warum rechtfertigte er sich? Warum hatte Serebriakoff ihn in diese Position gedrängt? Er hätte sich nicht darauf einlassen sollen. Eine ironische Abfuhr, letzter Versuch, auf das Gutachten zu sprechen zu kommen und dann höflicher Rückzug. Stattdessen hämmerte Serebriakoff seine Analysen wie Pfosten um Tony herum in den Boden und wob mit jedem Wort ein Netz, in dem sich Tony verfing.

»Sehen Sie, wir Psychologen unterscheiden verschiedene Typen von Männern, die einer Vergewaltigung fähig sind. Im Grunde ist jeder Mann ein potenzieller Vergewaltiger, darin muss man den Feministinnen zustimmen. Aber es gibt Männer, deren sexuelle Befriedigung in derartig enger Verquickung mit dem Komplex von Herrschaft, Gewalt und Kontrolle steht, dass sie nur durch eine Vergewaltigung befriedigt werden kann. 99 Prozent dieser Männer sind verheiratet und brave Familienväter. Sie haben eine ausreichende kulturelle Terminierung, um ihre eigentlichen Wünsche im offiziellen Bewusstseinszustand als ekelhaft und anstößig abzutun. Manche gehen zu Prostituierten und sind schon damit zufrieden. Der Tausch von Geld gegen kurzzeitige Nutzung der Geschlechtspartie der Frau kommt ihnen unbewusst derart widerlich vor, dass sie damit den Erregungszustand einer echten Vergewaltigung erreichen.

Manche sind mit ihrer Fantasie und dem ehelichen Sexualleben ausreichend versorgt.

Vielleicht erschöpft sich ihre Sucht nach Kontrolle darin, ihrer Gemahlin die Stellung des Aktes zu diktieren oder auf dessen Durchführung zu bestehen, selbst wenn die Frau keinerlei Lust dabei verspürt, weil sie krank ist oder aus anderen Gründen. Es gibt sogar Männer, die behaupten impotent zu sein, was auch dem objektiven Befund entspricht, aber tatsächlich nur Ausfluss ihres Bedürfnisses ist, der Frau Schmerzen zuzufügen. Das Phänomen der Umkehrung – ich vergewaltige dich nicht, sondern ich rühre dich nicht einmal an, und es befriedigt mich zu sehen, wie du leidest und dich bemühst, mich in Stimmung zu bringen.«

»Sehr interessant, aber ich glaube, solcherart Erkenntnisse waren nicht das, was ich bei Ihnen zu finden hoffte.« Tony gab seiner Stimme einen weichen, etwas gelangweilten Klang.

Serebriakoff schien ihm nicht zuzuhören.

»Geben Sie mir noch eine Minute. Das ist der A-Typ der vergewaltigungsbereiten Persönlichkeit. Ein Prozent dieser Männer wird tatsächlich juristisch auffällig, meistens als Wiederholungstäter mit einer Tendenz, der Polizei ihre Ergreifung zu erleichtern, indem sie auf absurd schlampige Weise Spuren zurücklassen. Der Wunsch nach Bestrafung drückt sich darin aus, oft auch eine masochistische Komponente.«

»Es beruhigt mich zu hören, dass ich zumindest nicht zu dieser Kategorie zu gehören scheine.« Dieser Satz war ein Trumpf, hoffte Tony. Der letzte Erfolg versprechende Zug in diesem seltsamen Spiel, zu dem ihn Serebriakoff zwang.

»Die Verwendung von Sarkasmus als Schutzschild ist bei intelligenten – ich sage übrigens intelligent, nicht klug – Patienten eine verbreitete Erscheinung. Nach dem Motto: Ich formuliere meinen Frauenhass derart überzogen, dass mir keiner abnimmt, dass ich es ernst damit meine und ich nur ein Lachen für meinen skurrilen Humor ernte.«

Tony musste hier weg. Er musste aufspringen und diesem Irren entkommen. Irren? Oder war er vielleicht nicht selbst der Irre? Nicht Serebriakoff hatte ihn gezwungen, hierhin zu kommen. Dorkas hatte ihn geschickt. War das wieder ein Trick von Dorkas? Eine raffinierte Fortführung der Vernichtungsaktion, die in Nizza gescheitert war? Während Serebriakoffs dunkle Augen auf ihn gerichtet waren, begannen Tony Tanners Blicke fahrig umherzuschweifen.

Er wollte wortlos das Büro verlassen, aber ein Rest von Überlegung hielt ihn zurück. Er konnte nicht einfach aus dem ummauerten Gelände fliehen, er kannte nicht einmal den Weg zum Ausgang dieses Gebäudes. Der verdammte Krawattenknoten drückte ihm die Luft ab.

Wütend begann Tony, daran zu zerren und wurde sich in einem hellen Moment bewusst, dass er hier einem Laienschauspieler ähnelte, der auf der Bühne den Begriff Panik zu illustrieren versuchte. Warum ließ er sich auf dieses Psycho-Spiel ein? Moment, hatte er sich nicht vor einer Sekunde schon einmal die Frage gestellt? Oder hatte er nur daran gedacht, sich die Frage zu stellen? Aber jetzt dachte er doch auch nur und wie konnte er denken, dass er daran denken wollte, wenn er in diesem Moment doch schon daran gedacht hatte und …

»Psychopathen also. Aber reden wir über den Typ B. Das sind nicht die harten Kerle, wie Typ A, im Gegenteil. Es sind die Sensiblen, die Verständnisvollen. Diejenigen, die glauben zu wissen, was die Frau will. Sie sagt Nein? Aber da war doch eben dieser Blick, und wie sie mich vorhin angelächelt hat und warum hat sie sich genau dort hingesetzt und nicht woanders. Typ B schließt daraus, dass das Nein ein Ja war. Leider gehört es zu den gesellschaftlich bedingten Eigenheiten weiblichen Verhaltens, dass tatsächlich oft ein Nein ein Ja bedeutet. Daher kommt Typ B mit seiner Methode oft genug zum Zuge. Aber manchmal ist ein Nein ein Nein und nur ein Nein. Typ B, sofern er weniger spontan und energisch ist, lässt es darauf beruhen. Im anderen Fall tut er das, was er glaubt, der Frau schuldig zu sein. Er gibt ihr, was sie will oder besser, das, wovon er glaubt, dass sie es will. Typ B lauert nicht in dunklen Hauseingängen. Typ B ist der nette Kollege, der gute Sportskamerad, der freundliche Besucher im Büro. Typ B sind Sie.«

Der letzte Satz kam ohne jede Gefühlsregung und ließ Tony erzittern wie der Einschlag eines Geschosses. Den Knoten seiner Krawatte zu öffnen, war jetzt seine wichtigste Aufgabe.

Schwitzend zerrte er an dem Stück Stoff. Serebriakoff beobachtete ihn gelassen und ruhig, als hätte sich an der Situation nicht das Geringste geändert.

»Ich bin dieser Frau nie in meinem Leben zu nahe gekommen,« keuchte Tony und verlor jetzt die gekünstelte Beherrschung, zu der er sich so gerne gezwungen hätte. »Diese Frau ist eine Lügnerin, das wissen Sie – und jetzt stecken Sie sich Ihre Scheiß-Psychologie gefälligst in Ihren balkanesischen Arsch.«

»Wir sind also schon in der Phase der Aggression. Sie wissen ja – Übertragung, der Patient glaubt, in seinem Psychiater die eigentliche Ursache seiner Probleme zu sehen. Ich hatte allerdings nicht vermutet, dass Ihr Rationalitätsfaktor derart niedrig wäre, dass Sie schon nach einigen Minuten die klassischen Therapiesymptome zeigen. Sie sind eine Gefahr für sich und die Umwelt. Sie sind fast eine zweibeinige Zeitbombe. Sie brauchen dringend Hilfe.«

»Ich habe dieser Frau nichts getan. Ich will nur noch hier raus.«

»Wirklich, Sie sind der klassische Fall – erst aggressiv und dann weinerlich mit Fluchtwunsch. Ein deutliches Zeichen, dass wir uns dem Kernkomplex nähern. Ihre Beziehung zur Mutter vermutlich – beherrschendes Mutterbild, Mutter als alles überragende Lebensspenderin, zugleich als Hassobjekt, denn die Mutter verhindert jede Entfaltung der Persönlichkeit. Das Kind bleibt ein Teil der Mutter. Schließlich Flucht, Hass, Abwehr und zugleich schlechtes Gewissen und Angst. Frauen werden in solchen Fällen Blaustrümpfe oder Walküren – Männer zeigen stärkere psychotische Tendenzen. Neigung, sich einem Führer anzuvertrauen, der als männlicher Mutterersatz dient und dem man bedingungslos gehorcht, dem man aber dennoch misstraut wie der Mutter. Teils unbewusste Identifizierung mit der Mutter, der Mann glaubt, etwas mehr zu wissen, als alle anderen – dunkle Geheimnisse, verborgene Geschehnisse, undeutliches Flüstern im Dunkeln, das er interpretieren kann, denn er hat ja die Identifikation mit der alles beherrschenden Mutter. Vor allem weiß er viel über Frauen, denn im Grunde seiner Seele ist er ja selbst eine Frau, nicht wahr? Er hat ja nicht die Möglichkeit gehabt, wirklich ein Mann zu werden! Zuerst die Mutter und dann der Chef und die ganze Gesellschaft und schließlich wird er zu einem der Krawatten tragenden Zombies, die Tag ein, Tag aus ins Büro schleichen. Aber so scheint es nur. ER ist anders als die anderen, denn er hat ja die Seele seiner Mama geschluckt. ER ist anders, er kennt Geheimnisse, er hat den Durchblick, er weiß, was hinter den Schlagzeilen steht, er weiß, was die Dinge wirklich bedeuten. Er weiß auch, was eine Blondine in einem einsamen Büro will.«

»Ich habe dieser Frau nichts getan.« Tony stand halb aus dem Sessel auf und riss mit beiden Fäusten an seinem Kragen. Seine Antwort war nur noch das hilflose Krächzen einer Gebetsmühle.

»Natürlich haben Sie dieser Frau nichts getan. Die Frau wollte es ja. Sie haben es ja deutlich gespürt, Sie haben ja diese weibliche Sensibilität des großen Verführers, nicht wahr? Sie verstehen die Frauen und die Frauen mögen Sie deswegen, ist es nicht so? Die Frau wollte es doch. Sie haben ihr einen Gefallen getan. Aber die Frau hat gekratzt, und die Frau hat geschrien? Was stimmt da nicht? War es Ihr Fehler? Nein, es war die Mutter, die den Fehler gemacht hat, die Mutter hat etwas falsch verstanden. Sie können gar keinen Fehler machen, weil Sie überhaupt nicht existieren. Sie sind keine Einzelpersönlichkeit, Sie sind immer noch ein Teil der Mutter. Sie haben ein kleines, verhätscheltes Ego, das alle Fehler und jedes Versagen auf die Mutter schiebt. Sie waren es nicht. Nein, die böse Umwelt, die böse Polizei, der böse Chef, das böse Schicksal, die böse Verschwörung im Hintergrund. Selbst unter dem Galgen würden Sie einen Mord leugnen, den man Ihnen vorwirft. Sie würden mit dem besten Gewissen leugnen und jeder Trottel von Anwalt würde Ihnen Ihre Unschuldsbeteuerungen abkaufen. Sie lügen, aber Sie sind bis zur letzten Sekunde sicher, dass Sie die Wahrheit sprechen, und würden heilige Eide schwören. Sie sind nicht in der Lage, sich den Fakten zu stellen wie ein Mann, weil sie kein Mann sind. Sie verdrängen, Sie schieben alles in den dunklen Schlund, wo wie ein riesiger seelischer Müllschlucker Ihr verinnerlichtes Mutterbild wartet. Herr Tanner, geht es Ihnen nicht gut?«

 

Die nächsten Minuten erlebte Tony Tanner in einem Zustand halber Bewusstlosigkeit. Die Ereignisse seiner Umgebung betrafen ihn unmittelbar und doch nahm er kaum daran teil.

Er war wie gelähmt und alles Geschehen tropfte an ihm vorbei und lähmte ihn, als wäre er eine Mücke, die im Harz festklebt und langsam von der zähen Masse umschlossen wird.

Serebriakoff stand auf und schaute auf die Tür. Ein Luftzug zeigte Tony, dass sich die Tür geöffnet hatte.

»Der Patient ist in einen starken Erregungszustand geraten«, hörte er Serebriakoff sagen.

»Bringen Sie ihn in einen Raum, in dem er sich ausruhen kann. Er braucht eine Spritze. Vorsicht, er könnte gewalttätig werden.«

Starke Arme packten Tony und hoben ihn über die Sessellehne nach hinten. Er hörte eine Stimme murmeln. Sie kam ihm bekannt vor, und er identifizierte sie als seine Eigene. Es ließ ihn unbeeindruckt, als wäre sie eine Prothese, die man abschnallen kann und die nichts mit ihm zu tun hätte, obwohl sie ständig in seinen Ohren klang. Zu seinen beiden Seiten waren weiß gekleidete, muskulöse Pfleger, die ihn um Kopfeshöhe überragten. Sie schleiften ihn aus dem Büro. Der Anblick des unbewegt hinter seinem Schreibtisch sitzenden Serebriakoff war das Letzte, was Tony durch die Tür sah, dann ging es einen Gang entlang und eine Treppe hinunter.

Die Fäuste an seinen Armen waren fest und sie packten noch fester, als er nun versuchte sich freizumachen. Eine Stimme murmelte, dass es ihm bestens ginge und dass er nur nach Hause wollte und eine andere Stimme, die von oberhalb seines Kopfes kam, antwortete mit widerwärtiger Sanftheit, dass man das ja alles wisse und kenne und dass er etwas aufgeregt sei und dass es ihm bald besser gehen werde. Tony zerrte hin und her, seine Begleiter kamen aus dem Schritt, packten schmerzhaft zu und wiesen ihn lautstark zurecht.

Er ließ sich wieder zurück in seine Trägheit fallen. Aber mit jeder Bewegung, die er gemacht hatte, bröckelte die Betäubung von ihm ab wie eine getrocknete Schlammschicht.

Äußerlich apathisch trottete er zwischen den Hünen über den Gang. Langsam glaubte Tony das Spiel zu durchschauen, das ihm Serebriakoff aufgedrängt hatte. Der Psychologe war ohne Zweifel ein Genie. Aber er war destruktiv wie eine starke Säure. Ein kaltherziger Analytiker, ein gefühlloser Anatom der Seele, ein Mann mit einem Rasiermesser, der jede Schwäche und jeden Zweifel witterte und dort seinen Schnitt anzusetzen wusste.

Vielleicht war damit die Wirkung Serebriakoffs schon umschrieben. Aber vielleicht war es noch anderes hinzu, etwas, das Tony spürte, aber trotz aller Mühe nicht ausdrücken konnte.

Es war die Macht, anderen Menschen sein Spiel und seine Regeln aufzuzwingen. Neuer Zorn stieg in Tony auf. Dieser arrogante Schwätzer mit seinen wohlfeilen Fachbegriffen, mit seinem hochnäsigen Jargon und dieser inquisitorischen Attitüde.

Aber nicht mit Tony Tanner!

Auf der rechten Seite war eine schmale Treppe. Tony wartete, bis sie daran vorbeigingen, dann schob er plötzlich sein rechtes Bein vor. Der Pfleger geriet ins Stolpern, sein Griff löste sich, als er nach einem Halt suchte. Ein Ellbogenstoß brachte ihn vollends aus dem Gleichgewicht. Mit einem Schrei stürzte der schwere Mann die Stufen herunter. Im gleichen Moment duckte sich Tony und warf sich selbst nach rechts. Der Mann auf seiner linken Seite wurde mitgerissen. Mit einem gurgelnden Schrei kam er ins Taumeln und versuchte, eine Geländersprosse als Halt zu erwischen. Einen Herzschlag lang glaubte Tony, unter dem Gewicht des Körpers, der über seinen Rücken hinwegrollte, zusammenbrechen zu müssen.

Seine Knie gaben nach, er kippte hilflos hinter dem Pfleger her.

Es gab ein Gewimmel von strampelnden Armen und Beinen, laute Schreie und Flüche, das Poltern fallender Körper. Tony bekam eine Geländersprosse zu fassen und zog sich mit aller Kraft vorwärts. Sein Unterkörper und seine Beine schienen nicht mehr zu ihm zu gehören, sie wurden von dem Schwung mitgerissen. Tony drehte sich und lag mit dem Gesicht zum Gang auf den Stufen. Etwas versuchte, seinen Knöchel zu packen.

Er trat ziellos zu, ein Schrei zeigte, dass er getroffen hatte. Er raffte sich auf, stolperte die Stufen hoch und rannte den Gang entlang. Zu spät erkannte er, dass er die Richtung auf Serebriakoffs Büro gewählt hatte. Hinter sich hörte er Rufe, eine Klingel schrillte gedämpft aus dem Erdgeschoss. Eine Alarmklingel, schoss es Tony durch den Kopf. Eine Alarmklingel musste in der Pförtnerloge neben dem Eingang sein. Vielleicht konnte er, wenn er nur schnell genug war, noch an diesem Raum vorbei und dann durch den Eingang und dann auf den Weg und dann durch das Tor und dann auf die Straße …

Eine Treppe. Über sie war er zu Serebriakoffs Büro geführt worden. Zwei, drei Stufen nehmend hastete Tony die Treppe hinunter. Die Klingel wurde lauter. Er rutschte ab, versuchte sich zu halten, nahm die nächsten Stufen im Fallen und prallte auf einen Treppenabsatz.

Neben ihm ein schriller Schrei. Kreischen in höchsten Tönen. Eine Frau. Wo war die Treppe?

Er musste sich orientieren. Seine Rippen schmerzten. Seine Wange lag auf dem rauen Stoff des Teppichbodens. Neben sich sah er einen flachen weißen Schuh, aus dem ein nylonbedeckter Fuß ragte. Dieser Fuß hatte etwas mit dem Kreischen zu tun, stellte Tony fachmännisch und eher beiläufig fest, während er sich wieder aufrappelte.

Die Rippe tat verteufelt weh. Er taumelte bei den ersten Schritten, sah ein Gesicht mit aufgerissenem Mund, braune Locken, eine weiße Schwesternhaube. Sein Arm streifte etwas Hartes, das Metall eines Serviertabletts schepperte auf den Boden, ein Geruch von Tee verbreitete sich. Die Stimme der Frau wurde lauter und schriller, er konnte ihren Atem an seinem Ohr spüren. Ein Schritt brachte ihn von der Stimme weg, der nächste brachte ihn zur obersten Stufe des nächsten Treppenstücks, dann hatte sich Tony wieder gefangen und hetzte weiter.

Schritte schlugen einen hastigen Takt auf dem Boden. Stimmen riefen.

Die Frau hatte zu schreien aufgehört. Vor ihm lag der Eingangsbereich. Rechts ein Gang, links das Pförtnerzimmer, dahinter die große Eingangstür. Mit einigen großen Schritten war Tony an dieser Tür, drückte die Klinge herunter, riss, zerrte und rüttelte an der Tür … und hörte nur Serebriakoffs tiefe Stimme: »Wir leben in einer Zeit, in der Türen elektronisch gesperrt werden können, Herr Tanner.«

Nicht einmal die Spur von Triumph schlich sich in Serebriakoffs Organ. Tony rüttelte automatisch weiter an der Tür, die sich keinen Zentimeter öffnete, bevor er überhaupt verstand, was Serebriakoff gemeint hatte. Er wandte sich um, wollte den Gang hinunterflüchten.

Dieses Mal war es der Pfleger, der ihm ein Bein stellte. Tony stolperte einige Schritte vorwärts, bis die beiden Männer ihn erreichten und ihn auf den Boden warfen. Mit ihrem Gewicht drückten sie ihn zu Boden.

Er strampelte mit den Beinen. Aus dem Hintergrund klangen Serebriakoffs Anweisungen, eine Krankenschwester kam mit rauschendem Kleid herangeeilt und hockte sich neben ihn.

Sie hatte ein aufdringliches süßliches Parfüm, das sich mit dem Rasierwasser der Pfleger zu einer zuckerwasserdicken Wolke mischte. Eine Spritze erschien in der Hand der Frau. Tony schrie und krümmte sich wie eine Schlange. Die Pfleger hielten ihn fest, sie stöhnten vor Anstrengung. Die Frau hielt die Spritze hoch, beobachtete konzentriert, wie einige Tropfen der klaren Flüssigkeit aus der Spitze rannen, dann nickte sie den Pflegern zu. Tonys Beine keilten und traten, dann spürte er, wie eine Flüssigkeit sein Bein entlang rann. Es war nicht so, dass er verstand, was sich abspielte. Es war eher ein inneres Bild, das er vor den Augen hatte und anschauen konnte. Die Frau hatte die Spritze in seine Geldbörse gesetzt und pumpte das Betäubungsgift nun wirkungslos in das teure Straußenlederding, das ihm Francine einmal geschenkt hatte. Tonys Bewegungen wurden matter, seine Schreie verstummten.

Einige Sekunden des letzten Aufbäumens, dann brach er zusammen. Die Pfleger warteten, dann ließen sie von ihm ab. Eine Rollbahre quietschte heran. Er wurde darauf gehoben und fortgeschoben.

Der Rasierwassergeruch verschwand, das süßliche Parfüm blieb. Ein Aufenthalt, Schlüsselklimpern, dumpfes Zufallen einer schweren Tür, verändertes Geräusch der Schritte auf einem Fliesenboden. Schreie von irgendwoher. Neuer Aufenthalt, Stimmen, noch eine Tür.

»In einer Stunde Kontrolle«, sagte eine Frauenstimme, dann entfernten sich Schritte.

 

Tony blieb unbewegt liegen. Er hielt die Augen geschlossen und versuchte trotzdem, seine Umgebung zu erkennen. Die Luft war kühl. Es musste ein großer Raum sein. Der Parfümduft verflog, wurde durch den scharfen Geruch von Medikamenten und Reinigungsmittel ersetzt. Für einen Augenblick glaubte er, in einer unendlichen Leere zu schweben. Ein sternenloses Universum, erfüllt von schattenlosem weißem Licht, das gnadenlos jede verborgene Falte der Seele mit ihrem Schmutz und ihrer Schwachheit ausleuchtete.

Er musste sich beherrschen, um bewegungslos liegen zu bleiben. Der Schmerz in der Rippe begann langsam zu verklingen. Gut, vielleicht doch kein Bruch. Nur eine Prellung, ein blauer Fleck im Badezimmerspiegel. In welchem Badezimmerspiegel? Das Blut rauschte in seinen Ohren. Er wusste nicht, wo er war, aber er war weiter weg, als es jeder verschollene Forscher im dunklen Afrika gewesen sein konnte. Fort von irgendwo.

Sein Herz klopfte wild und schüttelte den ruhig liegenden Körper wie ein Tier, das aus dem Käfig brechen will. Nichts war zu hören. Stille. Weiße Stille in einem endlos ausgedehnten Raum. Nichts! Nichts? Nein, da war etwas. Etwas. Aus der Mauer undurchdringlicher Stille lösten sich dünne Schuppen, taumelten durch den Raum. Ein abgeschilfertes Hauchen, ein Schneefall von Hauch und Wispern und Tuscheln und Flüstern. Tonys Nackenhaare sträubten sich, er hielt den Atem an, während er bewegungslos auf der Bahre lag. Etwas. Er lauschte und versuchte zu ordnen und dann wurde sein Gehör dieses Etwas gewahr und packte es – und er lauschte gelähmt dem unendlich leisen Schleichen und Schlurfen, das aus endloser Ferne herankam, das ihn umkreiste wie ein Rudel weichpfotiger Wölfe, und sich ihm mehr und mehr näherte.

Das kaum merkliche Schleichen kam näher, stockte, verstummte, setzte wieder ein. Tony Tanner zwang sich, bewegungslos liegen zu bleiben. Vielleicht gab es in diesem Raum eine Überwachungskamera.

Die Vorstellung, in diesem Augenblick im Viereck eines Monitors festgehalten und von fremden Augen beobachtet zu werden, rief in ihm ein Gefühl der Hilflosigkeit hervor. Es lähmte seine Gedanken, machte sie schwach und matt und so bewegungslos wie seine Glieder, und nur seine Instinkte tobten weiter wie alarmierte Wachhunde. Sie waren es auch, die ihn im müßigen Karussell seiner Gedanken anhielten. Irgendetwas war geschehen, irgendetwas war in seine Nähe gekommen. Er glaubte, ein Flüstern zu hören. Sobald er versuchte, sich auf das Geräusch zu konzentrieren, verschwand es unter dem Rauschen des eigenen Pulses in den Ohren.

Ein Hauch berührte seine Hand, unmerklich fast, aber stark genug, dass eine Kälte über seinen Nacken kribbelte und sich seine Haare aufstellten. Warum hatte die Frau befohlen, dass man in einer Stunde nach ihm sehen sollte? Warum, wenn man ihn ebenso gut durch eine Kamera beobachten konnte? Vielleicht wollte man seinen Puls fühlen, aber es bestand doch eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass er hier ohne das erwartete Publikum den Betäubten spielte.

Die Frage erledigte sich im nächsten Moment, denn er spürte einen lauwarmen Atem an seinem Hals und riss, abseits jedes Wollens oder Nichtwollens, erschrocken die Augen auf.

Einen Herzschlag lang spiegelte sich sein Gesicht in den Augen eines anderen Gesichtes, das ganz nah über seinem war, dann ertönte ein quiekender Schrei, gefolgt von undeutlichen Ausrufen, und eine Gestalt hüpfte ungelenk in eine Zimmerecke. Tony folgte ihr instinktiv mit den Blicken, wurde sich dann bewusst, was er tat und schaute sich zuerst nach einer Kamera um. Es war nichts zu entdecken. Er setzte sich auf und ließ die Beine baumeln. Er war in einer großen Halle mit weiß gekälkten Wandflächen und einem weißen Fliesenboden. Hohe Fenster durchbrachen zwei der Wände. Durch das Glas sah er auf ein Rankenwerk aus Stängeln und Blättern. Er brauchte eine Weile, bis er erkannte, um was es sich handelte. Es war die noble, handgefertigte, schmiedeeiserne, aber trotzdem nicht weniger undurchdringliche Variante des proletarischen Gefängnisgitters.

Passend zu diesem Stadtviertel und dem Ruf der Klinik. Das Mobiliar bestand lediglich aus einigen Stühlen. Die einzigen Anwesenden schienen er und diese Gestalt zu sein, die unter einem Fenster am Boden hockte und sich mit kindischer Geste, als würde sie dadurch unsichtbar, die Hand vor die Augen hielt.

Das Tappen nackter Füße ließ Tony Tanner den Kopf wenden. Hinter ihm war ein Durchgang zu einem Nebenraum. Im Halbdunkel des Durchganges schimmerten fahle Flecken. Ein leises Murmeln und Stöhnen wehte von dort herüber. Dann bewegten sich die hellen Flächen, wurden zu weißen Gewändern und, als sie in das Licht des Saales eintraten, zu Gestalten in langen weißen Hemden, die ihnen etwas Leichenhaftes verliehen. Ein Dutzend mochte es sein, das sich jetzt langsam aus dem Halbdunkel schälte.

Einige hielten einander an der Hand und hüpften dabei wie betrunkene, alberne Greise, die Kinder nachäffen wollen. Andere schritten alleine, und aus ihren Bewegungen war zu lesen, dass sie in ihrer eigenen, menschenleeren Welt existierten, abgetrennt und geschieden von allem, was ihnen aufdringliche Fremde als das wahre Leben aufdrängen wollten.

Murmelnd und seufzend, aber ohne ein Wort, umringten sie Tony. Der saß unbewegt und ein weiteres Mal hilflos auf seinem Platz.

Sie drängten sich Schulter an Schulter, eine Mauer aus Menschenleibern, um ihn herum.

Einige Hände näherten sich vorsichtig seiner Schulter oder seinem Arm und betasteten ihn, als müssten sie sich auf diese Weise vergewissern, dass er tatsächlich in körperlicher Realität vorhanden war. Tony zuckte unter den Berührungen unwillkürlich zusammen. Er musterte die Gesichter und musste schlucken, ein würgendes Gefühl machte sich in seiner Kehle breit. Es waren die Gesichter von Menschen, ein vertrauter, gar banaler Anblick, aber hinter der scheinbaren Alltäglichkeit lag eine Kluft, und die Vertrautheit schien dort hinabzustürzen, in düster schimmernde Tiefen des Entsetzens.

Manche dieser Gesichter waren wie die Schlagzeilen der Boulevardblätter, aber sie trompeteten keine Skandale im Königshaus heraus, sondern Schlimmeres – unermessliche Angst, abgrundtiefe Trauer, tierische Stumpfheit, Laster, Geilheit, Gier oder die falsche Fröhlichkeit der Idiotie. Sie erinnerten Tony an Ölbilder des Mittelalters, wo sich die Gaffer im Hintergrund zusammendrängen, während im lichten Vordergrund das Schauspiel göttlichen Heils stattfindet, mit dem sie nichts zu tun zu haben, weil sie stumpf, verdrängt und verdammt sind vom Tage ihrer Zeugung an.

Dann gab es die anderen Gesichter, die wie das Kleingedruckte eines wichtigen Vertrages wirkten, das man sich erst nach der Unterschrift durchliest und dann, zu spät, viel zu spät, mit einem Grauen versteht – Gesichter, die man in der Underground, in einem Kaufhaus, in einer Versammlung wichtiger Personen hätte finden können, um dann sie dann plötzlich zu durchschauen: in dem verächtlichen Zug um die Mundwinkel, in dem arroganten Schwung der Brauen, in der Eiseskälte des Blicks oder auch in der Langsamkeit, wenn sich jedes Zucken durch einen zähen Schlamm von Traurigkeit kämpfen muss, bis es die Haut erreicht.

 

Tony sah das Gesicht eines Kindes, aber erst der zweite Blick erfasste die Spuren des Alters, die leichten Falten und Runzeln, die die Jugendlichkeit zur erschreckenden Karikatur machten. Was er vor sich hatte, waren Schlachtfelder zwischen Stirn und Kinn. Er wurde mit peinigender Gründlichkeit betrachtet. Einige beugten sich vor oder drehten den Kopf, um ihn aus einer anderen Perspektive sehen zu können. Dann verloren sie das Interesse und zogen sich von ihm zurück. Nur ein unförmig fetter, riesiger Junge blieb weiterhin genau vor ihm stehen und schaute ihn unverwandt aus dunklen Augen an, die zwischen Fettwülsten hervorschauten.

Er atmete schwer und schnell, jeder Atemzug wurde von einem schleimigen Röcheln begleitet, das tief aus dem Brustkorb kam. Dieses stille Angestarrtwerden kam Tony zuerst lächerlich vor und dann peinlich und dann unverfroren – und dann fragte er sich mit steigender Nervosität, was dieser Junge wohl sehen mochte und ob sich vor diesen dunklen Augen jetzt seine Seele Schicht um Schicht enthüllte, bis zu jenen Formen und Mustern, von denen Tony Tanner selbst nie etwas ahnen würde, obwohl vielleicht jeder Schritt von ihnen bestimmt wurde.

Der Junge streckte langsam seine Hand vor und murmelte etwas, was wie »Gundach« klang. Tony ergriff die Hand und schüttelte sie. Der Junge grinste und schüttelte mit und so schüttelten sie eine Weile, bis es Tony gelang, sich aus der Umklammerung der feisten Finger zu befreien. Der Junge schlurfte bedächtig in eine Ecke, seine Hand hielt die schüttelnde Bewegung weiterhin bei. Nun kümmerte sich keiner mehr um Tony. Die weiß gekleideten Patienten hatten sich verteilt. Einige saßen beisammen auf dem Boden und führten eine heftige Diskussion – es sah fast so aus wie eine Runde in einer Wohngemeinschaft von Sozialpädagogen, wenn man von dem Grunzen und Lallen absah, das die Wörter ersetzte und dem hysterischen Lachen, das von Zeit zu Zeit aufstieg.

Der Alte mit dem Kindergesicht hatte aus einer Tasche drei Bauklötze geholt und bemühte sich, sie übereinanderzustellen. Seine Hand zitterte, sodass er den kleinen Turm immer wieder kurz vor der Vollendung umstieß, aber er bemühte sich weiter, Ernsthaftigkeit und Konzentration auf seinen seltsam gemischten Zügen. Einige der Patienten hatten kahl rasierte Schädel. Auf der Haut waren deutlich Narben und frische Wunden zu erkennen. Obwohl er kein Experte war, glaubte Tony, den Ursprung dieser Verletzungen zu kennen. Er dachte an die Ansatzpunkte elektrischer Kontakte, an Elektroschocks, die auch den gesündesten Geist nach kurzer Zeit zurücklassen wie eine zerstörte und geplünderte Stadt. Serebriakoff war also nicht nur ein Experte auf dem Gebiet der Seelenanalyse. Er war auch jemand, der die Psyche zertrümmern konnte. Die Kostprobe, die er selbst erlebt hatte, wirkte noch beklemmend nach.

Tony hatte den Verdacht, dass einige dieser weiß gekleideten Verwirrten noch vor einigen Wochen angesehen Mitglieder der Gesellschaft gewesen sein mochten. Mit beiden Beinen im Leben stehend, fest mit der Wirklichkeit verbunden. Und dann? Wollten sie ihr Erbe vielleicht einer wohltätigen Stiftung vermachen – und die Erben hatten Interesse daran, dass der Verwandte schnellstmöglich entmündigt werden konnte? Ja, stellen Sie sich vor, Misses Brown, ganz plötzlich. Aber im Grunde – ein paar Schrullen hatte er schon immer, aber wer hätte schon geahnt, dass so eine schwerwiegende Sache dahinter steckt?

Wenn er nicht sehr aufpasste, dann stand ihm vielleicht dasselbe Schicksal bevor. Tony blickte auf die Uhr. Ungefähr eine halbe Stunde hatte er noch, dann war die Kontrolle zu erwarten. Bis dahin wollte er zumindest nachschauen, was sich in dem Nebenraum verbarg, in den sich die Patienten geflüchtet hatten. Er stand auf, schlich leise zu dem Durchgang und lugte vorsichtig um die Ecke, bevor er hindurchschritt. Der nächste Raum bot keine Überraschungen. Er war leer und fensterlos, nur durch zwei weitere Durchgänge erhellt. Der erste führte in einen Sanitärraum, der den geringsten Ansprüchen an Würde und Intimität Hohn sprach. Tony wendete sich dem nächsten Durchgang zu. Er vermutete einen weiteren leeren Raum, wollte nur einen kurzen Blick hineinwerfen und prallte dann entsetzt zurück.

Dieser Raum war unerwartet groß, tatsächlich bildete er das Gegenstück zu dem Saal, in dem Tony eben noch gewesen war. Wieder waren die Wände weiß gekälkt, der Boden mit weißen Fliesen belegt und die Fenster auf kunstreiche Art vergittert. Einen Unterschied zu dem ersten Saal gab es. Es waren die massiven Eisenringe, die im Abstand von zwei bis drei Metern in Hüfthöhe in die Wände eingelassen waren. An einem dieser Ringe hing eine Kette und an dieser Kette hing ein Mann. Eine Art Ledergeschirr, wie es Bergsteiger zur Sicherung tragen, war ihm um Brust und Hüften geschnallt. Im Rücken, an einer Stelle, die er mit den Händen kaum berühren konnte, war die Kette befestigt. Der Mann kniete auf allen vieren auf dem Boden und war so in seine Tätigkeit versunken, dass er den Eintretenden gar nicht bemerkte.

 

Tony trat näher. Er erkannte, womit sich der Mann beschäftigte, und nach einem Moment, in dem ihn Ekel und Schrecken überwältigen wollten, wusste er, wer dieser Mann war. Die Fingerknöchel des Mannes waren blutige, offene Wunden. Er steckte sie in den Mund und biss mit den Zähnen darauf, bis das Blut wieder in hellen Strömen floss. Dann ließ er sein Blut auf den Boden tropfen und begann, das Rot mit dem Finger sorgfältig zu Linien zu tupfen und zu Flächen zu verteilen. Den größten Teil des Fußbodens, den er erreichen konnte, hatte er auf diese Weise schon bemalt.

Tony erkannte Fratzen, die von einem Liniennetz umgeben waren. Undurchschaubare Symbole standen neben einfachen Zeichen, die aus der Legende einer Wanderkarte stammen konnten – Kirchen, Brunnen und Aussichtstürme. Alles war mit geraden oder gewundenen Wegen verbunden. Jetzt war der Mann dabei, ein wolfsartiges Raubtier mit aufgerissenem Rachen herzustellen. Unter diesem monsterhaften Wesen standen die Zahlen, die Tony kannte. 1999.

Dieser Mann war Ronald Gainsworth!

Stumm und sprachlos stand Tony in dem Raum. Gainsworth kaute wieder an einem Knöchel. Das Blut gab ein leises patschendes Geräusch, als er es auf die Fliesen tropfen ließ.

In der Luft lag fader Blutgeruch. Gainsworth schniefte und fuhr mit seinem Werk fort, ohne sich um etwas anderes zu kümmern. Vielleicht hatte der Maler nur einen Schnupfen. Tony hatte allerdings einen anderen Verdacht. Er tippte auf eine zerfressene Nasenscheidewand als Folge von intensivem Kokaingebrauch.

Ein anderes Geräusch ließ ihn aufhorchen. Erst nach einigem Suchen entdeckte Tony, woher es kam. In einer entfernten Ecke des Raumes lag etwas. Es ähnelte einer riesigen Insektenpuppe. Weiß vor der weißen Wand hatte er sie beim Eintreten übersehen. Er trat näher. Etwas regte sich, kaum merklich, unter dem weißen Laken, das die Hülle bildete. Mit einiger Überwindung griff Tony Tanner zu und drehte die Stoffrolle.

Rote geschlitzte Augen starrten ihn an, ein offenes Maul zeigte Haifischzähne und Hauer, wie von einem Eber. Tonys Herz krampfte sich in Panik zusammen und begann wie wild zu schlagen, während sein Bewusstsein schon erfasst hatte, was er sah. Eine Maske. Eine bemalte Maske, wie sie die Torhüter beim Eishockey tragen. Er stand wieder auf, dann erst entdeckte er das Glitzern eines Augenpaares, das durch die Maskenschlitze schaute.

Er zögerte. Seine erste Reaktion wäre gewesen, die Maske abzunehmen, aus Neugier, aber auch aus dem Gefühl heraus, dass hier ein Mensch auf widerlichste Weise gefoltert wurde. Aber, so warnte ihn seine zweite Überlegung, es mochte einen Grund geben, warum dieses Wesen derart eingehüllt war. Er würde es nicht erfahren, wenn er es nicht versuchte.

Mit einiger Mühe öffnete er die Schnallen am Hinterkopf und zog die Maske von dem Gesicht. Ihm blieb der Bruchteil einer Sekunde Zeit, um ein junges Mädchen mit dunklem, wirrem Haar zu erkennen, bevor es mit einem hundeartig knurrenden Geräusch nach seiner Hand schnappte. Ihre Zähne erwischten Tonys Zeigefinger und bissen fest zu.

Mit einem heulenden Schrei zog er die Hand zurück, stolperte beim Zurückweichen über seine eigenen Füße und fiel klatschend auf den Rücken. Seine Nerven wurden zu glühenden Drähten, die Schmerzsignale zwischen Hinterkopf und Steißbein transportierten. Einige Augenblicke war er wie gelähmt. Zu lange, denn es reichte für die Insektenpuppe, sich auf ihn zu wälzen und ihn auf den Boden zu drücken. Der Kopf des Mädchens knallte gegen Tonys Kinn, ihr Haar kitzelte auf eine unschuldig neckische Weise, die in dieser Situation völlig absurd war. Er spürte ihre Lippen an seinem Hals, ihre scharfen Zähne, die sich um seinen Adamsapfel in die Haut schnitten.

Tony Tanner versuchte zu schreien, aber er war starr vor Schreck. Unfähig zu einer einzigen Bewegung der Abwehr erwartete er den tödlichen Biss. Dann verschwand das Gewicht von seinem Körper und er hörte eine helle Mädchenstimme neben seinem Ohr.

»Sie gehören ja gar nicht zu diesen Scheißkerlen!«

»Haben Sie am Geschmack erkannt …« Tony brauchte für seine gestöhnte Antwort zwar eine Weile, aber er war ganz zufrieden mit ihr. Vorsichtig betastete er seinen Hals. Sein Kehlkopf war unbeschädigt, aber die Haut blutete aus einigen kleinen Wunden. Das Mädchen hob, soweit sie es konnte, den Kopf und betrachtete Tony mit Neugier.

»Sie riechen nicht nur anders als die Scheißpfleger, sie tragen auch andere Klamotten. Patient? Nein, kann nicht, hier kommt keiner rein, ohne das schicke Hauskleid in Leichensaalweiß. Also, was sind Sie?«

»Nennen wir es Gelegenheitsbesucher.« Tony schaute wieder auf die Uhr. Etwas Zeit blieb noch. Das Mädchen versuchte sich aufzusetzen.

»Machen Sie mir die Jacke auf«, bat sie. Unter dem Laken, in dem sie eingewickelt war, trug sie eine Zwangsjacke und darunter das übliche weiße lange Hemd.

»Ich vermute, die Maske und diese Jacke verdanken Sie Ihrer enthusiastischen Art, Menschen mit Appetithäppchen zu verwechseln.«

»Pflegerhaie, nicht Menschen. Irgendwie muss ich mich gegen diese Schweine wehren.«

»War wohl nicht sehr erfolgreich.« Tony schnallte dem Mädchen die Zwangsjacke auf und trat zur Vorsicht einige Schritte zurück. Noch einmal wollte er sich nicht überraschen lassen.

Aber sie streckte und rekelte sich nur und ging dann wortlos zum Fenster. Tony stellte sich neben sie. Er schaute auf einen schmalen Rasenstreifen, hinter dem sich eine hohe Mauer entlangzog. Eine Reihe von Eisenspitzen lief die Mauerkrone entlang. Dies und die Höhe der Mauer ließen jeden Gedanken an ein Überklettern als Verschwendung erscheinen. Aber in der Nähe lag ein Haufen Äste und Zweige. Auf dem Rasen waren noch die hellen Sägespäne vom Fällen des Baumes zu sehen. Wenn man einen der großen Äste an die Mauer lehnen würde, könnte man ihn vielleicht als Leiter benutzen.

»Weshalb sind Sie hier?« Die Stimme des Mädchens riss Tony aus seinen Überlegungen.

»Ich bin ein perverser Vergewaltiger«, antwortete er.

»Nett.«

»Sagt Serebriakoff.«

»Und was sagen Sie?«

»Ich sage, dass ich nur noch vorheriger Absprache und auf ausdrücklichen Wunsch der betreffenden Dame zur Vergewaltigung schreite.«

»Holen Sie mich hier raus.«

»Ich bin im Moment selbst drin.«

»Hören Sie, ich weiß nicht, wer Sie sind und warum Sie hier sind. Aber wenn Sie eine Chance haben wollen weiterzuleben, ohne dass Ihnen diese Schweine das Gehirn zerbröseln, dann sollten Sie sich aus dem Staub machen. Ich habe inzwischen schon genügend Leute gesehen, die waren normal, als sie hierhin kamen – und jetzt können sie noch nicht mal alleine einen Löffel halten.«

»Ich habe die Narben der Elektroschockgeräte gesehen.«

»Ich weiß nicht, wie es gemacht wird. Aber ich schwöre Ihnen, DASS es gemacht wird. Und ich habe auch Leute gesehen, die hatten Narben an der Stirn, denen hat man mindestens das halbe Hirn rausgenommen.«

Das Mädchen fasste Tonys Anzugkragen und schüttelte ihn beschwörend. »Dieser Serebriakoff macht Experimente. Ich weiß, dass ich in drei Tagen dran bin, ein Pflegerschwein hat es mir angedroht. Und der da …«, sie deutete auf Gainsworth, »… ist am selben Tag fällig. Holen Sie mich hier raus!«

Ein Warnton seiner Uhr zeigte Tony, dass die Stunde fast um war. Er verlor wertvolle Zeit, weil er das Mädchen überreden musste, sich wieder die Zwangsjacke und die Maske aufsetzen zu lassen. Sie bat ihn, die Schnallen nicht fest zuzumachen.

»Das merkt eh keiner. Nur wenn man einmal in der Woche mit kaltem Wasser abgespritzt wird. Das nennen die Pflegerhaie Badetag.«

Bevor er ihr die Maske aufsetzte, schaute sie ihn noch einmal bittend an.

»Holen Sie mich hier raus. Sonst bin ich verloren.« Als Tony wieder bewegungslos auf der Bahre lag und das Klimpern der Schlüssel hörte, war er sich nicht sicher, ob er nicht selbst auch schon längst verloren war.

 

Angestrengt lauschte er auf die Geräusche. Es musste zwei Türen geben, kurz hintereinander.

Die äußere Tür wurde geschlossen, bevor die innere geöffnet wurde. Er vernahm undeutlich Stimmen und musste seinen Schrecken in Zaum halten. Sie kamen zu zweit, mindestens zu zweit. Es fiel schwer, angesichts der nervlichen Anspannung den Atem zu kontrollieren.

Tony Tanner hatte das Gefühl, ersticken zu müssen, weil er nicht schnell genug atmen durfte, ohne sich zu verraten. Die innere Tür schwang auf. Schritte näherten sich. Es schienen zwei Pfleger zu sein – die mildeste Form der Katastrophe. Aber was sollte er tun? Er musste hier heraus, also musste er an den Pflegern vorbei. Aber vielleicht trugen sie Funkgeräte bei sich oder Auslöser für einen Hauptalarm?

Tony fühlte sich elend wie beim Beginn eines Schachspieles, dessen Ausgang über sein Schicksal entschied. Eine Million möglicher Eröffnungsvarianten, die eine Million möglicher Fehler bedeuteten. Tony Tanner hasste Schach. Die Person umkreiste ihn, blieb stehen, beugte sich leicht schnaufend nach vorne und betrachtete ihn. Er spürte den warmen Atem des anderen am Hals. Dann wurde ihm die Qual der Eröffnung abgenommen. Der andere machte den ersten Zug.

»Hatte er eine Verletzung am Hals«, fragte eine Stimme neben Tony.

»Nö, was ‘n für ‘ne Verletzung?« kam es von der Tür.

»Biss, eindeutig Biss.«

Irgendetwas passiert jetzt, fuhr es Tony durch den Kopf. Er hatte recht. Etwas passierte.

Zwei starke Hände packten ihn mit brutaler Entschlossenheit und rissen ihn von der Bahre. »So, du hast also mit unserem Stück Scheiße geplaudert, du Arsch«, brüllte die Stimme.

Tony riss die Augen auf, nur um das wutverzerrte Gesicht eines weiß gekleideten Pflegers zu sehen.

In einem Bruchteil einer Sekunde registrierte er eine Reihe von kleinen Wunden an dessen rechter Wange, und während er auf den Boden geworfen wurde und eine Hand seinen Hals abschnürte, arbeiteten seine Gedanken weiter an diesem Problem, wie eine wackere Gruppe von Bürokraten in einem Rathaus, während feindliche Truppen draußen schon zum Sturm ansetzen, und schlussfolgerte, dass dieser Klinikangestellte auch schon engeren Kontakt mit diesem Mädchen gehabt hatte.

Diese Bestätigung seiner logischen Fähigkeiten erfüllten ihn mit einer ebenso sekundenkurzen Befriedigung, dann begann er zu röcheln und mit den Beinen zu strampeln.

»Hör auf, mach ihn nicht alle, der wird noch gebraucht«, tönte es von der Tür. Der andere Pfleger kam herbei. Tony strampelte und wand sich wie ein Aal, aber der Pfleger drückte weiterhin seine Kehle zu und presste seinen Nacken gegen eine Kante der umgestürzten Rollbahre. Der Druck wurde stärker und stärker. Tony hasste dieses Gefühl einer kalten eisernen Stahlkante in seinem Nacken. In seinen Ohren hörte er die eigenen Wirbel knirschen.

»Hör auf, du brichst ihm das Genick«, schrie es.

»Und ob ich das tue«, keuchte der Pfleger. In dem Saal herrschte wilder Aufruhr. Die Patienten rannten kreischend umher. Einige retteten sich auf die Stühle, als wäre Hochwasser, andere drehte der Szene einfach den Rücken zu, als wäre damit dieser Teil der Welt für sie nicht mehr von Belang. Aber alle lärmten oder jammerten oder klagten, und dabei hoben sie Hände in geradezu klassischen Gesten der Trauer und Verzweiflung.

Rote Lichter schwammen aus den Augenwinkeln in Tony Tanners Blickfeld. Sein Blut dröhnte in den Ohren, sein Nacken knirschte, und langsam kroch eine kalte Resignation in ihm hoch. Der Gegner war zu wütend und zu stark. Er versuchte, seine Hände in Position zu bringen. Keuchend spannte er die Nackenmuskeln, in die sich die Eisenkante einschnitt. Es gelang ihm, den rechten Arm unter dem Knie des Gegners herauszuziehen. Er versuchte schnell zu sein, aber vermutlich handelte er mit der Langsamkeit einer Schnecke.

Dennoch reichte es, denn sein Gegner war zu sehr in seiner Wut befangen. Tony brachte seine Rechte in das Gesicht des Pflegers, umkrallte mit den Fingern dessen Ohr und drückte mit dem Daumen gegen das Auge. Der Mann brüllte auf und schnappte zu. Und im nächsten Moment brüllte Tony, denn sein Daumen war zwischen den Zähnen des Mannes. Trotzdem war die Aktion ein Erfolg, denn die Hände um seinen Hals lockerten sich und er gewann Zeit.

Es waren nur einige Herzschläge, aber sie entschieden über sein Leben.

Es gelang Tony, nach vorne zu rutschen. Sein Kopf schrammte an der Kante entlang und krachte auf den Boden. Der Druck auf den Nacken war verschwunden. Zugleich drehte sich Tony, holte mit dem linken Ellenbogen aus und rammte ihn gegen die Nase des Pflegers. Der Schmerz in seinem Daumen gab der Bewegung zusätzliche Kraft. Das Nasenbein zerplatzte hörbar, der Mann schrie, und gleichzeitig mit dem Schrei öffneten sich die Zahnreihen und Tony riss seinen blutenden Daumen heraus. Dann erwischte er den Kopf des Pflegers und schlug ihn auf den Boden.

Der Mann stöhnte, aber er war noch bei Bewusstsein. Tony setzte zum zweiten Mal an, da krallte sich eine Hand in seinen Haare und riss ihn zurück. Der zweite Pfleger, der zur Tür geeilt war und sie geschlossen hatte, war zurück. Er bekam Tonys Arm zu fassen und drehte ihn mit einem Polizeigriff auf dessen Rücken.

Tony wusste, wann er verloren hatte, und das war genau ein derartiger Moment. Er bemühte sich nur noch, den Schmerz in dem Armgelenk nicht weiter steigen zu lassen, als sich der Griff plötzlich löste. Er taumelte vorwärts und drehte sich um. Der Pfleger lag am Boden. Eigentlich war von ihm nicht mehr viel zu sehen, denn der dicke Junge saß auf ihm, sodass unter dessen weißem Gewand nur die Schuhe und die Hände zu sehen waren. Der Junge grinste und seine Hand schüttelte in der Luft. Tony hielt es für angemessen, die Hand zu ergreifen und so schüttelten sie eine Weile und der Junge sagte »Gundach«.

Der Pfleger, den Tony halb erledigt hatte, versuchte sich aufzurappeln. Tony überlegte eine Weile, dann zog er seinen rechten Schuh aus – es handelte sich um handgefertigte braune Budapester – und bearbeitete den Hinterkopf des Pflegers mit dem Absatz. Die Probe fiel zu Tony Tanners vollster Zufriedenheit aus, denn der Absatz zeigte weniger Gebrauchsspuren als der Pfleger, der mit einem Stöhnen zusammensank und regungslos liegen blieb.

»Auch habe!« Der Junge streckte erwartungsvoll die Hand aus. Nun gehören handgefertigte Schuhe ohne Zweifel zum überlebensnotwendigen Besitztum eines echten Herrn, und daher fiel es Tony äußerst schwer, diesem Wunsch zu entsprechen. Aber irgendwie musste er den Jungen ja von dem Pfleger herunterlocken, und so legte er aufseufzend diesen Teil seines Laufwerkes in die ausgestreckte Hand.

Der Junge grunzte befriedigt und begann, sich von seinem Opfer herunterzuwälzen. Der Pfleger stieß ein röchelndes Seufzen aus. Seine Hand fuhr hilflos über den Fliesenboden. Der Anblick war mitleiderregend, aber jede Szene dieser Art hatte eine Vorgeschichte, und in diesem Fall kannte Tony die Vorgeschichte. Der Gedankengang erinnerte Tony an seinen etwas aus der Fasson geratenen Scheitel und zwang ihn, sich mit einem instinktiven Automatismus die Haare zu kämmen.

Danach fühlte er sich ein wenig besser, obwohl der Kopf dröhnte und der Nacken schmerzte. Er schnappte sich den Schlüsselbund des Pflegers und ging zur Tür. Der Junge wog unterdessen bedächtig den handgefertigten Budapester, vielleicht registrierte er gar die leichte Tendenz zum Plattfuß, die der Leisten des Schuhs verriet und die Tony Tanner als höchst peinlichen Makel empfand (schon das Wort Plattfuß, das an Plattkopf und Plattfisch gemahnte, hatte etwas Entwürdigendes. Es war wie eine Art von völlig humorlosem Laster, passte damit zwar in die heutige Zeit, aber nicht in Tonys Weltbild.)

Dann schlug der Junge krachend auf die Schläfe des Pflegers. Der Schuh rutschte dabei ab und knallte auf den Boden. Dieser Knall war lustiger als Schläfenhauen, und so hämmerte der Junge einen wilden Rhythmus auf die Fliesen, zu dem Tony Tanner heimlich den Refrain sang Vergiss den Schuh, vergiss ihn, schubididuuuuuuh.

Der Schlüssel passte und die Tür ließ sich öffnen – und auch die zweite Tür war nach einigem Probieren geöffnet. Dahinter war ein leerer Gang. Das Knallen erklang bis hierhin. Tony eilte, das heißt – eigentlich war es eher ein ungeschickt mädchenhaftes Hüpfen auf einem Fuß – zurück und bekam ohne Aufwand seinen Schuh. Das gute Stück war unbeschädigt. Tony nahm sich vor, einmal einen anonymen Dankesbrief auf seinen Schuhmacher in der Times zu veröffentlichen.

Vorher hatte er noch einiges zu erledigen. Er kleidete einen der Pfleger aus und zog sich dessen Hosen und Hemd über. Da der Mann von ziemlich robuster, speckiger Gestalt war, passten die Sachen ohne Probleme über seinen Anzug. Das brachte ihn auf eine Idee. Zwei Pfleger waren gekommen, zwei würden auch herausgehen. Der Junge war völlig begeistert, als ihm Tony andeutete, er solle sich die Kleidung des anderen Pflegers anziehen. Zwar würde die angesichts der Unförmigkeit des Jungen nicht richtig sitzen, obwohl auch dieser Pfleger die Figur eines alt gewordenen Catchers besaß, aber einem flüchtigen Blick mochte das nicht auffallen.

Mit beiden Händen griff der Junge nach der Hose des Pflegers und hob sie samt Inhalt in die Höhe. Ein Bundknopf platzte und kollerte über den Boden, und der Mann rutschte aus seinen Beinkleidern. Der Junge ließ sich klatschend auf den Hintern fallen und strampelte sich in die Hose hinein. Es sah ziemlich absurd aus, aber Tony erinnerte sich an eine kürzlich gesehene Gruppe von älteren US-Touristinnen, deren Hintern in engen Lastexhosen schlimmer ausgesehen hatten. Und die Hosen waren auch noch hellblau gewesen.

Die Methode des Ausziehens wurde auch beim Hemd angewandt. Der Mann, das stellte Tony mit Entsetzen fest, trug Boxershorts mit aufgedrucktem Pitbull-Motiv. Ob es Frauen gab, die so etwas scharf fanden? Und ob es Frauen waren, die Tony Tanner scharf gefunden hätte? Sollte sich unter Umständen gar die Anschaffung eines solchen Kleidungsstückes jenseits der gewohnten Baumwoll-Feinripp-Hüllen lohnen? Nein, Tony schüttelte energisch den Kopf und dachte an wasserstoffblondierte, durch Haarspray zementierte Dauerwellenköpfe, auf denen neckische Hütchen in Queensrosa balancierten, an ein muffiges Gemisch aus billigem Parfüm und dem Geruch nach Frittierfett und an schrille Stimmen, die sagten Nicht heute, Schatzimaus, heute geh’ ich doch mit Dorothy und Jenny zum Bingo. Die Strafe der Pit-Bull-Boxershorts-Träger lag in ihrem Erfolg.

Tony schleifte die beiden ohnmächtigen Pfleger in den hintersten Winkel des Toilettenraumes. Die beiden würden noch eine Weile ruhen und dann mit schmerzenden Schädeln aufwachen. Jedenfalls war es weniger, als sie verdient hatten, zumindest wenn man den Gerechtigkeitsmaßstab eines Tony Tanner zugrunde legte. Danach schritt er zusammen mit dem Jungen durch die Türen, verschloss sie und ging den langen Flur entlang. Das Gebäude war verwinkelt und auch die Erinnerung an seine Fahrt auf der Rollbahre half ihm nicht weiter. Zum Glück entdeckte er eine Tür, durch deren vergitterte Milchglasscheibe Tageslicht schimmerte. Er probierte die Schlüssel durch, verwechselte diejenigen, die er schon probiert hatte mit den anderen, und begann leise vor sich hinzufluchen, als er Schritte hinter sich hörte. Mit eingezogenem Nacken wartete Tony auf Alarmrufe, aber die Schritte eilten vorbei, ohne anzuhalten.

Natürlich hatte er den Schlüssel, der die Tür zu guter Letzt öffnete, schon drei Mal in der Hand gehabt, aber aus Nervosität nicht richtig in das Schloss gesteckt. Tony steckte die Nase heraus und peilte in die Gegend. Sie befanden sich an der Rückseite des Gebäudes. Kein Mensch war zu sehen, dafür erfreute ihn der bekannte Anblick des Asthaufens. Gemeinsam mit dem Jungen zerrte Tony den längsten Ast aus dem Haufen und brachte ihn zur Mauer.

 

Hinter den Fenstern des Klinikgebäudes war alles ruhig. Er war sicher, dass sich das bald ändern würde, denn der Junge begleitete sein Tun mit kehligen Begeisterungsrufen, und es war Tony unmöglich, ihm diesen Ausdruck von Freude zu verbieten.

Als der Ast sicher an der Mauer lag und um ein gutes Stück über die Eisenspitzen herausragte, begann Tony, an ihm hochzuklettern. Er war fast oben, als ihn ein heftiges Wackeln seiner Ersatzleiter fast abgleiten ließ. Er hatte es geahnt, und als er sich umblickte, sah er, dass es eingetreten war. Verbissen bemühte sich der Junge, hinter Tony herzuklettern. Unter seinem Gewicht brachen die Seitenäste ab und auch der Hauptast zerbarst und rutschte, ein gutes Stück kürzer geworden, zurück und in gefährliche Nähe der Eisendornen.

So schnell er konnte, kletterte Tony wieder nach unten. Der Junge sah es und machte den Weg frei. Unten gab es wieder ein längeres Händeschütteln und Gundach sagen. Es war vergeblich, dem Jungen erklären zu wollen, dass er hierbleiben müsse. Es wäre nicht einmal anständig gewesen, denn sein Anteil an der Flucht war nicht geringer als derjenige Tonys.

Tony ging zu dem Asthaufen und winkte den Jungen heran. Der kam, den Kopf in froher Erwartung vorgestreckt, angewalzt.

Händeschütteln, Gundach.

»Hier, schenke ich dir.« Tony hatte aus seiner Anzugtasche ein Feuerzeug geholt. Nichts Besonderes, aber auch nicht billig. Nein, eher doch ziemlich teuer, denn er trug es als Nichtraucher bei sich, um bei passender Gelegenheit seine Höflichkeit und Galanterie unter Beweis zu stellen, indem er anderen Personen Feuer zum Zwecke der Ausübung ihres Lasters gab. Und da wollte man, vor allem den Damen gegenüber, natürlich nicht mit so einem Billigding vom Wühltisch ankommen – Tony Tanner verschenkte, um diese Überlegung abzuschließen, einen Gegenwert von mehr als siebzig Pfund (zuzüglich Kosten für das Monogramm und die Gasfüllung), aber das war ihm die Sache wert.

Irgendwo klappte ein Fenster. Tony zeigte dem Jungen, wie man das Feuerzeug bediente und wie man Äste in Brand steckte. Schließlich gab er noch einen Kurzkurs im Brennende-Äste-Schleudern. Der Junge machte sich mit Begeisterung an dieses Werk. Er bemerkte die Alarmklingel nicht, aber Tony hörte das leise Geräusch, das aus dem Inneren des Gebäudes klang. Er rannte zu dem Ast, kletterte hoch und ließ sich auf der anderen Seite herunterfallen.

Er rutschte auf etwas Glitschigem aus. Das Kläffen zweier Möpse, die samt Frauchen an dem Grünstreifen standen, der an der Mauer entlanglief, brachte Tony zu Schlussfolgerungen über die organische Beschaffenheit der glitschigen Masse. Er rannte los, wie vom Teufel gejagt und hörte erst auf zu laufen, als er sich an einer stillen Straßenecke seines weißen Pflegerkostüms entledigte. Um der Wahrheit die Ehre zu geben: So ganz weiß waren die Klamotten stellenweise nicht mehr.

Fortsetzung folgt …