Heftroman der

Woche

Download-Tipp

Der Welt-Detektiv Band 6

Neueste Kommentare
Archive
Folgt uns auch auf

Allerhand Geister – Cʼest fini! – Teil 2

Allerhand Geister
Geschichten von Edmund Hoefer
Stuttgart. Verlag der I. G. Cotta’schen Buchhandlung. 1876

Cʼest fini! – Teil 2
Eine Erzählung aus dem Jahre 1773

2.

Das Paar war eine Weile still und im Zuschauen versunken, denn es war freilich ein sehenswertes Schauspiel, solch ein Ballfest in dieser Zeit der üppigsten und ausgelassensten Geselligkeit, voll Pracht und Farbenreichtum, voll kecker Galanterie und kokettem Spielen, voll funkelndem Geist und sprudelndem Witz, und vor allem voll einer sorglosen, nur dem Augenblick huldigenden Lust, wie man das alles später schwerlich wieder in einer Gesellschaft vereint finden konnte. Es war, als ob sie es ahnten, dass ihre Zeit und ihr Reich zu Ende ging. Sie wollten noch einmal leben, leben, solange es Tag war. Man muss es ihnen wohl zugestehen, dass sie es erreichten, nicht mit hässlicher Gier und in wildem Dahintoben, sondern mit der Grazie und Anmut, mit dem Raffinement des Vergnügens und des Genusses, welche diesen Generationen aufgeprägt waren und ihnen treu blieben bis in den Tod, bis zum Kerker und Blutgerüst.

Es war etwas Berauschendes in dieser Pracht des Samtes und der Seide, der Spitzen und Stickereien, in der hinreißenden Anmut dieser sanften und zugleich graziösen Bewegungen, dieser lächelnden Hingebung hier, diesem stolzen Werben da! Und dazu nun die Musik – grade diese! Denn die Geschichte dieses Tanzes ist ein Roman voll all des pikanten Reizes und des ganzen Parfüms der wunderlichen Zeit.

Am Abend des 11. Mai 1745 war im Hauptquartier des Marschalls Grafen Moritz von Sachsen Theatervorstellung für Ludwig XV. und seinen Hof, welche dem Feldherrn zum Anschauen seiner Siege gefolgt waren. Nach Beendigung des Stücks verkündigte eine Aktrice von der Bühne herab wie üblich die Vorstellung des folgenden Tages – der galante Kriegsheld verhieß seinen Gästen Die Schlacht von Fontenoy. Um den Jubel, der durch eine solche Ankündigung hervorgerufen wurde, noch zu erhöhen, folgte ein improvisierter Ball, und der letzte Tanz desselben bot eine neue Überraschung, denn es war ein Menuett, das ausdrücklich für diese Gelegenheit komponiert worden war. Die strahlenden Schönen des Hofes und die glänzenden Helden der Armee nahmen Abschied voneinander.

Einer der schönsten und stolzesten Offiziere der französischen Garde hatte seit langer Zeit vergeblich um die Gunst der anmutigsten Dame geworben; sie war unerbittlich geblieben. In dem letzten Tanz dieses Abends schmolz endlich ihre Strenge gegen den, im Stillen längst von ihr geliebten Mann:; sah sie doch vielleicht zum letzten Mal in seine flehenden Augen und vernahm zum letzten Mal die Schwüre seiner Liebe! Nach dem Abschied strömte das überwallende Gefühl des Beglückten in Versen aus, die man nach dem Sieg, mit seinem Herzblut getränkt, auf der Brust des Toten fand. Man entzifferte sie; der Rhythmus stimmte wundervoll zur Musik des letzten Tanzes. Der König selber war gerührt und entzückt. Der ganze Hof sang voll Begeisterung die leidenschaftlichen Worte und das Menuett von Fontenoy wurde an allen Höfen und in den glänzendsten Kreisen von Europa getanzt und gesungen und bezauberte alle Welt.

Das waren die Klänge, welche eben durch den lichtstrahlenden Saal zogen. Drangen auch hier vielleicht die sehnsuchtsvollen Bitten, die heißen Liebesschwüre, der jauchzende Dank leise, leise hinüber in ein zitterndes und – ach! – so schwaches und so glückliches Herz?

»Sehen Sie Ihre Magdalena – es ist ein Feenkind!«, sagte der Gouverneur und sein Blick folgte durch das Lorgnon den Bewegungen des Paares, welches, wie wir erfuhren, den ersten Platz in der nächsten Kolonne eingenommen hatte. »Die Vierte der Grazien! Man kann dem Baron diesen Einfall nicht verübeln. Und wenn man ihn selber daneben sieht – er hat sich superbe konserviert! Es ist das eleganteste Paar des Saals!«

Die Baronin spielte gleichgültig mit dem Fächer. »Er ist seltsam einsilbig über die Motive seines Rücktritts«, sprach sie nach einer Pause. »Alle Welt hat sich darüber den Kopf zerbrochen, schrieb mir Eigenwart. Können Sie mir Näheres sagen, Mansfeld? Die lange Abwesenheit hat mich überall fremd werden lassen.«

Der Gouverneur lächelte. »Ich beantworte Ihre Frage durch eine andere, Baronin«, versetzte er. »Niemand erwartete Sie so früh aus Italien zurück. War der Reisezweck erfüllt oder verlangten besondere Gründe diese Rückkehr?«

Sie schaute ihn mit einer Art von Erstaunen an. »Erklären Sie mir den Zusammenhang meiner und Ihrer Frage, Graf!«, sagte sie. »Sie machen mich neugierig. Geht hier denn etwas vor, das mich hätte zurückrufen können?«

Herr von Mansfeld zuckte die Achseln. »Wer weiß!«, erwiderte er. »Glauben könnte ich es beinahe, wenn ich an Mollenthins Rücktritt denke. Er hat von jeher einen wunderbaren Instinkt in Ansehung der Zukunft bewiesen.«

Frau von Eigenwart spielte noch immer mit ihrem Fächer, bequem zurückgelehnt in die weichen Polster des Sitzes. »Hat – Er sich endlich entschieden?«, fragte sie gedämpft, aber mit hörbarer Spannung.

Ihr Nachbar gab ihr in der äußeren Ruhe nichts nach. »Fragen Sie unseren Freund, Amélie, und nicht mich!«, versetzte er ebenso leise. »Er weiß besser Bescheid als einer und zumal als ich, der ich nur Soldat bin und vor all den Staatsaffären und Intrigen einen wahren Horreur habe. Und freilich«, fügte er freier hinzu, »wenn man anderthalb Jahre auswärts lebt, wie Sie – welch eine Zeit! Wie manchem wird sie fast endlos erschienen sein, Baronin!«

Ihr Blick streifte vorsichtig forschend über ihn hin. »Zum Beispiel – Ihnen, mein Herr Gouverneur?«, fragte sie spottend.

»Immer noch Misstrauen!«, entgegnete er vorwurfsvoll. »Glauben Sie doch, Amélie, dass ich ein Freund und treu bin! Und als Sie im Winter in jene Gefahr gerieten und erkrankten – Mollenthin erzählte davon, – war niemand teilnahmsvoller als ich! Wie war es eigentlich? Sie wurden angefallen und nur durch einen glücklichen Zufall gerettet?«

»Ja«, sagte sie plötzlich ernst, »es war ein entsetzliches Ereignis! Wir standen so ahnungslos, so ganz verloren in Entzücken über die wunderbare Aussicht – Magdalene jubelte uns stets von Neuem herbei, machte uns stets auf neue Schönheiten aufmerksam. Da plötzlich, ohne dass einer von uns ahnte woher, zwei Unholde zwischen uns – Mansfeld, Sie sahen nie so furchtbare Gesichter, so drohende Blicke! Mein Vetter von rauen Fäusten gepackt, Uhr und Börse ihm entrissen; wir beim ersten Laut mit dem Tode bedroht – diese Augen, Mansfeld, diese Augen! Wir waren halbtot vor Entsetzen! Die Diener unten beim Wagen,

der am Fuß des Hügels hielt – hätten sie uns auch gesehen, hätten wir sie auch rufen können – bis sie die steile Höhe erklommen hätten, wären wir verloren! Ich brach in die Knie. Die Angst um mein Kind ließ mich nicht ohnmächtig werden. Es war furchtbar.« Sie drückte die Hände vor die Augen.

»Und da kam der Retter?«

»Ja, Gott sei gepriesen! Auch er wieder stand plötzlich zwischen uns – ein blutjunger Mensch, zart fast wie ein Mädchen! Aber die zierliche Hand traf den einen Unhold wie ein Keulenschlag, dass er seitwärts taumelte. Der andere sprang mit gezücktem Stilett wie ein wildes Tier auf unseren Retter. Ich schrie hell auf. Mein Vetter riss den Degen heraus. Da stürzte der Angreifer schon wie vom Blitz getroffen zusammen. Die Kugel aus der Pistole des Fremden hatte ihn durch den Kopf getroffen. Sein Spießgeselle war verschwunden. Ich wurde ohnmächtig. Als ich erwachte, kamen unsere Diener keuchend den Berg herauf, der Fremde war davon geeilt, sie zu rufen. Wir sahen ihn nicht wieder.«

Mansfeld lächelte. »Seltsam! Vielleicht selber ein galanter Räuber!«

»Welch ein Einfall!«, rief die Baronin fast ein wenig wegwerfend. »Nein, ein Kavalier vom Kopf bis zu den Füßen, adlig in jedem Zug, jeder Bewegung! Mit dem Vetter hatte er ein paar Worte gewechselt – im reinsten Französisch.«

»Und völlig unbekannt? Völlig verschwunden?«

»Spurlos! Mein Vetter hat sich auf allen Gesandtschaften erkundigt, sogar an die Polizei gewendet – umsonst! Der Fremdenzug war, des nahen Karnevals wegen, ein außerordentlicher. Da verschwindet der Einzelne leicht. Das Gesicht kam mir allerdings bekannt vor. Aber, mein Gott, Mansfeld, wer sieht in solchem Augenblick und wer besinnt sich?«

Mittlerweile hatte das Menuett von Fontenoy sein Ende erreicht, die Musik schwieg, die Kolonnen lösten sich auf, die Paare trennten sich oder kehrten zu den Plätzen der Damen zurück. Der Saal, eben noch voll von den Klängen der Musik und dem eigentümlichen Geräusch, welches durch das Rauschen der schweren Stoffe und die Bewegungen all der leichten Füße hervorgerufen wird, war wie mit einem Schlag erfüllt von dem Summen und Schwirren, dem Lachen und Plaudern der sich durcheinandertreibenden heiteren Menge.

»Ich danke Ihnen, Magdalene, mein teures Kind!«, sagte der Baron Mollenthin, der seine Tänzerin zu ihrer Mutter zurückgeführt hatte, indem er die Hand des jungen Mädchens leicht an seine Lippen erhob und ihm fast zärtlich in die Augen blickte. »Sie haben mich so glücklich gemacht, als sei ich noch einmal zwanzig Jahre alt!« Und sich heiter zur Baronin und Mansfeld wendend, redete er weiter: »Ich gratuliere Ihnen, Baronin! Es ist die echte unverfälschte Schule im Tanz Ihres Kindes – jene Schule, die unsere jungen Strudelköpfe verlachen! Alles, was die Mutter vordem zur Königin unserer Feste machte und ihr alle Blicke zuwandte! Aber ich will Ihnen einen Vorschlag machen«, fuhr er fort. »Es ist unerträglich heiß hier. Ich werde die Gesellschaft bitten lassen, sich in den Nebenräumen zu zerstreuen, dass man ein wenig lüften könne. Brechen wir auf, wir werden schon ein Plätzchen zum Plaudern finden.«

»Und ich«, sprach der Gouverneur, der sich erhob, mit spöttischem Lächeln, »werde ein paar Augenblicke mich im Saal umsehen. Ich sah schon bestürzte Mienen, weil ich ihnen so fern blieb. Sie fürchten meine Ungnade. Ach, Baronin, Sie haben keine Ahnung von solchen Narrheiten! Ich komme Ihnen nach, sobald ich mich …«

»Hier, Herr Kamerad, finden Sie Seine Excellenz!«, sagte in diesem Augenblick Leopolds Stimme, der eine ganz in ihrer Nähe befindliche Seitentür aufstieß und einen anderen jungen Soldaten in der Uniform der sogenannten Ordonnanzoffiziere des Fürsten sich nachzog.

Der Genannte trat heran. »Ich bitte Eure Exzellenz und die Herrschaften um Entschuldigung«, sagte er mit flüchtiger Verbeugung und indem seine Augen mit blitzendem Blick über die ganze kleine Gruppe hinstreiften. »Persönlicher Befehl, Exzellenz, ohne Aufschub zu überbringen.« Er nahm aus einer kleinen Kuriertasche ein versiegeltes Schreiben und überreichte es dem Gouverneur.

»Sie haben auch noch mündliche Aufträge für mich, Allsleben?«, fragte Mansfeld, den Brief in der Hand wiegend. Auf die neue Verbeugung des Kuriers setzte er lächelnd hinzu: »Aber gibt es heute Abend hier auch ein Plätzchen für uns, Mollenthin? Es ist nur für ein paar Minuten.«

»Mein Kabinett steht ganz zu Ihrem Befehl«, versetzte der Hausherr artig. »Leopold, zeige Seiner Exzellenz den Weg und sorge dafür, dass die Herren nicht gestört werden.«

»Ohne Aufsehen, Leutnant!«, sprach der Gouverneur mit einem Lächeln. »Man wittert ja ohnehin schon immer Staatsaktionen und Staatsgeheimnisse! Also, meine Freunde, sobald ich frei bin, folge ich Ihnen!« Und die drei Herren verließen durch die Nebentür den Saal.

Man sah es an den lebhaft flüsternden Gruppen in der Nähe und an den forschenden Blicken, welche den Scheidenden folgten, dass die kleine Szene nicht ganz unbeachtet geblieben war.

Die Zurückbleibenden brachen nun gleichfalls auf, die Baronin am Arm Mollenthins, während die beiden jungen Mädchen, denn auch Eva hatte sich hinzugefunden, plaudernd vorausgingen. Man kam nicht rasch vorwärts, überall hatte man mit Bekannten ein paar Worte zu wechseln und erst in jenem, vom Gouverneur gepriesenen Kabinett, das aus einer Ampel von rotem Glase beleuchtet wurde, fand man sich wieder einsam – für die wenigen, denen man hier begegnete, genügte ein freundlicher Gruß im Vorübergehen.

»Bleiben wir hier oder gehen wir weiter?«. Fragte Mollenthin, indem er auf den anstoßenden, wieder blendend hellen Saal deutete, wo, wie wir gleichfalls erfuhren, Eva die Lorbeeren und Granaten, die Myrthen und Orangen, welche damals noch den Hauptinhalt der Treibhäuser bildeten, zu einer wirklich hübschen und zu dieser Zeit noch neuen Dekoration verwendet hatte.

Da sagte Magdalene, munterer als bisher, plötzlich: »O Mama, lassen Sie uns noch ein paar Schritte weiter gehen! Gleich hier nebenan ist eine Terrasse – Eva zeigte es mir heute Nachmittag – mit wunderhübscher Aussicht auf den Park …«

»Törichtes Kind, es ist ja Nacht!«, entgegnete die Mutter mit einem Lächeln auf den Lippen.

»O Mama, der Mond scheint und die Nacht ist warm und still!«

»Und dieser Einfall ist so poetisch«, sagte der Baron heiter, »und unsere schüchterne Taube lässt so selten einen Wunsch laut werden, dass es eine wahre Freude ist, einen solchen einmal zu vernehmen und erfüllen zu können. Kommen Sie, meine Damen!« Und leise fügte er, da die jungen Mädchen vorauseilten, gegen die Baronin hinzu – seine Stimme klang ganz eigentümlich bewegt: »Wir sind dort allein, hoffe ich, Amélie, und ich möchte mit Ihnen über etwas reden.«

»Wie ich mit Ihnen«, gab sie, ebenfalls in auffällig nachdenklichem Ton zur Antwort.

Magdalene hatte nicht zu viel gesagt: Der Platz verdiente selbst zu dieser Stunde aufgesucht zu werden, ja ließ seine Reize vielleicht tiefer empfinden als zu irgendeiner anderen Zeit.

An der ganzen Rückseite des alten Hauses entlang, wo die großen, wie wir sagten, schon vom Vater des Barons gepflegten Gartenanlagen sich ausbreiteten, war neuerdings eine breite und verhältnismäßig hohe Terrasse angelegt worden, welche sich, um einen Ausdruck der heutigen Zeit zu wählen, verandaartig von einem leichten Gitterwerk überwölbt und von üppig emporgewuchertem wilden Wein und Geißblatt beschattet zeigte. So gewährte sie zu jeder Tageszeit einen angenehmen Aufenthalt, überall fanden sich die behaglichsten Plätze zum Ruhen und Träumen, und der Ausblick war allerwärts ein wechselvoller und anziehender, hin und wieder sogar ein überraschender.

Das erfuhr auch die kleine Gesellschaft, welche nun an das Steingeländer vortrat und sich umzuschauen begann. Es war eine wonnevolle Nacht, vielleicht nur für die, welche nach Erfrischung verlangten, fast ein wenig zu warm und zu still. Der weite Himmel spannte sich in jener wunderbaren, kaum näher zu bestimmenden Färbung der deutschen Sommernacht. Die Sterne überglänzten das dunkle Gewölbe mit ihrem ruhigen Silberlicht; die hell strahlende Venus stand noch am westlichen Horizont und der volle Mond kam eben zwischen den Kronen der alten Bäume hervor, welche sich hinter den modernen Anlagen erhoben und mit stiller Majestät auf das Menschenwerk herabschauten. Das sanfte Licht legte und schmiegte sich mit wunderbarer Weichheit an den Buchenhecken und Taxuswänden entlang, es ruhte auf den sauberen Kieswegen und träumte auf den kleinen Rasenplätzen und Blumenrabatten; die Nymphe im Bassin küsste es und glitzerte in den auf- und abrauschenden Wassern; dort blickte es neugierig in ein einsames Berceau hinein und erfüllte den schattigen Gang weithin mit leiser, magischer Dämmerung. Da drüben, am Rand des Gebüsches, erschien plötzlich ein schlankes weißes Steinbild und gleich darauf trat in einiger Entfernung ein anderes hervor und grüßte zu dem ersten hinüber – sehnsuchtsvoll, konnte man fast glauben. Sie standen einander so nahe und blieben dennoch immerdar geschieden!

Und weiter schweifte der Blick, dort hinaus, wo Buschgruppen sich dichter aneinanderschlossen, wo die breite Allee sich in die Ferne zog, sichtbar von Stamm zu Stamm, bis alles endlich leise in Duft und Dämmer zerfloss. Oder da, wo es aus dem tiefen Schatten hervor wunderbar aufdämmerte, als wolle der Mond euch den stillen, einsamen Pfad nur zeigen, der sich hineinschmiegte in die stillsten Gehege, und euch einladen in seinen geheimnisvollen Frieden, wo es sich so köstlich wandelt und flüstert, träumt und kost, an der Seite eines geliebten anderen!

Und hie und da jubelte und schluchzte aus den Gebüschen herüber noch die Nachtigall. Ein schwerer Nachtfalter schwebte geisterhaft, kaum sichtbar vorüber. Und über alles breitete sich ein üppiger, wunderbarer, berauschender Duft. Denn der Frühling war schöner gewesen als viele andere, und es war dort unten am Fuß der Terrasse und auf den Plätzen zwischen den Hecken und Berceaus und um das Bassin herum alles voll von überreich blühenden Rosen.

»Wie wonnig schön!«, murmelte Magdalene und presste den Arm der Freundin an ihre Brust.

»Ja – wunderbar! Ich danke dir, Magdalene«, flüsterte Eva bewegt zurück. »Wir hätten dies alles, wie immer auch heute verloren, ohne dich … all dies … all dies Unaussprechliche!«

»Ja – geisterhaft!«, sagte eben auch die Baronin zu ihrem Begleiter. »Magdalene hatte recht, uns diesen Anblick zu preisen. Man träumt sich nach Italien!«

Mollenthin gab mit gleichfalls gedämpfter, wieder wie vorhin von Bewegung durchlebter Stimme zur Antwort: »Möchte es die Heimat des Engelkindes sein!«

Das seltsame Wort schien die Dame sehr zu überraschen. Sie blieb stehen und machte eine Bewegung, als ob sie sich vom Arm ihres Begleiters trennen wolle.

Aber er ließ sie nicht frei, sondern zog sie weiter, die Terrasse entlang, und redete zu ihr – wer kann sagen, was? Denn es war so leise, dass die Mädchen, welche noch am Geländer standen, auch nicht eine Silbe vernahmen. Von der Baronin wurde gleichfalls nichts hörbar, sie schien auf Mollenthins Reden keine Antwort zu haben.

Das Schweigen der Nacht war so feierlich, dass sicherlich auch niemand es durch ein lauteres Wort gestört haben mochte. Es regte sich keine Ranke und kein Blatt, nicht der leiseste Hauch war zu spüren; und wie man auch horchte, nur die Nachtigallen schlugen, hin und wieder drang aus den inneren Räumen des Hauses das Summen und Schwirren der Gesellschaft gedämpft herüber.

Da, mit einem Mal kam ein langer, weicher und schwermütiger Ton durch die Stille daher – war es von unten, von fern aus dem Park, war es von der Seite, wo die Veranda sich noch weit hinzog, fast ganz dunkel unter dem Laubgewölbe, oder war es von oben, aus der von zitterndem Licht erfüllten Höhe, die Klage der Geister, die hier unten nicht mehr daheim, da oben keine Ruhe fanden? Sie standen wie gebannt, lauschend mit allen Sinnen, wortlos und das Herz stockte – was war das? Was konnte das sein?

Der Ton kam noch einmal wieder, ebenso lang, ebenso sanft, ebenso schwermütig! Dann schwebte er zum dritten Mal heran. Nun schloss sich ein anderer an ihn und noch einer, es kamen immer mehrere und fügten sich zusammen. Sie verschlangen sich und klangen fort, eine wunderbare Harmonie, voll schlichter Hoheit, hoch hinaus über allen Erdenstaub, und den noch voll von allen Tränen der Erde, voll schluchzender Klage und doch zugleich voll seligen Entzückens – so, wie es nur der Seele der großen alten italienischen Meister entquoll.

Es war eine Geige, die da klagte und jubelte, ein prachtvolles Instrument, wie es vielleicht nirgends in deutschen Landen seinesgleichen gab. Und auch der sie spielte, war den Besten ebenbürtig. Er hatte das Instrument zum Leben erweckt, dass es sang wie mit menschlicher Stimme. Hoch oben im südlichen Turm brach ein mattes Licht aus einem geöffneten Fenster. Von dort schwebten die Töne herab.

»Gustav! Es kann nur Gustav sein!«, murmelte Eva. Ihre Stimme klang tief aus der Brust heraus.

»Ich höre es!«, sprach ihr Vater in grollendem Ton. Die sonst so glatte Stirn war voller dichter Falten.

»Also er ist hier, und zwar, wie es scheint, vollends zum Narren geworden! Sie wissen, dass ich von meinem zweiten Sohn rede«, fuhr er zu Frau von Eigenwart gewendet gleich unmutig fort. »Ein Mensch, der mir nichts als Sorge und Verdruss macht. Er war seit zwei Jahren mit seinem Führer auf einer Rundreise an die Höfe. Ich hoffte das Beste. Er sollte aufleben, Geschmack finden an der Gesellschaft, sich bilden, sich bewegen lernen. Und da ist er, wie ein Dieb in der Nacht, ohne einen Gruß für uns! Herzlos und taktlos! Ich werde endlich ein entschiedenes Wort mit ihm zu sprechen haben.«

»Wobei ich zugegen sein möchte«, sagte die Dame scherzend. »Die Anwesenheit einer Fürstin – Sie schworen mir oft genug, dass ich für Ihr Herz eine solche sei – pardoniert jeden Verbrecher. Solch ein Talent aber pardoniert sich auch selber. Und dass er sich Ihnen noch nicht zeigte – mögen Sie Ihre Geliebten im Trouble eines Festes begrüßen? Gehen Sie, gehen Sie, Baron! Ihre Eva ist viel vernünftiger als Sie – sie ist fort. Ruft sie ihn zu uns? Es wäre reizend! Ich liebe es, den Männern von Genie ins Auge zu sehen. Es erhebt mich. Und jetzt bin ich auch noch neugierig«, fügte sie nachdenklich hinzu. »Ich hörte diese Geige schon – auf unserer Reise.«

Der Baron zuckte die Achseln. »Der ein Genie! Bah! Ein Träumer, ein Phantast, zugleich eigensinnig und blöde wie ein Kind! Aber lassen wir den Thoren, Amélie«, setzte er abbrechend hinzu. »Mein Herz ist so voll, ich muss weiter reden, und Sie … Sie müssen mir ein Wort …«

Es wurde plötzlich laut hinter ihnen. Die Tür des Gartensaales sprang auf, der Gouverneur trat die Stufen herab, gefolgt von einer bunten, fröhlichen Menge.

»Ah – sagte ich es Ihnen nicht?« rief er heiter. Als der Mondschein voll sein Gesicht traf, sah man es, dass er mit raschem, durchdringendem Blick den ganzen dämmerigen Raum musterte. »Da finden wir sie – einsam unter den Sternen der Nacht! Auch Sie hier, mein schönes Kind?«, fügte er hinzu, als er die herantretende Magdalene erkannte. Noch ein paar Schritte vortretend bis an den Rand, fuhr er fort: »Ein entzückendes Nachtbild, in der Tat! Hätten Sie uns nur früher auf diesen Genuss aufmerksam gemacht!«

Die Terrasse füllte sich, alles war voll munterer Gruppen, voll Scherzens und Lachens, hin und wieder stiegen sie auch die schön geschwungenen Treppen hinab und zogen dahin auf den vom Mond beleuchteten Wegen. Die Nacht war noch gleich schön, aber der Friede war entwichen und die Stille. Die Geige schwieg schon lange, und hinter dem Fenster war es dunkel geworden.

Für den Kreis unserer näheren Bekannten war, den Gouverneur abgerechnet, die Heiterkeit in einem Grad verloren gegangen, dass es bei dem einen der langen diplomatischen Schulung und bei der anderen der ganzen gesellschaftlichen Gewöhnung bedurfte, um eine unverfängliche Haltung zu erzwingen und nicht alle Welt aufmerksam zu machen.

Einander verbargen sie ihr Inneres zumindest nicht ganz. Als der Baron seine Gäste nach einer Weile aufforderte, in den nunmehr gelüfteten Saal zurückzukehren, und selber Frau von Eigenwart voranführte, sagte sie nach einem vorsichtigen Blick auf die Folgenden, rasch und leise: »Sie wollen eine Antwort von mir, Baron. Ich kann sie nicht geben. Sie haben mich ganz betäubt. Ich muss nachdenken, mich fassen. Jedenfalls drängt jetzt Wichtigeres. Seien Sie ehrlich und offen, Friedrich, fällt Ihnen an Mansfeld nichts auf? Trauen Sie ihm?«

Der Baron nahm sich sichtbar zusammen, aber er schaute finster. »Ganz offen – nein, Amalie, und ich hoffe, Eigenwart denkt ebenso«, versetzte er nach einer Pause, so leise wie sie.

Später, im Saal, streifte in einer Tanzpause Leopold an seinem Vater vorüber. »Papa, seien Sie auf der Hut!«, flüsterte er.

»Wieso? Was fällt dir ein?«, fragte Mollenthin kurz, als sei er über die plötzliche Störung verdrießlich.

»Es geht etwas vor. Seiner Exzellenz Ton gefällt mir nicht. Und Allsleben war kühl und reserviert wie eine Vestalin.« Das Gesicht des Offiziers lachte zu den seltsamen Worten, als ob es die lustigsten wären. »Ich muss weiter. Man achtet auf uns.«

Und noch später – es war schon nach dem glänzenden Souper – hängte sich Eva mit ungewöhnlicher Zutraulichkeit an den Arm des gegen seine Kinder zurückhaltenden und kalten Vaters. »Ich war bei Gustav, Papa«, sprach auch sie schnell und leise. »Er ist in Verzweiflung, Sie nicht sehen zu können. Er war in der Residenz und vernahm dort Dinge, die ihn, wie er sagt, auf den Flügeln des Windes zu uns hertrieben. Er fleht Sie um eine Unterredung an, sobald es unbeachtet möglich wäre. Er weiß von Allslebens Sendung … es sei Gefahr …«

Mollenthin lächelte verächtlich. »Eine Warnung vom Träumer?«, bemerkte er. »Nun gottlob, das gerade beruhigt mich recht sehr. Genug, mein Kind. Sei heiter – es ist nichts. Wenn du kannst, so lasse ihm sagen, dass er ausschlafen solle. Beim Frühstück werde ich ihn sehen.«

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert