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Der Detektiv – Das Orakel des Gubdu-Steins – 4. Kapitel

Walter Kabel
Der Detektiv
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Harald Harst gegen Cecil Warbatty
Des berühmten Liebhaberdetektivs Abenteuer im Orient
Das Orakel des Gubdu-Steins

4. Kapitel

Die Katastrophe auf dem Goranna-Hügel

Harst behielt recht. Doktor Doogston befand sich zwar in tiefem hypnotischen Schlaf, antwortete jedoch lediglich auf Fragen, die außerhalb seiner verbrecherischen Tätigkeit lagen. So behauptete er zum Beispiel auch, einen James Palperlon überhaupt nicht zu kennen.

Harst gab diese Versuche, auf diese Art die ungeheuerliche Angelegenheit zu klären, bald auf, befahl dem mit geschlossenen Augen Dasitzenden nun lediglich, sich danach an dieses Zusammensein mit uns nicht mehr zu erinnern.

Wir kehrten darauf mit Doogston, ohne dass dieser geweckt wurde, in den oberen Keller des unbekannten Gebäudes zurück, schlossen leise die eiserne Tür auf und verschlossen sie wieder hinter uns. Wir standen nun in einem Kellervorraum, aus dem eine kurze Treppe auf einen Hof führte. Inzwischen war es Abend geworden. Der Hof lag in tiefem Dunkel da. Der wolkenbedeckte Himmel drohte mit einem Gewitter. Im Osten wetterleuchtete es. Das fahle Aufblitzen enthüllte uns die Einzelheiten des Hofraumes so weit, dass wir uns zurechtfinden konnten.

Doktor Doogston, der bisher teilnahmslos dagestanden hatte, wurde von Harst nun anbefohlen, nach zwei Minuten von selbst aus dem hypnotischen Zustand zu erwachen. Wir steckten ihm den Schlüssel der Eisentür in die Tasche, verließen den Hof durch eine Tür, die in einen Hausflur mündete und gelangten durch eine zweite auf die Straße.

Ich begriff Harsts Verhalten nicht recht. Wäre es nach mir gegangen, hätten wir Doogston mitgenommen und irgendwo in Sicherheit gebracht.

Harst besah sich das Haus von der Straße aus sehr genau. Es war ein neueres, zweistöckiges Backsteingebäude. Im Erdgeschoss lag ein Geschäft. Das große Firmenschild trug die Aufschrift Jonathan Purklay, Agenturen.

Dann rief Harst eines der leichten Ponywägelchen heran. Wir stiegen ein, nachdem Harst dem Lenker »Goranna-Hügel« zugerufen hatte.

Lahore mit seinen 200.000 Einwohnern ist wie viele andere indische Städte von einer dicken, hohen, uralten Backsteinmauer umgeben. Dreizehn Tore führen in die Ebene hinaus. Wir schlugen die Richtung nach Norden ein, hatten bald die Stadt hinter uns und jagten im Galopp eine breite Straße hinab, die zum Rawi-Fluss führte, wo eine eiserne Brücke gleichzeitig dem Eisenbahn- und dem sonstigen Verkehr dient. Am Nordufer des Rawi lenkte der Wagen nach Westen in einen Zypressenhain ab, hielt dann plötzlich. Trotz der späten Stunde waren hier noch zahlreiche Eingeborene unterwegs. Sehr schnell sollte ich hierfür eine Erklärung haben, denn Harst wandte sich nun zu Fuß einem nahen Felsenhügel zu, auf dessen flacher Kuppe das häufige Aufleuchten der fernen elektrischen Entladungen uns viele Hunderte von Indern in dicht gedrängten Scharen zeigte.

Harst flüsterte mir jetzt zu: »Der Goranna-Hügel dort beherbergte noch gestern eine der größten Merkwürdigkeiten Indiens, das sogenannte Orakel des Gubdu-Steins. Dieser pyramidenförmige Felskoloss gehörte zu den Wackelsteinen, das heißt, er stand mit der Spitze oben auf dem Hügel und reckte seine Grundfläche zum Himmel empor, ohne je das Gleichgewicht zu verlieren. Sein Schwerpunkt lag eben derart günstig, dass er sich von selbst in der Balance hielt. Ich habe mir dieses Wunder bei meiner früheren indischen Reise angesehen. Damals war er noch nicht abgestürzt, damals bemerktest du ihn von hier aus als mächtiges Granitstück, das wie ein kurzes, dickes Ausrufungszeichen über dem Hügel schwebte. Dieser Gubdu-Stein erhob sich nun dicht am Rand einer tiefen Felsspalte, in die die gläubigen Hindu, wenn sie das Orakel des Gubdu anrufen wollten, Opfergaben hineinwarfen. Wie tief die Spalte ist, weiß niemand. Seit Jahrhunderten wird sie von Priestern Tag und Nacht bewacht, die an ihrem Rand hocken und achtgeben, dass niemand den heiligen Ort entweiht. Angeblich verläuft die Felskluft bis zum Mittelpunkt der Erde, wo Gubdu, ein von Brahma aus den Reihen der Götter Ausgestoßener jetzt als Teufel haust. Mit dem Orakel hatte es folgende Bewandtnis. Der Stein antwortete auf die Fragen durch Schwankungen. Erfolgten diese von Nord nach Süd, bedeutete es Ja, während die von Ost nach West sich zeigenden als Nein galten. Tatsache ist, dass der Stein wirklich nicht nur bei starkem Wind wackelte, sondern auch bei unbewegter Luft, wenn ein Hindu eine Antwort erbat. Ich habe seiner Zeit gleich den Verdacht gehabt, dass hier ein schlauer Betrug vorliegt. Die Brahmanen (Priester) dürften an den Schwingungen des Gubdu nicht ganz unbeteiligt gewesen sein. Nun ist der Felskoloss, wie der Chinese uns mitteilte, abgestürzt. Ich möchte mir die Geschichte aus der Nähe ansehen. Ich habe nämlich so meine besondere Vermutung, was diese Katastrophe anbetrifft.«

Wir hatten inzwischen die Kappe des Hügels erreicht, drängten uns durch die Menschenmauer durch und erblickten nun den Stein, der so abgerutscht war, dass er wie ein Keil in der Felsspalte steckte, über die er nur wenig hinwegragte. Irgendetwas Merkwürdiges war an dem Anblick durchaus nicht. Es war nur etwas zu sehen, wenn die Lichtbündel des näherkommenden Gewitters den schwarzen Horizont mit ihren Zickzacklinien zu zerreißen schienen. Dann folgte auf die elektrischen Entladungen stets desto tiefere Finsternis. Die noch halb geblendeten Augen unterschieden die Menschen ringsum nur als dunkle Masse, in der nur hier und dort der weiße Leinenanzug eines Europäers heller schimmerte.

Als die ersten Tropfen zu fallen begannen und ein paar Donnerschläge von unerhörter Heftigkeit den Äther erzittern ließen, verlief sich die Menge schnell. Unweit von uns standen zwei baumlange Offiziere, dürr wie die Latten, und unterhielten sich sehr laut und ungeniert über die Ursache der Katastrophe. Ich merkte, dass Harst angestrengt lauschte. Dann trat er auf sie zu, flüsterte eine Weile mit ihnen und rief mich leise herbei, stellte mich den Herren mit meinem wirklichen Namen vor und fügte hinzu, indem er sich an den Älteren wandte: »Ich bin derselben Überzeugung, Herr Major. Nur eine Wurfbombe, die am Fuß des Felsens explodierte, kann diesen zum Abrutschen in die Felsspalte gebracht haben. Dass ein Sprengkörper benutzt worden ist, beweisen ja auch die zerfetzten Körper der gerade Wache haltenden Brahminen.« An mich das Wort richtend, erklärte er dann noch: »Die Katastrophe hat sich in der verflossenen Nacht ereignet. Man hörte hier auf dem Hügel einen starken Knall, eilte herbei und fand den Gubdu dort in der Kluft. Die Brahminen, die weit fortgeschleudert worden waren, musste man erst mühsam zusammensuchen. Sie waren sämtlich tot. Kein Zeuge ist also vorhanden, der etwas über das Ereignis angeben könnte, mit Ausnahme des Attentäters selbst. Dieser wird die Bombe aus sicherer Entfernung geworfen haben. Jedenfalls dürfte es zweckdienlich sein, wie ich auch schon dem Herrn Major Marconnay erklärte, die Felsspalte in aller Stille zu untersuchen. Grundlos hat man die Katastrophe nicht herbeigeführt.«

»Da sind wir ganz Ihrer Ansicht, Herr Harst,« erklärte der Major zuvorkommend. »Uns wird es ein Vergnügen sein, Ihnen zu helfen, diese Sache aufzuklären.«

»Zumal hier ein Verbrechen aus Gewinnsucht nach Ihrer Meinung vorliegt«, setzte der andere Offizier, ein Hauptmann namens Slooker, hinzu.

»Allerdings — Gewinnsucht!«, bestätigte Harst. »Es ist ja genugsam bekannt, dass seit Jahrhunderten überreiche Opfergaben dem Orakel des Gubdu-Steins gespendet wurden, indem die Ratsuchenden sie in die Felsspalte warfen. Man spricht von unermesslichen Werten, die der Schlund dort bergen soll …«

Der Regen fiel stärker. Der Hügel war nun leer. Wir suchten unter den Bäumen Schutz, während der Hauptmann den Kraftwagen, mit dem die Offiziere gekommen waren, zu der Militärstation Mian Mir schickte und Taue, Strickleitern, Stangen, Eisenhaken und Magnesiumfackeln holen ließ. Der Hauptmann brachte aus dem Auto eine Ölplane mit, die wir als Zelt aufbauten, sodass wir im Trockenen saßen.

Major Marconnay spendete uns Zigarren, und so hatten wir es trotz des Unwetters ganz gemütlich.

Harst war still und in sich gekehrt. Er hatte schnell noch die Kluft untersucht und festgestellt, dass man zu beiden Seiten des Granitkeils ganz bequem hinabgelangen konnte. Die Offiziere waren Feuer und Flamme für das Unternehmen. Der Hauptmann meinte, wenn der Anschlag auf den Gubdu aus Gewinnsucht verübt sei, müssten der oder die Verbrecher sich doch gleichfalls in die Felsspalte hinablassen, um die Schätze zu holen.

Diese Bemerkung gab Harst Gelegenheit, mit einem zweifelnden Hm sich in unser Gespräch wieder einzumischen und dann in seiner zuweilen so versonnenen Art zu erklären: »Die Herren kennen doch aus den Zeitungen fraglos den Namen Warbatty …«

»Natürlich! Genauso wie Ihren Namen, Master Harst«, meinte der Major.

»Ich habe bestimmte Verdachtsgründe dafür, dass Warbatty der Attentäter ist, also der Schuldige an dieser Gubdu-Katastrophe. Warbatty hat sich vor Kurzem noch in Amritsar aufgehalten, dürfte wahrscheinlich erst in der verflossenen Nacht mit einem Kraftwagen hier eingetroffen sein und sofort den Anschlag auf den Orakelstein verübt haben. Vor seinem Verschwinden aus Amritsar hat er jedenfalls noch eine Anzeige in die dortige englische Zeitung eingerückt, deren Wortlaut sich lediglich auf eine ihm sehr nahe stehende Person beziehen kann …«

»Seine Frau!«, warf der Hauptmann ein. »Er soll ja Doogston heißen. So las ich in unserem hiesigen Abendblatt gleichzeitig mit der Sie und Ihrem Freund betreffenden Bekanntmachung.«

»Ah — also hat Inspektor Blunk die Geschichte der armen Frau wirklich an die große Glocke gebracht!«, rief Harst empört. »Nun, Geschehenes ist nicht zu ändern. Jene Anzeige lautete folgendermaßen:

Die Dame, die sich über den Gubdu-Stein erkundigte, wird um Angabe gebeten, ob sie noch gewillt ist, das Bisherige unter anderen Voraussetzungen als erledigt zu betrachten. Nachricht erbeten in dieser Zeitung mit den Anfangsbuchstaben des Namens als Kennzeichen.

Sie kann nur an die Expedition der Zeitung gelangt sein, bevor dieses Attentat hier stattfand. Mithin wusste der, der sie veröffentlichen wollte, dass der Name Gubdu demnächst in aller Munde sein würde, und hoffte, dass auch seine Frau dadurch auf die Annonce aufmerksam werden und ihn als deren Urheber erkennen würde. Die ersten Sätze bis erkundigte dürften eine Irreführung sein. Dieser Wortlaut wurde eben von Doktor Doogston nur gewählt, um das Wort Gubdu unauffällig hineinbringen zu können. Der weitere Text ist wohl so auszulegen, dass Doogston-Warbatty von seiner Frau darüber Aufschluss haben möchte, ob sie ihm verzeihen könnte und mit ihm die Ehe fortsetzen möchte, wenn er seine Verbrecherlaufbahn unter anderen Voraussetzungen aufgibt. Doogston hat fraglos diese Anzeige veröffentlicht. Ihr Wortlaut passt zu gut zu den ganzen Verhältnissen. Hat er sie aber eingerückt, so ist er auch der Attentäter.«

Major Marconnays Stimme ließ sich nun mit dem Ton ungläubigen Staunens vernehmen. »Aber bester Master Harst, welch ein Widerspruch! Doogston gibt die Anzeige auf, in der er seiner Frau Besserung gelobt, und hinterher begeht er hier abermals ein Verbrechen, dem mehrere Leute — die Brahminen — zum Opfer fallen!«

»Nur ein scheinbarer Widerspruch, Herr Major. In der Seele dieses Mannes kämpfen zwei Mächte gegeneinander: die Liebe zu seiner Frau und hypnotischer Einfluss eines Dritten! Zuweilen überwindet diese Liebe die suggestive Kraft des eigentlichen Anstifters aller Schandtaten Warbattys. Dann aber ist die hypnotische Macht wieder stärker. So gewinnen wir von Doogston den Eindruck eines vollkommenen Seelenrätsels.«

»Hypnose — Suggestion!«, sagte der Major schnell. »Ja, ja, Master Harst, wer an diese Wunder und ihre Vielgestaltigkeit nicht glaubt, der soll nur hier nach Indien kommen. Hier, wo man die unerklärlichen Zauberkunststücke der Yogi oder Fakire bestaunt, die zumeist auf Massenhypnose beruhen, lernt man anders darüber denken.«

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