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Der Detektiv – Das Orakel des Gubdu-Steins – 3. Kapitel

Walter Kabel
Der Detektiv
Kriminalerzählungen, Verlag moderner Lektüre GmbH, Berlin, 1920
Harald Harst gegen Cecil Warbatty
Des berühmten Liebhaberdetektivs Abenteuer im Orient
Das Orakel des Gubdu-Steins

3. Kapitel

Im unterirdischen Lahore

Es gab hier tatsächlich einen engen Gang, der vom Brunnen in ein langgestrecktes Gewölbe führte. Harst hatte seine Taschenlampe stets bei sich. Wir fanden uns also sehr leicht zurecht, suchten dann aber umsonst in dem alten Kanalisationsarm nach Laternen, stellten nur fest, dass das Gewölbe rechts und links durch Einsturz völlig zugeschüttet war, sodass wir auf einen Raum von etwa sechzig Meter Länge und vier Meter Breite und Höhe angewiesen waren.

»Der Schuft hat gelogen«, erklärte Harst ganz unvermittelt. »Hier gibt es keine Laternen. Er hat uns hier hinab geschickt, um uns ganz sicher einzusperren. Diese gelbe Brut ist hinterlistiger als eine betrogene Frau! Hinaus können wir nicht mehr. Die Leiter hat er hochgezogen …«

Er sprach ohne besondere Erregung und ließ den Lichtschein hin und her huschen. »Begib dich jetzt zum Loch in der Brunnenwand zurück, mein Alter«, sagte er nach kurzer Pause. »Drohe jeden zu erschießen, der sich in den Brunnen hinabwagt. Wir dürfen uns auf keinen Fall einsperren lassen. Es steht zu viel auf dem Spiel: Das Eheglück einer armen Frau, der ich mein Wort gab, ihren Mann vor den Schergen zu retten. Geh, ich will derweilen mich hier genauer umschauen. Es müsste doch sehr sonderbar sein, wenn dieser gelbe Fettwanst dieses Gewölbe nicht für irgendwelche dunklen Geschäfte benutzt. Ein Chinese, der nicht mindestens im Nebenberuf Hehler ist, wäre eine Rarität.«

Ich bezog meinen Posten im Loch der Brunnenwand. Ein Meter unter mir lagen Müll und Abfälle. Geradezu atemberaubender Gestank stieg mir daraus in die Nase. Ich hatte noch keine fünf Minuten lang ausgestreckt dagelegen, als ich auch schon über mir Stimmen hörte. Dann wurde die Leiter herabgelassen. Schnell schob ich mich noch weiter vor, reckte den Kopf und brüllte den drei uniformierten Beamten oben zu: »Wir schießen, sobald sich auch nur ein Bein auf der Leiter zeigt!«

Da zupfte Harst mich von hinten am Stiefel.

»Das genügt«, meinte er. »Komm nur. Ich habe des Dicken Geheimnis schon entdeckt.«

Ich beeilte mich, kroch rückwärts, denn der Gang war hier höchstens halbmannshoch. Ich war im Gewölbe und sah Harsts Lampe eine Stelle der Mauer des Kanalisationsarmes beleuchten, die auf den ersten Blick gar nichts Ausfälliges an sich hatte.

Harst klopfte mir auf die Schulter. »Etwas höher, lieber Alter. Da steckt das Geheimnis.«

Gleichzeitig klomm er, sich in den Mauerfugen bequeme Stützpunkte für Füße und Hände suchend, an der Mauer hoch und drückte nun einen Teil des Mauerwerks dicht unter der Decke nach hinten auf. Es war dies lediglich eine viereckige Brettertür von Quadratmetergröße, die man sehr geschickt mauerähnlich angepinselt hatte.

Diese Pforte bildete den Zugang zu einer steil in die Tiefe laufenden, noch sehr gut erhaltenen Steintreppe, die in einen gemauerten Schacht eingeführt war. Harst hatte die Geheimtür wieder zugedrückt und begann die Treppe hinabzusteigen.

»Die Luft hier ist so rein, dass wir sehr bald einen zweiten Ausgang finden werden«, meinte er gutgelaunt. Wir waren dann etwa zwanzig Stufen tiefer gelangt, als sich vor uns in dem Schacht eine bogenförmige Öffnung zeigte, in der noch Reste von zierlichen Gitterstäben steckten.

»Ah, dies ist ein Turm der alten, jetzt verschütteten Residenz«, sagte Harst. »Der Turm muss zu einem Schloss gehört haben. Sieh, die Gitter sind stark vergoldet, mein Alter.« Er leuchtete die Treppe tiefer hinab. »Schutt, nichts als Schutt dort unten. Also muss dieses Fenster hier die Fortsetzung des Weges sein.« Er beugte sich durch die Öffnung weit vor, streckte den Arm mit der Taschenlampe aus und ließ den weißen Lichtkegel in die Dunkelheit hineinfallen. Ich stand neben ihm. Gleichzeitig stießen wir einen Laut ungläubigen Staunens aus.

Denn dort jenseits des Bogenfensters enthüllte der strahlende Lichtschein uns einen uralten Marmorprunksaal, an dessen Wänden noch allerlei merkwürdige Einrichtungsgegenstände zu bemerken waren, während von der Decke noch drei riesige, geschweifte Kronleuchter mit flachen Öllampen herabhingen.

»Also doch kein Turm dies hier!«, meinte Harst, »sondern das Treppenhaus eines Palastes, der in einer Bodensenkung gestanden haben muss, sonst könnte der Kanalisationsarm nicht in gleicher Höhe mit diesem Saal liegen. Fürwahr, das unterirdische Lahore scheint auch seine interessanten Seiten zu haben.«

Wir kletterten in den Saal hinab, dessen Fliesenboden noch tadellos erhalten war, durchquerten ihn, sahen, dass die anderen Fenster von außen durch Schutt und Erde völlig verrammelt und zum Teil eingedrückt waren, fanden dann jedoch eine Türöffnung, die in einen Gang mündete, der mit zum ehemaligen Palast gehören musste.

Gleich darauf hatte Harst eine Leiter erspäht, die uns in den Kellerraum eines offenbar neueren Gebäudes brachte, der bis obenan mit Kisten gefüllt war. Bei einigen Kisten waren die Deckel lose. Wir überzeugten uns, dass sie Teile von Maschinen und Motoren enthielten.

»Ah, also ein Schmugglerlager!«, meinte Harst. »Auf Maschinen liegt hier ein sehr hoher Einfuhrzoll. Unser schuftiger Chinese gibt sich also mit Schmuggel ab. Sehen wir, wohin wir weiter gelangen.«

Auch hier fanden wir eine gut versteckte Falltür in der Decke, kamen in einen zweiten, höheren Keller, in dem allerlei Warenballen lagen, und endlich vor eine verschlossene, eiserne Tür, die jeder Gewaltanwendung gespottet hätte.

Harst donnerte mit der Faust und den Stiefelabsätzen dagegen. Sehr bald wurde ein Schlüssel von der anderen Seite ins Schloss geführt. Die Tür ging auf und eine Stimme fragte aus dem Dunkel vor uns heraus: »Was gibt es, Mi Kao?«

Harst schaltete seine Lampe plötzlich wieder ein. Vor der Tür stand ein europäisch gekleideter, kleiner Hindu mit graumeliertem Vollbart.

Es war Doktor Reginald Doogston alias Cecil Warbatty.

Harst und ich waren gleich sprachlos. Nicht minder aber war es unser alter Gegner, der nun erst zwei Gestalten erkannte. Doch er hatte im Moment seine Geistesgegenwart wiedergewonnen. Blitzschnell – schneller, als wir dachten – hatte er einen Revolver in der Rechten und zischte uns an: »Wer seid Ihr? Etwa Polizeibeamte? Dann macht nur getrost Euer Testament, Ihr Schnüffler!« Er wollte die eiserne Tür zuschlagen. Wollte.

Harsts Taschenlampe erlosch. Ich hörte einen Fluch, den dumpfen Fall eines Körpers.

Harst hatte sich tief gebückt vorgeschnellt und Doktor Doogston einfach überrannt.

Es blieb uns dann nichts anderes übrig, als ihn zu fesseln. Er wehrte sich wie ein Verzweifelter. Unsere Taschentücher genügten, ihm die Hände auf dem Rücken zu fesseln. Wir zwangen ihn dann, uns bis in den Saal des verschütteten Palastes zu folgen, nachdem wir die eiserne Tür von innen abgeschlossen und den Schlüssel hatten stecken lassen.

In dem Saal musste Doogston sich auf eine prunkvolle Ebenholzbank setzen. Wir standen vor ihm. Harst beleuchtete sein Gesicht und sagte ernsten Tones: »Doktor Doogston, ein eigentümlicher Zufall hat uns hier wieder zusammengeführt …«

»Warbatty« war bei dieser Anrede mit seinem wahren Namen merklich zusammengezuckt. Nun verzog sein Gesicht sich zu jenem höhnisch überlegenen Grinsen, das wir bereits an ihm kannten. Ebenso anmaßend und ironisch war das, was er als Erwiderung bereit hatte.

»Schau an, meine Freunde Harst und Schraut! Sehr erfreut über dieses Wiedersehen – sehr! Tatsächlich! In Amritsar nahmen wir etwas kurzen Abschied voneinander, Master Harst. Meine Frau wird–es wohl gewesen sein, die das elektrische Licht rechtzeitig versagen ließ.«

»Doktor Doogston«, meinte Harst in freundlich-überredender Weise, »Ihre Gattin hat mich gebeten, ich möchte Ihnen, falls wir uns treffen sollten, folgendes …«

Doogstons heiseres Hohngelächter schnitt ihm jedes weitere Wort ab. »Meine Frau? Meine Frau mit Ihnen im Bunde? Halten Sie mich für so beschränkt dass ich …«

Harst hatte ihm plötzlich die Taschenlampe dicht vor die Augen gehalten, folgte dem bis an die Wand zurückweichenden Kopf, legte Doogston nun die Linke flach auf die Stirn und sagte zu dem mit halb zugekniffenen Augen Dasitzenden: »Doktor Doogston, mein Wille ist stärker als der Ihre. Sie … werden … gehorchen. Sie … werden … jetzt sofort einschlafen, … ganz fest einschlafen …« Er sprach kurz und abgehackt. »Rühren … Sie sich … nicht mehr … Sie werden … müde. Schließen Sie … die Augen. Sie fühlen … eine Schwere in allen … Gliedern …«

Man merkte es an dem nervösen Jucken in Doogstons Gesicht, wie krampfhaft er sich gegen diese Beeinflussung wehrte.

»Die Schwere … nimmt zu. Sie sollen … schlafen, sollen … an nichts denken …«

Doogstons Lider sanken tiefer. Sein Antlitz entspannte sich gleichsam, wurde schlaff und verlor jeden Ausdruck. Noch hatte Harst jedoch nicht völlig gesiegt. Es dauerte noch mehrere Minuten, bevor Harst sich aufrichtete und tief Atem holend mir zuflüsterte: »Ein weiterer Beweis, dass er unschuldig ist. Die Hypnose war schwer zu erreichen. Es hat mich die Anspannung all meiner Willenskraft gekostet, den Einfluss des Dritten zu überwinden.« Er lehnte sich erschöpft an die Marmormauer. »Ich muss etwas ausruhen. Dann folgt das Weitere. Begreifst du nun, weshalb diese abgrundtiefe Verschiedenheit in Doogstons Wesensart sich eingenistet hatte?«

Ich hatte die Szene vorhin mit vor Spannung jagendem Herzen verfolgt, hatte jede Einzelheit der allmählichen Willensunterjochung dieses seltsamen Mannes genau beobachtet. Sofort war da in mir die Erinnerung an unser Abenteuer in Nagpur aufgetaucht. Damals hatte Warbatty in der Rolle des Freundes des schmutzigen Fakirs es auf die Beraubung des Juwelenhändlers abgesehen, dessen Tochter den Vater in der Hypnose bestahl.

Hypnose! Ja, das erklärte am leichtesten Reginald Doogstons Doppelnatur! Und so erwiderte ich Harst denn: »Im Bremsertürmchen sprachst du von fremden Einflüssen. Du meintest Suggestion.«

Er nickte nur zustimmend.

»Dazu gehören zwei, Herr und Knecht sozusagen«, fuhr ich fort. »Wer ist der Herr, wer ist der, dem Frau Elizabet das große Leid ihres Lebens zu danken hat?«

Harst drückte meinen Arm. »Denke nach, mein Alter!« Seine Stimme bebte vor verhaltener Erregung. »Denk an Frau Doogstons … anderen Bewerber, … an den, der sie vor Reginald Doogston als einem dem Wahnsinn Verfallenen warnte!«

Ich stand sekundenlang regungslos. Was alles hatte sich urplötzlich wie eine Fernsicht über ungeheure Schändlichkeiten vor mir aufgetan.

»Eifersucht … Rache … der andere Freier … James Palperlon!«, stotterte ich flüsternd.

»Ja … James Palperlon!«, bestätigte Harst. »Oh … dass ich das nicht früher geahnt habe! Wie sollte ich aber auch vermuten, dass Warbatty nur eine willenlose Maschine war, nur das Werkzeug eines wahren Satans in Menschengestalt! Nicht Warbattys Hirn entsprang die Genialität seiner verbrecherischen Anschläge, nicht er mordete kaltblütig, nicht er verhöhnte uns und achtete sein eigenes Leben für nichts: All das tat er, während sein wahres Ich gefesselt war durch den stärkeren Willen dessen, der sich stets so schlau im Verborgenen hielt, dass wir nie etwas von diesem Dritten merkten –nie! Und doch muss er stets in der Nähe gewesen, stets Warbatty von Stadt zu Stadt gefolgt oder vorausgeeilt sein, muss stets mit ihm persönlich in Berührung gekommen sein! Wenn du dir dies klarmachst, dann wirst du dir sofort sagen, welche teuflische Schlauheit in diesem Palperlon steckt. Bedenke: Nirgends bisher spürten wir auch nur das Geringste von diesem Menschen. Erst in Amritsar brachte mich Frau Doogstons Bemerkung über ihren zweiten Bewerber auf den Gedanken, dass dieser aus verschmähter Liebe einen Racheplan gegen das ihm verhasste Ehepaar ersonnen haben könnte, wie er nur von einem jeden menschlichen Gefühls baren Ungeheuer in solcher Bestialität ausgeklügelt werden kann! Denn dieser Palperlon hatte es nicht etwa darauf allein abgesehen, Doogston an den Galgen zu bringen, nein, langsam wollte er auch die arme Frau durch die wachsende Erkenntnis, ihr Mann sei ein vielfacher Mörder, zu Tode foltern – ganz langsam! Jahre sollte diese Tortur dauern, recht viele Jahre. Und so ist es ja auch gewesen, wie die Lebensgeschichte, die Geschichte der Ehe Elizabet Doogstons uns zeigt! Dieser Palperlon hat sich gerächt, wie es noch nie einem Menschen in den Sinn kam. Dieser Mann ist in Wirklichkeit unser Gegner gewesen, der hinter den Kulissen hohnlachend den Kampf zwischen uns und Warbatty mit ansah.« Harst schwieg, holte mehrmals tief Atem, fügte ruhiger hinzu: »Frau Doogston sagte mir, als ich sie heute Vormittag heimbrachte, dass Palperlon mehrfacher Millionär ist und aus Liebhaberei chemische und medizinische Studien betreibt. Das erklärt vieles, so besonders seine Fähigkeit, es in der Willensbeeinflussung fremder Personen bis zu einem so hohen Grad von Vollkommenheit gebracht zu haben. Ich fürchte, ich werde bei Doktor Doogston deshalb auch nichts weiter ausrichten als das eine, dass er auf Befehl über dieses Zusammentreffen mit uns schweigt. Alles Übrige, was Palperlon angeht, wird nicht über seine Lippen dringen, da dieser ihm natürlich ein völliges Versagen des Gedächtnisses anbefohlen haben wird.«

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