Heftroman der

Woche

Download-Tipp

Der Welt-Detektiv Band 6

Neueste Kommentare
Archive
Folgt uns auch auf

Nick Carter – Nick Carters beste Maske – Kapitel 8

Nick Carter
Nick Carters beste Maske

Kapitel 8

Die Niederlage des Verbrecherkönigs

»Los!«, kommandierte in diesem Augenblick McGonnigal, der mit der Uhr in der Hand seitwärts von beiden auf einem Stuhl stand.

Sofort schritten die Gegner aufeinander los, begierig, eine Gelegenheit zu erspähen, die ihnen den ersten Schlag gestattete. Mit einem Blick hatten sie erkannt, dass sie beide geübte und gut trainierte Boxer waren. Das entging auch den Zuschauern nicht, und in deren brutalen Gesichtern offenbarte sich die ganze Freude, welche der Durchschnittsamerikaner an einem solchen Vergnügen, wie es die Darbietung eines Faustkampfes gewährt, empfindet. Nicht weniger liegt dem Yankee die Wettlust im Blut, und so konnte es nicht ausbleiben, dass schon jetzt vor dem Beginn des Kampfes Wettangebote und -annahmen durch den Saal schwirrten. Die Meinungen waren geteilt, es fanden sich ebenso viele, welche auf den vermeintlichen Tony wetteten, als andere, die ihr Geld an die Geschicklichkeit seines Gegners wagten.

Mit raschem Sprung waren die Gegner aneinander, und der Fremde führte blitzschnell einen furchtbaren Hieb zur Kinnlade des Gegners. Doch mit der Geschmeidigkeit eines Panthers wusste Nick den zugedachten Hieb zu parieren, während er zugleich halb um den anderen herumglitt.

Aber dieser war ebenfalls auf seiner Hut. Wohl eine Minute standen die sich auf den Zehenspitzen wiegenden Kämpfer einander gegenüber und starrten sich voll brennenden Hasses gegenseitig in die Augen.

Dann schlug Nick, schneller als das Auge seinen Bewegungen folgen konnte, eine Finte mit der Rechten, wechselte die Fußstellung und ließ einen Hieb mit der Linken nachsausen, der, wenn er gesessen hätte, sofort den Kampf entschieden haben würde.

Doch der meisterlich gedachte Hieb wurde ebenso elegant von dem Fremden pariert; dieser war schnell einen Schritt zurückgesprungen, schnellte wieder vor und schlug zu. Doch wiederum nur, um auf die Faust des Gegners zu treffen.

»Neunzig gegen hundert, dass Tony gewinnt!«, schrie einer der begeisterten Zuschauer.

»Pah, ich setze gleiches Geld, dass Tony gewinnt!«, rief McGonnigal.

»Ich halte die Wette!«, rief der andere.

»Well, wer tut mit, Jungens?«, schrie Mac wieder. »Ich setze doppeltes Geld – fünfhundert auf Tony gegen zweihundertfünfzig.«

»Ich halte!«, rief ein Dritter.

»Halt!«, rief McGonnigal, denn die drei Minuten, welche für jede Runde angesetzt waren, hatten ihr Ende erreicht.

Während der Wirt schnell die abgeschlossenen Wetten auf einen Papierbogen niederschrieb, zogen sich die Kämpfenden zurück. Nick nahm wahr, wie sein Gegner leise auf einen Mann einsprach. Er konnte nicht hören, um was es sich handelte, bemerkte aber, dass der Mann nickte und unbemerkt den Raum verließ – gerade in dem Augenblick, als die Stimme des Unparteiischen sie wieder in den Ring zurückrief.

Der Detektiv konnte sich einer leichten Beunruhigung nicht erwehren. Da er es nun mit Carruthers zu tun hatte, hieß es, auf seiner Hut sein, denn dem Gegner war alles, auch das Schlimmste, zuzutrauen.

»Los!«, kommandierte McGonnigal wieder.

Nick war entschlossen, diesmal den Kampf zu Ende zu bringen, selbst auf die Gefahr hin, dabei von seinem Gegner gleichfalls einige tüchtige Hiebe mit abzubekommen. So stürzte er sich denn mit wilder Energie auf den anderen. Wohl gelang es ihm, diesen weit zurückzutreiben; doch mit einer aalglatten Geschmeidigkeit, welche der Detektiv innerlich bewundern musste, vermochte Morris Carruthers ihm in dem entscheidenden Moment unter den Armen hindurch zu schlüpfen. Gleich darauf fiel ein Linkshänder auf Nicks Nacken, der den Detektiv zu Boden gestreckt haben würde, hätte er nicht noch im letzten Moment durch eine halbe Wendung die Wucht des Schlages mildern können.

So drehte sich Nick halb auf den Absätzen, und während Carruthers, durch die Gewalt des eigenen Schlages halb nach vornüber gezogen, leicht taumelte, fuhr Nick blitzschnell wieder herum und versetzte seinem Gegner einen Hieb gegen die Kinnlade, dass der Getroffene schwankend in die Knie brach. Doch er rang sich empor, ehe Nick den gewonnenen Vorteil ausnutzen konnte – und zum Unglück war eben wieder die Kampfzeit abgelaufen, und der Unparteiische musste Halt gebieten.

»Well, Tony, du bist mein Mann – du bist mein Champion!«, rief McGonnigal ganz begeistert. »Lass dir nur Zeit; du machst ein gehacktes Beefsteak aus ihm, so wahr ich lebe!«

Schnell verfloss die Ruhepause, und als der Unparteiische zum dritten Mal die Kämpfer in den Ring rief, da schienen beide gleichmäßig entschlossen zu sein, nunmehr ein Ende zu machen.

Wieder ging Nick sofort zum Angriff vor, kaum dass McGonnigal los gerufen hatte. Er bedrängte den Gegner derart, dass dieser Schritt um Schritt zurückweichen musste. Dann plötzlich, während Morris Carruthers verzweifelte Anstrengungen machte, seinen Platz zu behaupten, wich Nick Carter wie erschöpft zurück – doch nur einen Schritt oder zwei, denn plötzlich sprang er wieder vor, schlug mit der Rechten eine Finte und landete im selben Moment auch schon einen sicheren Linkshänder auf die Kinnlade des anderen.

Wie ein gefällter Stier brach Morris Carruthers zusammen und deckte mit seinem mächtigen Körper den Boden.

Schon begann der Unparteiische zu zählen. Kam er bis zehn, bevor der Gestürzte sich wieder zu erheben und den Kampf fortzusetzen vermochte, so hatte Nick gewonnen.

Doch so leicht war Carruthers nicht zu besiegen. Der erhaltene Schlag hatte ihn nur flüchtig zu betäuben vermocht. Als McGonnigal eben vier zählen wollte, da sprang Morris Carruthers auch schon mit wilder Energie auf. Diesmal stürzte er nun sich auf den Gegner, und es gelang ihm auch, Nick einen gefährlichen Stoß vor die Magengrube zu versetzen, der diesem den Atem vorübergehend benahm, ihn aber nicht hinderte, dem anderen zwei furchtbare Hiebe in den Nacken zu geben, über deren Empfang jener mit dumpfem Stöhnen quittierte.

»Halt!«, rief der Unparteiische eben wieder.

Als nach einer Minute die vierte Runde einsetzte, ging es heiß her. Wie aus der Kanone geschossen, stürzte der Detektiv sich auf seinen Feind und zwang ihn durch zahllose flinke Angriffe von allen Seiten zu fortwährender angestrengter Verteidigung. Auf diese Weise ermüdete Nick Carter seinen Mann, bis er annahm, dass die drei Minuten nahezu vorüber waren. Da gab er sich den Anschein, als stolperte er. Was er erreichen wollte, geschah. Begierig beugte sich Morris Carruthers vor, um seinen Gegner mit einem Faustschlag in die Schläfe unschädlich zu machen.

Doch darauf hatte Nick Carter nur gewartet. Wieder fuhr seine Rechte zur Abwehr in die Höhe, und die Linke war zum Schlagen bereit. Natürlich nahm Carruthers an, dass es sich um den vorigen Trick wieder handelte, und so parierte er den Linkshänder, der aber, wie er zu seinem Entsetzen merkte, lediglich als Finte gedacht war, während zur Abwechslung die rechte Faust den Schlag austeilen wollte. Das tat sie auch, und der Hieb hätte genügt, um den Gegner kampfunfähig zu machen, hätte Carruthers nicht noch im entscheidenden Augenblick das Kinn senken können, so dass der Schlag mit dumpfem Krach auf seiner Nase landete.

Schwerfällig brach der Hüne auf den Boden nieder, während das Blut ihm aus der Nase schoss.

»Halt!«, rief der Unparteiische in diesem Moment, denn die drei Minuten waren vorüber. Dann eilte er auf den Gestürzten zu, um diesem beizustehen. »Erstes Blut!«, kündigte er an.

Ehe jedoch Mac den Getroffenen erreicht hatte, war dieser schon wieder auf den Beinen und schritt seiner Ecke zu. Die beiden Männer, welche ihm als Sekundanten dienten, wischten ihm das hervorquellende Blut mit Handtüchern aus dem Gesicht und wuschen dieses mit kaltem Wasser.

Nick nahm es wohl wahr, wie sein Gegner sich unruhig umschaute. Er schien den Mann zu vermissen, der vorhin nach einem kurzen Gespräch mit ihm unbemerkt das Mauseloch verlassen hatte. Wieder flüsterte Carruthers mit seinen Sekundanten; auch diese schauten zur Tür.

Dann, als McGonnigal Zeit rief und beide Kämpfer sich wieder aufstellten, hörte Nick die Klingeln, welche das Kommen eines alten Kunden anzeigten. Er nahm gerade noch wahr, wie die Eisentür sich öffnete und der vorhin weggegangene Mann wieder erschien; dann rief McGonnigal sein Los!

Die fünfte Runde begann. Während des vorangegangenen Kampfes hatte Nick nicht verabsäumt, die Verkleidung seines Todfeindes zu studieren.

Besonders die Gesichtsmaske war ausgezeichnet und dabei sehr einfach.

Morris Carruthers hatte seinen langen, schönen Schnurrbart geopfert und durch Anwendung verschiedener chemikalischer Mittel – wahrscheinlich derselben, welche auch Nick Carter gebraucht hatte – sein Gesicht zu einem aufgedunsenen gemacht, das nun statt der bisherigen ovalen nahezu apfelförmige Rundung aufwies. Besonders auffällig hatte er den Ausdruck um den Mund zu verändern verstanden. Carruthers besaß tadellose Zähne; selbst Nick Carter hatte diese bisher für echt gehalten. Nun wusste er, dass Carruthers ein falsches Gebiss trug, welches er nach Bedarf umwechselte. Diesmal hatte er ein zahlreiche Lücken aufweisendes Gebiss im Mund, wodurch sich natürlich die Falten um diesen erheblich vertieften und somit der gesamte Gesichtsausdruck wesentlich verändert wurde. Wären die Spuren der stählernen Fesseln an den Handgelenken nicht so unverkennbar gewesen, Nick Carter hätte nun noch an der Identität seines Gegners zweifeln mögen.

Um sich zu überzeugen, ob die Zähne wirklich falsch waren oder nicht, beschloss der Detektiv nun, seine ganze Kraft darauf zu verlegen, einen wirkungsvollen Schlag auf des anderen Mundpartie landen zu lassen.

Das glückte ihm auch im Laufe des Kampfes. Zunächst empfing der Detektiv allerdings erst selbst einen Nackenhieb, der ihn auf die Knie warf.

Doch dies erwies sich für Morris Carruthers verhängnisvoll, denn ehe er dazu kam, sich wieder aufzurichten, hatte Nick sich blitzschnell erhoben und mit derartiger Kraft die Rechte mit der Nase des Gegners in Berührung gebracht, dass der Letztere wiederum aus Mund und Nase blutend zu Boden stürzte.

Vielleicht wäre der Kampf nun schon entschieden worden, wären nicht gerade wieder die drei Minuten abgelaufen gewesen. So kehrten die beiden Kämpfenden in ihre Ecken zurück.

Nick Carter lehnte den Beistand seiner Sekundanten ab. Der Gegner selbst empfing aus der Hand des vor einer Weile von ihm fortgeschickten und inzwischen wieder zurückgekehrten Mannes ein Fläschchen, dessen Inhalt er auf die Hände goss. Ein merkwürdiger Geruch erfüllte die Luft; es roch wie in einem Farbenladen. Ehe Nick indessen dazu kam, weiter über diesen durchdringenden Geruch nachzusinnen, rief McGonnigal wieder: »Zeit.«

»Hallo, Tony!«, munterte der Wirt seinen Champion auf. »Nun zeige, was du kannst, nimm ihn den Wind!«

»Well, ich verspreche es dir … ich will mein Bestes tun!«, rief Nick, und sich mit blitzendem Auge direkt an seinen Gegner wendend, setzte er hinzu: »Bisher habe ich nur gespielt, nun will ich dir zeigen, was ich im Ernst leisten kann.«

»Los!«, kommandierte der Unparteiische.

Diesmal war es Morris Carruthers, welcher sich auf den anderen stürzte.

Nick begriff gar nicht, was sein Gegner wollte. Dieser schlug mit der flachen Hand zu, und dabei hatte der Detektiv die Empfindung, als wäre des anderen Hand nass, und er führe sie, wie um sich trocken zu wischen, an seinem Körper entlang.

Zugleich fiel ihm der vorhin erst verspürte Geruch wieder auf; nun wusste er auch, was er gerochen hatte: Es war Terpentin.

Die Ahnung kommenden Unheils beschlich das Gemüt des Detektivs, doch er kam nicht dazu, nun darüber nachzudenken.

Es war, als ob ihm Morris Carruthers jede Möglichkeit hierzu rauben wollte, denn in seinen Sprüngen, Finten und Angriffen erwies er sich plötzlich von geradezu quecksilberner Beweglichkeit.

Doch an Behändigkeit war ihm der Detektiv überlegen. So oft auch Morris Carruthers zuschlagen mochte, immer in der sicheren Erwartung, diesmal das Haupt des Gegners mit einem vernichtenden Schlag zu treffen, so musste er zu seiner bitteren Enttäuschung immer wieder erfahren, dass er mit den Fäusten lediglich die leere Luft durchhieb.

Immer von Neuem sendete Morris Carruthers Rechtshänder aus, die auf das Eleganteste von dem Detektiv pariert wurden. Dann schickte Nick die Linke zum Gesicht des Gegners, wechselte blitzschnell die Fußstellung und ließ die Rechte nach dem Magen des Feindes sausen; doch Morris Carruthers parierte nicht minder gut.

Nun versuche er seine Rechtshänder wieder anzubringen; mit ebensolchem geringen Resultat, wie es die Linke des Detektivs erzielte, welche auch nur die leere Luft durchhieb. Doch das siegesgewisse Lächeln, das eben Carruthers Gesicht erhellte, hätte er sich getrost ersparen dürfen, denn es bewirkte, dass er die Doppelfinte des Gegners, der erst rechts schlug und dann mit der Linken nur nachschlug, um von Neuem die rechte Faust auf die Kinnlade des Gegners sausen zu lassen, um den Bruchteil einer Sekunde zu spät gewahrte. Der Schlag traf die obere linke Kinnbacke und ließ den schweren Mann gleich einem Kreisel um die eigene Achse sausen – und ehe er noch wusste, wie ihm geschah, da hatte Nick Carter auch schon einen fürchterlichen Linkshänder folgen lassen, der Carruthers glatt zu Boden streckte.

McGonnigal tat vor und begann zu zählen: »Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun …«

In diesem letzten Moment erhob sich der Blut überströmte Mann.

Ein unartikulierter Wutschrei entrang sich seinen zuckenden Lippen – dieses Mal mit unverstellter Stimme, welche Nick Carter aus tausend anderen herauskannte; wie ein angeschossener Eber stürzte Carruthers sich auf den ihn kaltblütig erwartenden Gegner – doch nicht mehr so gewandt wie zuvor, sondern steif und unsicher, wie in halber Betäubung und nur von einer ungeheuren Wut noch künstlich aufrecht gehalten. Das dumpfe Murmeln der Anwesenden ließ denn auch erkennen, dass sie den Kampf für schon so gut wie entschieden hielten. Es bedurfte nur noch eines einzigen Schlages zum endgültigen Finish.

Die Gelegenheit, einen solchen Schlag anzubringen, bot sich für den Detektiv bald.

Er ließ den gleich einem wilden Stier Heranstürmenden an sich vorüber, indem er sich im geeigneten Moment blitzschnell zur Seite wandte; dann wendete er sich und schlug über den Nacken des Gegners auf dessen Kinn – und der mit voller Wucht geführte und sitzende Schlag entschied den Kampf, denn von Neuem brach Morris Carruthers auf die Diele nieder und deckte diese mit beiden Schultern.

Wieder zählte McGonnigal unter dem atemlosen Schweigen der Umstehenden: »… sieben, acht, neun, zehn!«, endete der Unparteiische.

»Du hast gewonnen, Tony!«, versetzte er. »Heran, Jungens, und steht Carruthers bei – jetzt braucht man wohl seinen Namen nicht mehr zu verschweigen – und zudem hört er es auch nicht!«, setzte er mit gefühllosem Auflachen hinzu.

In dem allgemeinen Aufruhr, der nun entstand, konnte Nick Carter sich unbeachtet, gleichsam wie erschöpft, in einen Stuhl fallen lassen, der nahe bei dem Sessel stand, auf welchen Morris Carruthers einen Rock geworfen hatte. Die Mehrzahl der Männer, darunter auch die beiden, welche Nick bisher als Sekundanten beigestanden hatten, waren um den bewusstlos auf dem Boden Liegenden versammelt; andere wieder sprachen miteinander die Einzelheiten des Kampfes nochmals durch und übten Kritik, wobei sie natürlich nicht verschwiegen, wie sie alles viel besser gemacht haben würden.

Niemand hatte eben ein Auge auf den Detektiv; was diesem ausgezeichnet zustattenkam, denn gedankenschnell versenkte er die eine Hand in die Rocktasche des Todfeindes. Er fühlte eine Brieftasche, und das genügte ihm auch schon, diese hervorzuziehen und sie in die eigene Tasche hineingleiten zu lassen.

Mit einem vorsichtigen Blick überzeugte Nick Carter sich davon, dass niemand seine Handlungsweise beobachtet hatte. Geschwind erhob er sich und trat in die eine Zimmerecke, wo eine Wascheinrichtung angebracht war. Nebenan befand sich eine nur wenigen Eingeweihten bekannte geheime Tür. Sie war direkt neben dem Waschbecken in die Wand eingelassen. Nick duckte sich hinter dem aufgestellten grünen Wandschirm, und schnell entschlossen öffnete er die Tür, ohne dass dies irgendwelche Aufmerksamkeit hervorgerufen hätte.

Zu seinem Erstaunen sah Nick nun, dass er in ein gähnendes Loch starrte, welches in den Abzugskanal mündete, dessen schlammige Gewässer unten in der Tiefe träge vorüberflossen. Als Nick über sich schaute, gewahrte er eine aufgezogene eiserne Treppe, die an Ketten hing und wahrscheinlich durch den Druck an einem besonderen Knopfe auf und niedergelassen werden konnte. Er begriff augenblicklich die Situation.

In diesen Raum wurden diejenigen gestoßen oder gelockt, welche für immer und ewig verschwinden sollten. Sie traten ahnungslos auf die Treppe, diese gab unter ihrem Gewicht nach, und die Unglücklichen stürzten in den Kanal, in dessen übelriechenden Gewässern sie elend umkommen mussten. Nun lag auch ein dunkles Geheimnis entschleiert vor den geistigen Blicken des Detektivs – ein Geheimnis, an dessen Lösung auch er selbst sich bisher vergeblich versucht hatte. Nun wusste er, woher die vielen Leichen stammten, die fortwährend von der unterirdischen Kanalisation ins Meer hinausgeschwemmt wurden … es waren Opfer von McGonnigals Dive – Verräter und Ausgeplünderte, Verlockte und zu wissend Gewordene, die sämtlich denselben schauerlichen Tod hatten sterben müssen.

Dieses alles hatte Nick Carter nur wenige Sekunden in Anspruch genommen. Er schloss lautlos die Tür wieder und spähte durch den Wandschirm in den Saal. Niemand hatte etwas von seinem Tun wahrgenommen; sie waren sämtlich noch zu sehr um den bewusstlosen Carruthers und mit sich selbst beschäftigt, um sich um seinen Verbleib zu kümmern.

Fest entschlossen, den Inhalt der Brieftasche des Verbrechers zu prüfen, öffnete Nick diese.

Sein gutes Glück ließ ihm sofort einen in offenem Umschlag steckenden Brief, der augenscheinlich von der Hand des Verbrecherkönigs selbst herrührte, in die Hände fallen. Der Brief war an eine Frau adressiert, und zwar zu einem Haus, das im vornehmsten Teil der Stadt New York lag.

Natürlich genügte ein einmaliges Überfliegen der Adresse, um diese dem Gedächtnis des Detektivs unauslöschlich einzuprägen.

Schnell zog er das Schreiben aus dem Umschlag und durchflog seinen Inhalt:

Meine teure Inez! Ich empfing deine Mitteilung, als ich heute früh nach Hause kam, und zwar, nachdem ich das gefahrvollste Abenteuer meines ganzen Lebens zu bestehen hatte. Du wirst dich erinnern, dass ich dir oft von Meadows erzählt und wie ich mich bemüht habe, ihm um unserer alten Freundschaft willen beizustehen. Well, die Folge davon ist, dass ich mich nun selbst im heißen Wasser befinde und die Spürhunde auf meiner Fährte sind.

Doch erschrecke nicht und sorge dich auch nicht um mich. Ich werde schon den Kopf oben behalten, wenn ich auch all meinen Scharfsinn anstrengen muss, um die Bluthunde von meiner Spur fernzuhalten. Ich habe mich deshalb derart verkleidet, dass auch du mich nicht wiedererkennen wirst, trete ich vor dich hin. Ich werde in der nächsten Nacht um 11 Uhr – pünktlich mit dem Glockenschlag – vor deiner Tür sein. Bitte, sei selbst dort und lasse mich ein. Du wirst mich nicht kennen; doch ich werde die Blue Bells pfeifen; daran wirst du mich erkennen. Also pünktlich um 11 Uhr nachts. Dein ewig getreuer Morris Carruthers.

»All right, mein lieber Morris«, versetzte der Detektiv, indem er den Brief wieder in den Umschlag und diesen in die Brieftasche zurücksteckte, »ich werde mit deiner gütigen Erlaubnis morgen Abend 11 Uhr ebenfalls an Ort und Stelle anwesend sein – und da ich es nicht wagen darf, dich hier zu verhaften, so werde ich dort mit dir ein Wörtchen zu sprechen haben!«

Er verbarg die Brieftasche in der hohlen Hand und schlüpfte hinter dem Wandschirm hervor, um nun seine Kleidung wieder anzulegen.

Gerade als Nick Carter wieder zum Vorschein kam, gab Morris Carruthers die ersten Lebenszeichen.

Es gelang dem Detektiv, wieder an den Stuhl zu gleiten, an welchem der Rock des Verbrechers hing und die Brieftasche an ihren alten Platz zurückzubringen, ohne dass jemand auch nur das Geringste bemerkt hätte.

Seine eigenen Kleider sorglos über dem Arme tragend, näherte sich Nick nun seinem immer noch halb bewusstlosen Gegner. »Ich hoffe, ich habe ihn nicht getötet?«, fragte er leichthin.

»Well, mich hätte der Schlag für immer stumm gemacht!«, brummte McGonnigal. »Geh, Tony, du hast Schmiedehämmer statt der Fäuste … gesteh es nur, du bist ein Preisboxer!«

»Nein, nein, nichts weniger als das«, widersprach der Detektiv lachend. »Ich habe zu viel mit meinen eigenen Geschäften zu tun, um an Derartiges zu denken.«

»Nun, dann musst du dem Ring beitreten … das ist ja beinahe selbstverständlich, du verdienst damit mehr als mit der Kassenschrankgeschichte. Du bist ein Boxer, wie es wenige gibt.«

»Sprichst du im Ernst?«, erkundigte sich der vermeintliche Tony mit einem geschmeichelten Lachen.

Mit besonderer Aufmerksamkeit nahm er wahr, wie der immer noch mit Blutstillen beschäftigte McGonnigal dem Patienten eben unter dem allgemeinen Gelächter das falsche Gebiss aus dem Mund nahm.

»Well, der ist’ ein ganz Feiner!«, brummte McGonnigal. »Falsche Zähne … und dabei schauen sie so miserabel aus … entweder Schundarbeit – oder absichtlich so schlecht …«

»Wird wohl das Letztere sein!«, bemerkte Nick Carter kaltblütig, während er im Begriffe war, das zerlumpte Hemd wieder überzustreifen.

Doch im selben Moment sagte eine schwache Stimme: »Halt, lass das, Schurke – ich wusste ja, dass es Nick Carter ist!«

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert