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Der Hexer GK 567

Robert Craven (Wolfgang Hohlbein)
Der Hexer
Als der Meister starb

Horror, Grusel, Heftroman, Bastei Verlag, Bergisch-Gladbach, 24. Juli 1984, 64 Seiten, 1,60 DM, Titelbild: Les Edwards
Erschienen als Gespenster-Krimi Nr. 567

Das Wesen richtete sich mühsam auf, von einem unheiligen Zauber geweckt. Jahrtausende hatte der Gigant geschlafen; hier unten, auf dem finsteren, sandigen Grund des Meeres. Mit noch schwerfälligen, doch ungeheuer kraftvollen Bewegungen strebte er nun dem Licht entgegen. Schon spürte er die Nähe seines Opfers. Und wenige Augenblicke später sah er die dunkle Silhouette des Schiffes über sich …

Leseprobe

Das Meer war glatt wie ein Spiegel. Während der letzten beiden Stunden war Nebel aufgekommen, und im gleichen Maße, in dem sich die grauen Schwaden zuerst zu wogenden Wolkengebilden und dann zu schweren, träge wie Rauch auf der Wasseroberfläche liegenden Bänken verdichtet hatten, hatte sich das Meer geglättet. Die Wellen waren flacher geworden, und das rhythmische dumpfe Klatschen, das die Fahrt der LADY OF THE MIST, der »Herrin des Nebels«, während der letzten vierunddreißig Tage wie ein monotoner Chor begleitet hatte, war leiser geworden und schließlich ganz verstummt.

Jetzt lag das Schiff ohne Fahrt auf der Stelle. Die großen, an vielen Stellen geflickten Segel hingen schlaff von den Rahen, und an Masten und Tauwerk sammelte sich Feuchtigkeit und lief in kleinen glitzernden Bahnen zu Boden. Es war still, eine unheimliche, an den Nerven zerrende Stille, die mit dem Nebel über das Meer herangekrochen war und den schnittigen Viermastersegler einhüllte. Und es war nicht einfach nur Stille, sondern noch etwas anderes. Ein Gefühl – ich weiß, dass es sich verrückt anhört, aber genau das war es, was ich (und wohl auch viele von den anderen) damals empfanden, als hätte der Nebel etwas Fremdes und Feindseliges mit sich herangetragen, das nun auf unsichtbaren Spinnenbeinen an Bord der LADY OF THE MIST kroch und sich in unsere Gedanken und Gefühle schlich.

Der Nebel hatte das Schiff erreicht und eingehüllt, und alles, was weiter als zehn oder zwölf Schritte entfernt war, begann in der dunstigen Feuchtigkeit zu verschwimmen und an Substanz zu verlieren, als wäre es nicht real, sondern nur ein Bild aus einem Traum. Das Knarren und Ächzen des Holzes klang gedämpft, und die Stimmen der Mannschaft wehten wie durch einen dichten, unsichtbaren Schleier zu uns herauf. Das an einer Seite abgerundete Rechteck des Achterdecks erschien mir wie eine winzige, isolierte Insel in einem gewaltigen Ozean aus Grau und erstarrtem Schweigen.

Und es war kalt. Wir waren am 19. Juni des Jahres 1883 in New York losgesegelt, und wenn ich nicht irgendwo auf dem Atlantik die Übersicht verloren hatte, dann mussten wir jetzt den 24. Juli schreiben. Hochsommer, dachte ich. Trotzdem prickelten meine Hände vor Kälte, und mein Atem erschien als dünne Dampfwolke vor meinem Gesicht, wenn ich sprach.

»Warum gehen Sie nicht in die Kabine, Mister Craven?« Die Stimme des Kapitäns drang wie von weit her in meine Gedanken; ich hatte Mühe, sie überhaupt als menschliche Stimme zu erkennen und darauf zu reagieren.

»Es ist verdammt kalt hier«, fuhr Bannermann fort, als ich mich endlich zu ihm umwandte und ihn ansah. In seinem dicken schwarzen Mantel und der Pudelmütze, die er anstelle seiner Kapitänsmütze trug, wirkte er wie ein freundlicher Pinguin. Und irgendwie war er das wohl auch: ein kurzbeiniger, gemütlicher, stets lächelnder Mann, der viel zu sanft und nachsichtig war, um ein Schiff zu kommandieren. Ich hatte nie mit ihm gesprochen, aber ich hatte den sicheren Eindruck, dass er mehr durch Zufall auf diesen Posten verschlagen worden und nicht sehr glücklich damit war.

»Ich möchte lieber hierbleiben«, antwortete ich nach einer Weile. »Dieser Nebel bereitet mir Sorgen. Sind Sie sicher, dass wir nicht die Orientierung verlieren oder gegen ein Riff laufen?«

Bannermann lachte. Er hatte seinen Schal um das Gesicht geschlungen, und seine Stimme klang nur gedämpft durch die dicke Wolle. Trotzdem spürte ich, dass es ein gutmütiges Lachen war. Für Bannermann und seine Leute waren Montague und ich nichts als zwei Landratten, die Mühe hatten, bei einem Schiff Bug und Heck auseinanderzuhalten. Ich hatte den größten Teil der Reise in seiner Nähe verbracht, und wahrscheinlich war ich ihm gehörig auf die Nerven gefallen. Aber er gab sich wenigstens Mühe, sich nichts davon anmerken zu lassen.

»Wir sind fast dreißig Seemeilen von der nächsten Küste entfernt«, antwortete er. »Dieser Nebel gefällt mir auch nicht, aber er ist nicht gefährlich. Nur lästig.« Er seufzte, trat an mir vorbei an die Reling und blickte aus zusammengekniffenen Augen in die wogenden grauen Schwaden hinaus. »Äußerst lästig«, fügte er hinzu. »Aber mehr auch nicht.«

Ich schwieg. Es hätte tausend Fragen gegeben, die ich hätte stellen können, aber ich spürte, dass er nicht antworten würde, und so trat ich nur schweigend neben ihn und blickte wie er aufs Meer hinaus, nach Norden, wo unser Ziel lag. Es war etwas Beunruhigendes an diesem Nebel – wenn man lange genug hineinsah, begann man Gestalten zu erkennen: Gesichter und bizarre, seltsam verzerrte Körper, substanzlose Hände, die nach dem Schiff zu greifen schienen. Wäre dieser Nebel nicht gekommen, hätte die LADY OF THE MIST London fahrplanmäßig irgendwann während des nächsten Tages erreicht. Jetzt konnte es gut sein, dass wir eine weitere Nacht auf See verbringen mussten; vielleicht auch mehr, wenn der Nebel nicht wich.

Aber ich hütete mich, irgendetwas von diesen Gedanken auszusprechen.

Bannermann hätte mich wahrscheinlich für verrückt erklärt.

»Wirklich, Mister Craven«, fuhr Bannermann fort, ohne mich dabei anzusehen. »Sie sollten unter Deck gehen. Sie können hier sowieso nichts tun – außer sich einen kräftigen Schnupfen einzufangen.« Er schwieg einen Moment und fuhr, leiser und mit deutlich veränderter Stimme, fort: »Und es wäre mir lieber, wenn jemand bei Mister Montague ist.« Er sah auf. Zwischen seinen buschigen grauen Brauen grub sich eine tiefe Falte ein. »Wie geht es ihm heute?«

Ich antworte nicht sofort. Als ich Montague verlassen hatte – vor nahezu vier Stunden, noch vor Tagesanbruch

– hatte er geschlafen. Er schlief sehr viel, und obwohl sich sein Zustand nicht besserte, wirkte er in den wenigen Stunden, die er wach war und mit mir oder Bannermann reden konnte, überraschend klar und von scharfem Verstand. Es war etwas Seltsames an diesem Mann.

»Unverändert«, sagte ich nach einer Weile. »Das Fieber steigt nicht weiter, aber es geht auch nicht zurück. Es wird Zeit, dass wir ihn zu einem guten Arzt bringen.«

Bannermann nickte. »Ich lasse sämtliche Segel setzen, sobald dieser verfluchte Nebel gewichen ist. In vierundzwanzig Stunden sind wir in London, und eine Stunde später ist er in einer Klinik.« Er lächelte mit einem Optimismus, den keiner von uns beiden wirklich noch empfand. »Sie werden sehen«, fügte er hinzu, »dass er in einer Woche wieder auf den Beinen und guter Dinge ist.« Er lächelte abermals, drehte sich mit einem Ruck um und bildete mit den Händen einen Trichter vor dem Mund, um irgendein Kommando über das Deck zu brüllen. Hoch oben in der Takelage reagierten ein paar seiner Matrosen darauf und begannen emsig hin und her zu kriechen. Ich wusste nicht, was sie taten, und es interessierte mich auch nicht. Die LADY OF THE MIST war das erste Schiff, auf das ich in meinem Leben einen Fuß gesetzt hatte, und es würde wahrscheinlich auch das letzte sein. Ich habe Schiffe nie gemocht, und das Meer mit seiner Weite und Einsamkeit flößte mir Furcht ein. Sicher – ich war dreitausend Meilen von meiner Heimat entfernt, und die einzige Möglichkeit, jemals dorthin zurückzukehren, war nun einmal ein Schiff. Aber ich war mir noch gar nicht so sicher, ob ich jemals wirklich nach Amerika zurückkehren würde.

Ich verdrängte den Gedanken, sah Bannermann noch eine Zeitlang zu, wie er seine Matrosen über das Deck scheuchte, und wandte mich dann um. Die Kälte begann allmählich mehr als nur unangenehm zu werden, und ich verspürte ein verräterisches Kratzen im Hals. Bannermann hatte wohl recht – ich würde mich nur erkälten, wenn ich länger an Deck blieb. Aber unsere Kajüte war geheizt, und ein kräftiger Grog würde den Rest besorgen.

Die ausgetretenen Stufen knarrten hörbar unter meinem Gewicht, als ich die kurze Holztreppe zum Deck hinabging. Das Geräusch erschien seltsam gedämpft, und wieder fiel mir die sonderbare Stille auf, die sich über dem Schiff ausgebreitet hatte. Ich blieb stehen, nickte einem vorübereilenden Matrosen grüßend zu und trat – ohne eigentlich so recht zu wissen, warum, – abermals an die Reling.

Das Meer war verschwunden. Die verkrustete Bordwand der LADY OF THE MIST schien anderthalb Meter unter mir in einer grauen Wolkenmasse zu verschwinden, und ein seltsamer, nicht einmal direkt unangenehmer Geruch wehte von der Wasseroberfläche herauf. Nicht der Salzwasseratem des Meeres, den ich nach fünfunddreißig Tagen schon gar nicht mehr bewusst wahrnahm, sondern etwas anderes, vollkommen Fremdes. Ich legte die Hände auf die Reling, beugte mich vor und versuchte, wenigstens einen Schimmer der Wasseroberfläche zu sehen, aber der Nebel war zu dicht. Es war absurd: das Schiff hieß LADY OF THE MIST –

Herrin des Nebels – aber im Moment war es seine Gefangene.

Als ich mich umwandte, glaubte ich eine Bewegung zu erkennen: Ein kurzes, rasches Zucken, als griffe etwas ungeheuer Großes und Massiges aus der grauen Masse, etwas, das grün und glitzernd und mit winzigen schillernden Schuppen bedeckt war. Ich erstarrte. Von einer Sekunde auf die andere begann mein Herz zu hämmern, so rasch, wie mir trotz der Kälte der Schweiß ausbrach. Die Erscheinung verging so rasch, wie sie gekommen war, und ich war mir nicht einmal sicher, ob ich es wirklich gesehen hatte, oder ob mir meine überreizten Nerven nur einen Streich spielten.

Und trotzdem verspürte ich in diesem Moment eine Furcht, wie ich sie noch nie in meinem Leben gefühlt hatte.

Meine Hände zitterten noch immer, als ich die niedrige Tür im Achteraufbau öffnete und zu unserer Kajüte hinabstieg.

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