Heftroman der

Woche

Download-Tipp

Der Welt-Detektiv Band 6

Neueste Kommentare
Archive
Folgt uns auch auf

Nick Carter – Inez Navarro, der weibliche Dämon – Kapitel 1

Nick Carter
Amerikas größter Detektiv
Inez Navarro, der weibliche Dämon
Ein Detektivroman

Eine unangenehme Überraschung

Etwas Unerhörtes und bis dahin noch gar nicht Dagewesenes hatte sich zugetragen. Nick Carter, der große Detektiv, hatte sich einen vollen Monat Erholung vergönnt.

Den ganzen Dezember hatte er im sonnigen Florida verbracht, wo er sich fern von der in Schnee und Eis starrenden Hudsonmetropole tagsüber in der Hängematte gewiegt, den tiefblauen Himmel betrachtet und sich an der grünen Palmenpracht ergötzt hatte, wo das ewige Meer laue Brisen zur blumenübersäten Küste entsendete und die Sonnenstrahlen so wohlige Wärme verbreiteten wie in New York kaum im Mai.

Während dieses Monats hatte der Detektiv, der unmittelbar vor Antritt seiner Reise einige der schwierigsten Fälle, die ihm in seinem gefahrvollen Beruf je unter die Hände gekommen waren, zu erledigen gehabt hatte, wie ein Einsiedler gelebt. Er hatte keine Zeitung berührt, war jeglichem Gespräch ausgewichen und hatte die Außenwelt als für ihn gar nicht existierend betrachtet.

Nun war er aus dem herrlich warmen Süden wieder nach dem im schönsten Winterschmuck prangenden New York zurückgekehrt und saß leicht fröstelnd in dem offenen Cab, das ihn seinem im oberen Stadtteil gelegenen Privathaus zuführte.

Seine Unterkunft war auch seinen vertrautesten Mitarbeitern nicht bekannt gewesen, und nicht einmal seinem Vetter und getreuen Gehilfen Chick Carter hatte er während der nun hinter ihm liegenden Ferienzeit seine Adresse mitgeteilt, da er ganz und gar ungestört zu bleiben gewünscht hatte.

Noch lagen die dunklen Fittiche der Nacht über den Straßen der Weltstadt ausgebreitet. Es war kaum 7 Uhr früh, und der trübe Januarmorgen schien unschlüssig zu zaudern, ob er sich überhaupt zum trübseligen, kurzen Wintertag wandeln sollte.

Als Nick Carter das im Souterrain gelegene Esszimmer betrat, fand er es behaglich durchwärmt und erleuchtet. Ein angenehmer Kaffeeduft mischte sich mit dem aromatischen Geruch einer echten Havanna. Trotz der frühen Morgenstunde hatte Chick sein Frühstück schon eingenommen und rauchte eben die Verdauungszigarre – ein Vergnügen, dem auch der große Detektiv sich leidenschaftlich gern hingab, wenn er die nötige Zeit dazu hatte.

»Well, da wäre ich einmal wieder!«, sagte Nick gleich beim Eintreten, indem er dem Vetter zunickte. »Hallo, Chick, wie geht es, alter Junge?«

Überrascht sprang Chick auf und eilte mit ausgestreckter Hand auf den Vetter zu. »Das nenne ich eine Überraschung!«, rief er mit freudestrahlendem Gesicht. »Halb und halb dachte ich mir es freilich. Du wolltest einen Monat ausbleiben, und der ist heute um. Da ich letzte Nacht doch nicht zu Bett kam, so setzte ich mich gleich zum Frühstück.«

Nick hatte mittlerweile geklingelt und die hereinkommende Wirtschafterin kordial begrüßt. Nun machte er sich mit gutem Appetit an das ihm schnell vorgesetzte Frühstück. Doch schon nach den ersten Bissen legte er Messer und Gabel wieder hin und schaute den Vetter erwartungsvoll an. »Well, was gibt es, Chick? Nicht zu Bett gekommen, sagst du?«

»War nicht daran zu denken. Der Teufel ist wieder einmal los, Nick.«

»Du machst mich neugierig. Was in aller Welt hat unsere liebe Millionenstadt wieder einmal auf den Kopf gestellt?«, erkundigte sich der Detektiv, indem er rasch seinen Kaffee austrank und dann Tasse nebst Teller von sich wegschob. »Schieß los, Chick, ich bin ganz Ohr.«

»Nun, mit einem Wort, Morris Carruthers ist wieder durch die Lappen gegangen.«

»Feiner Witz!« Nick lachte auf. »Nun, scherzt du – Morris Carruthers – oder nein?«, unterbrach er sich, als der andere nur entschieden den Kopf schüttelte. »Es wäre dein Ernst. Dieser Verbrecherkönig, an dessen Verhaftung ich nun schon zweimal mein Leben gewagt habe – er wäre wieder durchgebrannt? Aus dem Tombs, dem festesten Gefängnis der Welt?«

Er schlug in großer Erregung die Hände zusammen. »Nein, das ist unerhört!«

»Es ist leider nur allzu wahr«, brummte Chick niedergeschlagen.

Sein Vetter war in großer Erregung aufgesprungen und durchmaß das Zimmer mit großen Schritten. Endlich blieb er erwartungsvoll vor Chick wieder stehen. »Wann war es?«, erkundigte er sich lakonisch.

»Vorgestern, Nick.«

»Aber wie und auf welche Weise?«

Chick lachte nervös auf.

»Well, in der verblüffend einfachsten Weise von der Welt!«, bemerkte er achselzuckend. »Dieser Carruthers setzte einfach im Gerichtssaal, wo wegen der dreifachen Mordtaten, deren Begehung er angeklagt ist, wider ihn verhandelt wurde, seinen Hut auf und spazierte ungehindert aus dem Sitzungszimmer, als ob dies die natürlichste Sache von der Welt sei.«

Nick Carter war nicht leicht zu verblüffen, doch nun stand er mit halb offenem Mund da und starrte seinen Vetter an. Hätte ihm dieser gesagt, der Flüchtling habe sich eine unsichtbar machende Tarnkappe aufs Haupt gesetzt und dadurch seine Flucht bewerkstelligt, so würde er sich nicht mehr erstaunt haben. Dann brach er in ein gezwungenes Lachen aus.

»Großartig!«, rief er. Dabei warf er sich mit einem Ruck in seinen Schaukelstuhl, dass dieser in allen Fugen knackte. »Dieser Carruthers ist ein Teufel – zugegeben, er ist gefährlicher als ein Dutzend sonstiger schwerer Jungen zusammengenommen – aber er ist ein Genie, und ich fange nun bald an, ihn ernstlich zu bewundern. Habe ich dich recht verstanden, Chick?«, erkundigte er sich, ein Bein über das andere schlagend, sich gelassen eine Zigarre aus dem Kästchen wählend, diese anzündend und die ersten blauen Rauchwölkchen vor sich hinstoßend. »Du sagst, dieser Carruthers nahm einfach seinen Hut, vermutlich ohne Verbeugung vor dem Richtertisch, und ging einfach seines Weges?«

»So ähnlich war es wohl, Nick!«

»Nun, du musst schon so gut sein und mir das etwas ausführlicher erzählen, Chick. Übrigens, noch eins«, unterbrach der Detektiv seine Rede. »Hast du Inspektor McClusky schon gesprochen? Wie hat denn unser Polizeigewaltiger diese Trauerkunde aufgenommen?«

»Well, ich dachte zuerst, ihn würde der Schlag treffen. Nun befindet er sich bereits den Umständen nach angemessen und jammert nur wie ein Kind nach der Mutter, nach dem Helfer in tausend Nöten – meinem berühmten Vetter und unerreichbaren Vorbild Nick Carter.«

»Well, dem Mann kann geholfen werden!«, versetzte Nick mit blitzenden Augen. »Es ist für mich Ehrensache, dass dieser Morris Carruthers wieder dingfest gemacht wird. Nebenbei bin ich meines Lebens auch keinen Tag sicher, solange er aus dem Käfig ist – doch nun schieße los!«

Er lehnte sich wieder zurück, tat einige rasche Züge aus seiner Zigarre und erwartete äußerlich ruhig den Bericht.

»Das hat wohl einen Mordsspektakel abgesetzt, eh?«

»Das kannst du dir wohl denken, die Gerichtspolizisten gebärdeten sich wie ein Bienenschwarm, dessen Behausung von plumpen Bärentatzen zerstört wird. Einer schob die Schuld auf den anderen, und schließlich waren sie sämtlich so unschuldig wie die neugeborenen Kinder.«

»Aber wie und wann gelang diesem Carruthers der große Schlag?«

»Well, Nick, er arbeitete nach dem denkbar einfachsten und verbrauchtesten Schema. Es ist beschämend für uns New Yorker, dass ihm dieses überhaupt gelingen konnte. Doch höre! Wie ich dir bereits gesagt habe, nahm er seinen Hut, stand auf und ging seelenruhig aus dem Gerichtssaal, der bis zum Erdrücken von einem sensationslüsternen Publikum angefüllt war – und dies, ohne dass es einer Menschenseele eingefallen wäre, ihn aufzuhalten. Ja, ich bin fest überzeugt davon, dass außer seinen Mitverschworenen auch nicht ein einziger Mensch seine Flucht überhaupt wahrgenommen hat.«

»Mein lieber Chick, ich sitze auf glühenden Kohlen. Auch der beste Witz muss kurz sein. Sage mir endlich, auf welche Weise Carruthers durchbrannte.«

»Well, Nick, wie es eigentlich zugegangen ist, das wird dir Morris Carruthers am besten erzählen können, wenn wir ihn erst wieder beim Kragen haben. Wie du dir denken kannst, hatte sich Carruthers die allerberühmtesten, man kann getrost auch sagen, die allerberüchtigtsten Kriminalanwälte zu Verteidigern bestellt. Natürlich machten die geriebenen Rechtsverdreher alle möglichen Einwände. So kam es, dass eine volle Woche mit der Auswahl der Jury vertrödelt wurde ….«

»Der alte Erbfehler in unserer Justizpflege!«, knurrte Nick dazwischen. »In Deutschland zum Beispiel macht man wenig Federlesen mit derartigen Kujonen. Hier aber können sie so eine Verhandlung wochenlang hinziehen, wenn sie nur Geld genug haben, um die geriebensten Advokaten bezahlen zu können. Es ist eine Schande für uns: Die unbemittelten Verbrecher urteilt man im Handumdrehen ab – und die bemittelten Halunken eisen sich fast immer los. Doch weiter!«

»Also, die Geschworenenbank war endlich vollzählig geworden, und man hatte zwölf gute und getreue Bürger gefunden, welche über den Mordbuben zu Gericht sitzen sollten. Vorgestern früh sollte die eigentliche Gerichtsverhandlung beginnen«, berichtete Nick Carter. »Als öffentlicher Ankläger hatte der Distriktanwalt seine Eröffnungsansprache gehalten und war gerade dabei, den ersten Belastungszeugen vorzurufen, als der Richter die übliche Vertagung über die Mittagsstunde eintreten ließ, was zur Folge hatte, dass der Saal sich etwa zur Hälfte leerte. Die eigentlichen Kriminalstudenten blieben zurück; sie hatten sich etwas Frühstück mitgebracht und verzehrten es auf den mühsam erkämpften Sitzen, um diese nicht wieder zu verlieren.«

»Ich kann es mir denken, dass sich ganz New York zu der Verhandlung drängte …«

»Es war unerhört, Nick. Man schlug sich beinahe, nur um einen Sitz zu ergattern. Morris Carruthers ist solch ein interessanter Verbrecher, und dabei war das junge Frauenzimmer, welchem der Richter erlaubt hatte, während der Verhandlung neben dem Angeklagten zu sitzen, so pikant und außergewöhnlich schön, dass …«

»Ah, eine junge, schöne Frau durfte neben ihm Platz nehmen?«, erkundigte sich Nick Carter, indem er den Oberkörper interessiert vorbeugte. »Wer war es?«

»Ich weiß es nicht. Sie muss den Richter wohl von ihrem verwandtschaftlichen Verhältnis zu dem Angeklagten überzeugt haben, sonst würde er ihr schwerlich eine solche Vergünstigung eingeräumt haben. Ich nehme an, dass sie dasselbe Frauenzimmer ist, das in jener Nacht, als du Carruthers vor ihrem Haus gefangen nahmst, auf dich geschossen hat …«

»Ah, diese Inez. Hm, ich wollte mich jetzt ohnehin mit ihr näher beschäftigen!«

»Du kannst dir denken, Nick«, fuhr Chick fort, »dass die Anwesenheit dieser bildschönen Person für unsere Sensationspresse Wasser auf die Mühlen war. Man brachte ihr Bild und schrieb spaltenlange Artikel über sie. Kein Wunder, dass halb New York auf dem Kopf stand und man sich tagtäglich zu den Verhandlungen drängte, nur um einen Blick auf sie und den nicht minder interessanten Verbrecherkönig zu werfen. Doch um fortzufahren: Als der Richter die Sitzung vertagte, wurde der Gefangene wie üblich über die Seufzerbrücke zu den Tombs zurückgeführt.«

»Selbstverständlich!«, schaltete Nick Carter ein. »Und weiter?«

»Also, diese bildhübsche Inez blieb ruhig auf ihrem Platz, wie sie dies all die Tage über getan hatte. So lange Verhandlung war, pflegte sie ihren Schleier aufzuschlagen, sodass man ihre bezaubernde Schönheit sattsam bewundern konnte. Sobald aber Vertagung eintrat, ließ sie den Schleier fallen und saß mit in die Hand gestütztem Kopf, bis die Sitzung wieder begann.«

»Hm, hm«, machte der Detektiv, »mir ist es, als witterte ich schon etwas.«

»Kann ich mir denken, Nick, doch höre weiter. Um viertel zwei Uhr nachmittags sollte die Sitzung wieder eröffnet werden. Von ein Uhr an strömte das ganze Publikum in den Saal zurück.«

»Warst du auch anwesend, Chick?«, fragte Nick Carter von Neuem dazwischen.

Sein Vetter schüttelte mit dem Kopf. »Ich musste ja nach allen Windrichtungen nach dir depeschieren, Nick, denn der Distriktanwalt erklärte, auf dich als den Hauptbelastungszeugen nicht verzichten zu können – wäre ich dagewesen, so dürfte ich diesem überschlauen Morris Carruthers doch einen Strich durch die Rechnung gemacht haben.«

»Vermutlich, Chick, ich müsste dich sonst nicht kennen. Doch fahre fort!«

»Wie dir ja bekannt ist, erscheint der Richter immer als Letzter. Er wartet, bis alles im Saal wieder Platz genommen hat. Ein Gleiches geschieht mit dem Gefangenen. Während der Richter von einem Ende her den Saal betritt und auf den grünen Tisch zuschreitet, wird der Angeklagte von seinen Wächtern durch eine andere Tür in den Saal geführt.«

»Genau wie du sagst, wir hängen eben noch am alten Zopf, zumal die Kriminalverhandlungen … doch weiter!«

»Es ist die reine Formsache. Sobald der Gefangene am Tisch seiner Verteidiger Platz genommen hat, taucht der Richter hinter seinem erhöhten Sitz auf. Im selben Moment vollführen die Gerichtspolizisten mit ihren Knüppeln einen Heidenspektakel und rufen mit Stentorstimmen: ›Hüte ab! Hüte ab! Ordnung im Saal!‹«

»Well, du schilderst recht anschaulich, Chick. Doch ich kenne die Gebräuche ja …«

»Es muss alles seine richtige Steigerung haben, Nick«, meinte sein Vetter mit einem flüchtigen Lächeln. »Well, der Gefangene hatte sich wieder auf seinem Platz neben Inez niedergelassen, und diese schien eifrig auf ihn einzusprechen. Drei Gerichtspolizisten standen hinter ihnen. Zwei seiner Verteidiger saßen am selben Tisch neben ihm. Am nächsten Tisch waren zwei der Gehilfen des Distriktanwalts … und gerade als der Richter sich unter dem betäubenden Geschrei: ›Hüte ab! Hüte ab! Ordnung im Gerichtssaal!‹ niederließ, da schrie hinten beim Saaleingang eine Frau laut und durchdringend auf.«

»Aha! Dachte ich es mir doch!«, knurrte der Detektiv. »Also dieses Weib schrie …«

»Sagte ich, sie schrie?«, fragte Chick. »Well, ich hätte ebenso gut sagen können, sie heulte wie gefangene Raubtiere vor der Fütterung … sie erfüllte einfach den ganzen Saal mit ihrem unglaublich widerwärtigen Gebrüll, welches sich den Zuhörern auf die Nerven legte. Dabei ruderte das Weib mit ihren Händen in der Luft umher und versuchte so schnell wie möglich aus dem Saal zu kommen …«

»Natürlich entstand großes Aufsehen und Unordnung im Saal …«

»Noch viel mehr: Es war der reinste Hexensabbat. Das Jammergeschrei dieses Unglücksweibes wirkte ansteckend. Was vom schönen Geschlecht im Saal anwesend war – und wohl die Mehrzahl der Zuhörer gehörten der holden Weiblichkeit an – wurde mitgerissen, wie die Schafsherde blökt, hat erst einmal der Leithammel angefangen. Es war ein unbeschreibliches Durcheinander; hier die schreiende, ihren Ausgang erkämpfende Frau, dort in der Menge, die nicht wanken noch weichen wollte, aus lauter Furcht, den teuer erkämpften guten Platz dadurch verlieren zu können … die laut schimpfenden Frauen, welche ihrer Genossin zur Hilfe kamen, die nicht minder groben Männerstimmen – dazwischen das Gebrüll der Gerichtspolizisten, die unablässig zuerst ihr ›Ordnung im Gerichtssaal‹ ertönen ließ, bis sie endlich merkten, dass im Publikum etwas Besonderes vor sich ging, woraufhin sie dorthin eilten, um den Aufruhr zu schlichten und Ruhe zu stiften … und es war auch schon die höchste Zeit, denn es waren bereits zwei Parteien handgemein geworden und vom Schimpfen zum Schlagen übergegangen …«

»Kurzum, eine richtige Holzerei!«, brummte Nick Carter sarkastisch. »Natürlich bestellte Arbeit – ja, ja, du hast recht, Chick, es ist ein lächerlich verbrauchtes Mittel … aber es ist gerade wie bei der Medizin … all die neuen Wundermittel taugen nichts, und man kuriert sich schließlich doch nur aus Großmutters Hausapotheke.« Er lachte kurz auf. »Doch nur weiter, Chick … natürlich wirkte das erprobte Rezept … man sah nur neugierige Hälse im Saal, die sich nach den streitenden Parteien reckten … und keine Katze schenkte dem Gefangenen irgendwelche Aufmerksamkeit.«

»Genau so, wie du sagst«, bejahte Chick, der inzwischen die Gashängelampe ausgedreht hatte, da es mittlerweile draußen heller Tag geworden war. »Doch mit dem Halsausrecken allein war es nicht getan. Du kennst doch unsere neugierigen New Yorker. Stürzt nur ein Karrengaul auf der Straße, sofort stehen ein paar hundert Müßiggänger und gaffen und kritisieren. Well, im Gerichtssaal machten sie es nicht anders, erkletterten die Bänke und bildeten eine lebendige Mauer. Umsonst blieb es, dass der Richter mit seinem silbernen Hammer auf den Tisch schlug, als ob es Steine zu klopfen gälte. Niemand hörte ihn, nicht einmal die Gerichtspolizisten, denn die waren ja gerade dabei, die Streitenden zu trennen und die Händelsucher aus dem Saal zu feuern … kurz und gut, es vergingen vielleicht fünf Minuten, ehe man sich wieder nach dem Gefangenen umsah … als dies endlich geschah und im Saal wieder notdürftig Ordnung eingekehrt war, da sah man den Angeklagten scheinbar immer noch neben Inez sitzen, in nach vorn gebückter Haltung und das Gesicht mit beiden Händen bedeckt … dieselbe Haltung, die man all die Tage her an ihm beobachtet hatte … dabei trug er auch einen ganz ähnlichen Anzug, sein Kopfhaar war genauso wie das des sauberen Carruthers …«

»Doch dieser war es natürlich nicht, der im Stuhl saß.«

»Nein, er war es nicht!«, fuhr Chick fort, indem er unmutig mit der flachen Hand auf die Tischfläche schlug. »Was soll ich dir sagen? Plötzlich springt der vermeintliche Angeklagte auf, er sieht sich mit einem wilden Blick um, während in seinen Zügen lebhafte Angst über den ungewohnten Spektakel an geheiligter Gerichtsstätte sich ausprägt – und die herbeieilenden Gerichtspolizisten, der Richter, der Distriktanwalt, die Geschworenen, die Verteidiger – kurz, alle mit dem Fall Verbundenen erkannten, dass auf dem Stuhl des Angeklagten nicht dieser, sondern ein völlig fremder Mensch sitzt, der natürlich mit der ganzen Anklage nichts zu schaffen hat.«

»Das ist ja einzigartig!«, bemerkte der Detektiv trocken. »Und Inez?«

»Das war das Allertollste«, berichtete sein Vetter unter nervösem Auflachen. »Das Frauenzimmer springt auf, starrt dem falschen Gefangenen anscheinend ganz konsterniert ins Gesicht, stößt einen schrillen Schrei aus, wirft die Arme in die Höhe und bricht ohnmächtig zusammen.«

»Meisterhaft ausgedacht, um dem Flüchtigen noch mehr Vorsprung zu geben!«, bemerkte Nick Carter anerkennend. »Diese Inez muss ich kennen lernen … sie scheint Morris Carruthers nicht viel nachzugeben … und die Moral von der Geschichte?«, erkundigte er sich lächelnd.

»Moral?« Chick unterdrückte einen Fluch. »Carruthers war und blieb fort, das ist alles!«

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert