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Allerhand Geister – Auf dem Lichtenfels – Teil 4

Allerhand Geister
Geschichten von Edmund Hoefer
Stuttgart. Verlag der I. G. Cotta’schen Buchhandlung. 1876

Auf dem Lichtenfels – Teil 4
Eine Festungsgeschichte

Der Lichtenfels liegt, wie erwähnt, auf einer ziemlich ansehnlichen Höhe über dem kleinen Ort gleichen Namens. Der Schlossberg erhebt sich nicht nur durchaus isoliert, sondern auch so steil, dass der frühere Ruf der Festigkeit des Platzes dadurch völlig erklärt wird. Trotzdem ist die Ersteigung für einen gewandten Kletterer gerade kein Wagestück, und noch weniger, seit der ganze Berg mit Gebüsch überwachsen ist, das der Hand und dem Fuß eine Stütze und einen Halt bietet. Dazu sind die Werke oben, wie gesagt, ein wenig in Verfall geraten, und so ist es denn wohl schon einmal vorgekommen, dass einer, der oben nicht durch das Tor spazieren mochte, sich einen andern Aus- oder Eingang suchte. Zu des jetzigen Kommandanten Zeiten war dergleichen nicht passiert, und der Oberstleutnant hatte keinen Begriff davon, dass so etwas möglich sein könnte – bei Tage, heißt das. Von der Nacht war keine Rede.

Er würde indessen vermutlich anderes Sinnes geworden sein, wo die Überraschung ihn nicht am Ende völlig gelähmt hätte, wäre er heute Abend bald nach sechs Uhr zufälligerweise am Fuße des Nordabhanges gestanden. Die Nacht war, wie man zu sagen pflegt, pechrabenschwarz; allein dass es selbst in dieser angenehmen Färbung noch verschiedene Nuancen gibt, bewies das Etwas, das plötzlich aus den Büschen auftauchte: Es war noch ein wenig dunkler als seine Umgebung. Dann machte dieses Etwas Halt und es kam von seiner Seite her ein leiser, pfeifender Ton. Unmittelbar darauf erschien von der Seite her ein zweites Etwas, das sich jedoch, da es völlig im Freien stand, ungefähr als eine menschliche Gestalt erkennen ließ, welche obendrein ein Pferd neben sich hatte. Die erste Erscheinung kam heran, nun gleichfalls als Gestalt erkennbar. Es ließ sich ein hastiges Flüstern vernehmen, darauf saß die eine Gestalt im Sattel, das Pferd bewegte sich vorwärts und war plötzlich wie vom Dunkel verschlungen. Dann verschwand auch die andere Gestalt, und alles umher war wieder einsam, voll von Dunkel, Regen und Wind.

Aber der Herr Oberstleutnant wurde bekanntlich dieses interessanten Anblicks nicht gewürdigt. Er war in der Stadt, wenn auch vor Kurzem erst angelangt, weil sein Handpferd – der Kuckuck mochte wissen, weshalb – unterwegs zu lahmen angefangen hatte. Seine Stimmung war daher auch keineswegs eine rosige und wurde nicht besser, als er schon beim Absteigen – er kehrte selbstverständlich nicht im Weißen Ross ein – vernahm, dass man von dem Ankommen des großen Künstlers nichts erfahren habe. Man wusste hier im Stern so gut wie nichts von ihm und seiner Existenz. Der Alte ärgerte sich sehr bedeutend, murmelte etwas, das der Gastwirt sich auslegen mochte, wie es ihm beliebte, konferierte mit seinem Reitknecht, der heute als Kutscher fungierte, über den Zustand des lahmen Gauls, hieß denselben in die Schmiede führen, ordnete seine Kleidung und kam endlich erst so spät im Weißen Ross an, dass er fürchtete, das Konzert werde am Ende schon im vollen Gange sein.

Allein es war und blieb ein Unglückstag: Der Künstler war noch immer nicht angereist. Es komme zwar um acht Uhr noch eine Post, und der Herr möge ja auch wohl Privatfuhrwerk haben, meinte der Wirt achselzuckend, allein er selbst glaube daran kaum, halte die ganze Geschichte vielmehr für einen Scherz, den sich der Betreffende mit den, allerdings fast berüchtigten Musikenthusiasten der Stadt gemacht habe, und sein  des Wirtes – einziger Trost sei, dass sich zumindest eine zahlreiche Gesellschaft bei ihm zusammengefunden und bereits das Abendessen bestellt habe. Die Herren Offiziere seien alle da, selbst der Herr Oberst. Ob der Herr Oberstleutnant ihm nicht auch die Ehre erweisen wolle, hineinzu…

Der unglückliche Kommandant wurde rot vor Zorn und blass vor Schreck und entfloh mit der Weisung, dass man seiner Anwesenheit gar nicht erwähnen sollte.

Er ging zur Post, um sich nach jenem letzten Wagen – der letzten Möglichkeit – zu erkundigen und zugleich nach etwa für den Lichtenfels vorhandenen Briefschaften zu fragen. Das Unglück schlief aber leider noch immer nicht. Die erwartete Post kam gerade an – ohne Passagiere. Briefschaften waren auch nicht da, bis sich in dem eben eingetroffenen, für den alten Herrn bereitwillig geöffneten und durchsuchten Briefpaket – es ging damals auf den kleineren Postämtern noch urgemütlich zu – ein Brief an ihn selber und ein zweiter an Birken fand. Beide, wie der Alte aus der Handschrift erkannte, von dem Vater seines Gefangenen. Er steckte sie dann beide zu sich und ging wieder auf die Straße und wäre um ein Haar von einem Reiter übergeritten worden, der im scharfen Trab die Straße herabkam. Er hörte nur ein barsches Platz! Er sah im Schein der ungewöhnlich hellen Posthauslaternen das Gesicht nur mit einem einzigen Blick und zuckte dennoch zusammen und stand wie eine Bildsäule.

»Kriegte der Teufel Junge oder war das Birken? Aber es wäre ja doch in der Menschenwelt nicht möglich …«

»Nanu – wenn das nicht der Boilar ist, will ich Hans heißen!«, rief in diesem Augenblick jemand neben ihm und eine Hand fasste seine Schulter. »Alter, hat die verwünschte Vogelpfeife bis in dein altes Nest gewirkt und dich hergelockt, dass du dich mit uns auslachen lässt?« Bevor der noch immer halb betäubte Kommandant sich nur recht besinnen und wehren konnte, hatte der Sprecher, ein alter, in der Stadt als Pensionär lebender Regimentskamerad, ihn mit sich fortgezogen, lachte und redete weiter: »Stehst da wie ein Ölgötze und möchtest am liebsten echappieren und deine Wut …«

»Na, so schlage doch der Herrgott alle hunderttausend«, brach der Alte aus und versuchte sich frei zu machen.

»Richtig, richtig, Alter! Dich können wir gerade gebrauchen, denn unsere Flüche reichen nicht aus! Du wirst unserem Zorn den rechten Ausdruck geben! Also marsch fort! Im Weißen Ross sitzen wir beieinander. Es ist da ein Achtzehner, sag ich dir, den der Vater mit seinem Sohn trinken kann.«

»Wenn du mich nicht loslässt …«

»Denke nicht im Traum daran! Überdies hat dir der Oberst, wie ich glaube, etwas über Birken zu sagen.«

»Uber Birken?« Der Alte wehrte sich nicht länger, sondern ging, wenn auch diverse Flüche murmelnd, in sein Schicksal ergeben, mit. Da die Welt heute doch einmal auf dem Kopf stand, kam am Ende nichts darauf an, ob er sich gleichfalls darauf stellte!

Der Oberst, der wirklich am oberen Ende der langen Tafel saß, hatte dem Alten in der Tat eine Mitteilung zu machen.

»Du kommst wie gerufen, Boilar«, sagte er. »Ich habe heute Nachmittag Birkens Begnadigung erhalten. Wir haben uns alle redlich für ihn verwendet, denn entre nous« fügte er gedämpft hinzu, »der Maßheim, sein Hauptmann, ist ein unleidlicher Mensch und kann einen Heiligen zum Fluchen bringen. Es sind ihm also vier Wochen geschenkt, und da, soweit ich mich erinnere, die ersten vier morgen abgelaufen sind, so kannst du ihn gleich in der Frühe expedieren. Er soll dann vierzehn Tage Urlaub haben. Ich glaube, es sind da Liebesaffären im Spiel.«

Der Alte vernahm dies alles in einer Stimmung, die sich aus einer knirschenden Ergebung in sein heutiges widriges Geschick und aus einer Art von Träumerei zusammensetzte, wodurch er dies Geschick verdient haben möge und wie und an wem er sich dafür möglicherweise revanchieren könne. Die letzten Worte des Obersten brachten ihm aber den vorhin erhaltenen Brief in Erinnerung. Er holte ihn heraus, riss ihn auf und begann ihn mit einem Das wollen wir gleich sehen! zu überfliegen. Und richtig! Birkens Vater schrieb, dass er neulich die Eltern jener Emilie kennen gelernt, dass man einander gefallen und sich vereinigt habe, den jungen Leuten nachzugeben – nach einer kleinen Strafkomödie. Emilie, welche gerade in der Stadt beim Medizinalrat Germann zum Besuch sei, werde unter der Vorspiegelung einer anderen Partie abberufen werden, und eine solche werde auch er seinem Sohn in Aussicht stellen. Der Kommandant solle sorgen, dass sie nichts voneinander erführen. Beiläufig gesagt, habe der Kriegsminister ihm Hoffnung gemacht, dass Gustav mit vier Wochen davonkommen werde. Der Brief sei aufgehalten worden und müsse fort. Also reinen Mund und – adieu.

»Äh –… äh … Liebesaffären! … Der Dienst geht … äh … äh … zum Teufel, wenn solche Grashüpfer schon ans Heiraten denken!«, sagte der Alte, das Papier zusammenknitternd, voll grimmiger Verachtung zum Obersten. »Nun aber … äh … äh … mein Lieber … Euer Wein ist gut, aber mir … äh … äh … zu schwer. Und ich muss auch aufbrechen!«

Damit ging es nun allerdings nicht so schnell. Denn da seine Schwächen oder, wenn man es so nennen will, seine Schrecken, bei einer so flüchtigen Begegnung wie der heutigen, doch auch viel Belustigendes hatten, so ließ man ihn nicht eher frei, bis er sozusagen Gewalt brauchte und sich unter furchtbaren Grobheiten und donnernden Flüchen losriss. Trotzdem war es bereits gegen zehn Uhr, als er endlich tief aufatmend auf der Straße stand – wider alle Vermutung und ungeachtet des gewaltigen letzten Lärms in einer merkwürdig versöhnlichen Stimmung. Dass er auf, sagen wir Regimentskosten, erträglich gegessen und vortrefflich getrunken hatte, war schon allein erfreulich genug, und dazu kam, dass der gute Wein den alten Herrn eher erheitert als verdrießlich gemacht oder, um uns richtiger auszudrücken, sogar in eine gewisse nachsichtige, ja fast ein wenig sentimentale Stimmung versetzt hatte. Die Liebesaffäre erschien ihm augenblicklich weniger dienstwidrig als teilnahmswert … so junge … äh … äh … Grashüpfer dürfen am Ende schon einmal dumme Streiche machen! Der Spaß, den man mit den Leutchen vorhatte, kitzelte ihn so, dass er sogar ein paar heisere Lachtöne laut werden ließ, und das Dämchen bei Germanns …

Donnerwetter, da war er ja gerade vor der Tür des Medizinalrats! Die Fenster waren oben noch hell – er kannte ja Germann und seine Frau seit langer Zeit, und zwar gut – und das Dämchen droben … hätte sie denn doch auch einmal sehen mögen, die den Windbeutel, den Birken, fesseln konnte!

Er schwenkte gegen das Haus. Die Tür war offen, auf dem Flur kein Mensch zu sehen. Er stieg die Treppe hinauf – auch hier kein Mensch, der ihn hätte melden können. Er hörte Stimmen und Lachen in einem Zimmer. Da klopfte er an.

»Na, was ist denn das? Herein, wenn es kein Schneider ist!«, klang die Stimme des Medizinalrats.

Der Kommandant öffnete die Tür.

Das Zimmer war hell beleuchtet. Ein Tisch in der Mitte zeigte noch die Reste eines Abendessens und mehrere Flaschen Weins. Der Medizinalrat war aufgestanden, als ob er nach dem späten Anklopfer sehen wollte. Drei andere saßen aber noch am Tisch, die Gesichter dem Eintretenden zugewendet – die Medizinalrätin, eine junge, sehr hübsche, augenblicklich außerordentlich rot aussehende Dame und ein gleichfalls noch junger Herr in hellem Zivilanzug, der merkwürdig mit dem ausgeprägt soldatischen Kopf kontrastierte.

Der wackere Kommandant stand, als habe ihn der Schlag getroffen. seine Augen glotzten so starr und zugleich so völlig verdummt. Seine Lippen öffneten und schlossen sich, ohne einen Ton laut werden zu lassen, so schnappend, dass er genau einem Fisch glich, der, auf dem Strand liegend, am Verenden ist.

»Boilar, bei allem, was toll heißt«, rief der Medizinalrat sichtbar bestürzt.

Die beiden Damen fuhren mit einem Schrei von ihren Stühlen empor. Der Zivilist erhob sich gleichfalls, aber anscheinend ohne allen Schrecken. Er machte mit angenehm lächelndem Gesicht eine höfliche Verbeugung, wandte sich mit einem Ich will nicht stören! der nächsten Tür zu und verschwand.

»Mein lieber Herr Oberstleutnant«, sagte der Medizinalrat nun zu dem noch immer lautlosen alten Herrn. In seinem Gesicht zuckte es so seltsam, dass man auf den Verdacht kommen konnte, er ersticke beinahe an unterdrücktem Lachen. »Das ist ein charmanter Überfall! Aber hätte Paul, der Vetter meiner Nichte Emilie hier, uns nicht so lange …«

»O … Herr … Heiland … Millionen … Schock … Äh … äh! Höllische Wirtschaft! … Infame Durchstecherei! … Oh … Oh … Ich will Euch … bevettern!«, brach es endlich donnernd zwischen den Lippen des Alten hervor. Und damit drehte er um, ohne irgendjemand noch eines Blickes zu würdigen, und stürzte aus der Tür, die Treppe hinab, durch die Straßen, seinem Gasthof zu.

Es war ein Glück, dass der Reitknecht-Kutscher bei der Hand war und einen erträglichen Bericht über den Zustand des lahmen Gauls abstatten konnte. Der Alte wäre imstande gewesen, ohne diesen Bericht auch auf dem sattellosen zweiten Pferd zu seiner Festung zurückzujagen. So setzte er sich denn selber auf den Bock und fuhr mit einer Eile davon, unter Flüchen und Hieben, dass die beiden Gäule schier noch bestürzter die Köpfe schüttelten als am vergangenen Morgen der alte Paradeschimmel.

Nach einer kleinen halben Stunde jagte ein Reiter an dem Wagen vorüber.

»Halt … halt …!«. schrie der Alte, wütend auf die Pferde peitschend. Aber der Reiter war schon in der Nacht verschwunden.

Als der alte Herr gerade, da die Schlossuhr halb zwei schlug, vor der Brücke ankam – die Pferde waren dem Umfallen nahe – stieg er ab, ging durchs Tor zur Wache, nahm grimmig lächelnd die Meldung des Unteroffiziers entgegen, dass nichts passiert sei, beorderte zwei Mann zum Mitgehen, holte den schlaftrunkenen Ronden-Offizier ab, alles in der kürzesten Weise, und revidierte in solcher Begleitung alle Werke und die sämtlichen Posten. Es war alles in völliger Ordnung.

Dann wandte er sich gegen die Wohnung Birkens und klopfte, nachdem von der Wache eine Laterne herbeigeholt worden war, gewaltig an die verschlossene Tür.

»Aufmachen – im Namen des Kommandanten!«, brüllte er dabei plötzlich so laut, dass seine Begleiter ganz entsetzt zurückprallten. Da nicht sogleich Antwort kam, riss der Alte den einen Soldaten heran und schrie ihm zu: »Aufbrechen … Bajonett nehmen … aufbrechen, du Satansbrut!«

Indessen fuhr er, wie von einem elektrischen Schlag getroffen, zurück, denn Birkens Stimme klang ihm vernehmbar genug durch die Tür entgegen.

»Was zum Henker ist denn los? Ist der Alte vollends toll geworden?« Und eine Sekunde darauf wurde der Schlüssel umgedreht, die Tür sprang auf und der Leutnant stand vor dem Kommandanten mit verschlafenen Augen und wie er aus dem Bett gesprungen war.

Der Alte war stumm, denn was er in diesem Augenblick empfand, ließ sich selbst durch den kompliziertesten seiner Flüche nicht ausdrücken.

Die strengste Untersuchung ergab nichts. Alles zeigte sich in der besten Verfassung, ein Zivilanzug ließ sich nicht entdecken. Nur dass Birkens Bursche auf eine Nachtkarte erst um ein Uhr aus dem Ort zurückgekehrt sei, kam heraus – allein es wurde zur Genüge konstatiert, dass der Passant wirklich der Bursche und nicht der Herr desselben gewesen sei.

Seitdem flucht der Kommandant nicht mehr so häufig und stark wie vordem, am wenigsten zitiert er den Teufel nicht mehr so oft. Denn er schwört, dass derselbe leibhaftig auf Erden umgehe, und hat keine Lust, ihm noch einmal zu begegnen.

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