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Die Sternkammer – Band 2 – Kapitel 12

William Harrison Ainsworth
Die Sternkammer – Band 2
Ein historischer Roman
Christian Ernst Kollmann Verlag, Leipzig, 1854

Zwölftes Kapitel

Das Geheimnis

Dreimal wurde, während der langen Nacht, die Wache abgelöst, und ebenso oft der Gefangene besucht. Bei der ersten Gelegenheit fand man ihn noch mit seiner Bibel beschäftigt, was er so lange fortsetzte, wie der Mann in dem Gewölbe blieb.

Der Zweite, welcher kam, sah ihn auf den Knien liegen und laut und inbrünstig beten. Da er ihn nicht stören wollte, überließ er ihn seiner Andacht.

Aber der Dritte, welcher eintrat, empfand Schrecken bei dem Aussehen des Gefangenen. Er hatte sich vom Boden aufgerichtet und stand so aufrecht da, wie die Fesseln es ihm gestatteten, streckte seine Hände aus und richtete seine Augen auf den leeren Raum. Er murmelte etwas, aber seine Worte waren unverständlich. Er sah aus, wie jemand, der ein Traumgesicht sieht. Diesen Eindruck machte er auf den Mann, welcher erwartete, es werde sich ihm eine furchtbare Gestalt zeigen. Aber was es auch sein mochte, ein guter oder ein böser Geist, er war dem Puritaner allein sichtbar.

Nachdem er ihn einige Minuten mit Verwunderung und Schrecken angesehen, wagte sich der Gardist in seine Nähe. Als er ihn berührte, stieß der Puritaner einen furchtbaren Schrei aus und versuchte vorwärts zu springen, als wollte er einen verschwindenden Gegenstand ergreifen. Da er aber von der Kette zurückgehalten wurde, fiel er auf den Boden nieder und schien eine schwere Verletzung zu erhalten, denn als der Mann ihn aufrichtete und ihn gegen den Pfeiler setzte, war es einleuchtend, dass er heftige Schmerzen empfand, obwohl er nicht klagte. Der Gardist füllte einen Becher mit Wein und bot ihm denselben an, aber obwohl er beinahe ohnmächtig wurde, wies er ihn doch mit Bestimmtheit zurück.

Von diesem Augenblick an war eine auffallende Veränderung in seinem Aussehen zu bemerken. Die Farbe seiner Haut wurde leichenhaft, seine Augen trübe und gläsern und er atmete schwer. Alles deutete an, dass sein Leiden bald vorüber sein werde und dass ihm, so sehr er denselben auch verdienen mochte, der Tod durch die Hände des Henkers erspart werden würde. Der Gardist bemerkte seine Lage, und sein erster Antrieb war, Beistand herbeizurufen, aber er wurde durch die lebhafte Bitte des Puritaners, ihn allein zu lassen, davon abgehalten. Da er dies für das Beste hielt, was er unter diesen Umständen tun könne, gab er der Bitte nach und erwartete kaum, ihn lebendig wiederzusehen.

Eben dieser Mann öffnete die Tür des Gewölbes für Sir Jocelyn und Aveline.

Der Schreck, den das Mädchen beim Anblick ihres Vaters empfand, erschütterte sie tief. Sie hielt ihn für tot und dies war auch Sir Jocelyns erster Gedanke. Der unglückliche Puritaner saß noch, an den Pfeiler gelehnt, da, aber sein Kopf war auf eine Seite gesunken und seine Arme hingen kraftlos herab. Mit durchdringendem Schrei eilte seine Tochter auf ihn zu. Neben ihm niederkniend, erhob sie sanft seinen Kopf, sah ihm lebhaft ins Gesicht und bemerkte, dass er noch lebte, obwohl der Geist bereit zu sein schien, seinen fleischlichen Wohnort zu verlassen.

Die Lage war geeignet, jede verborgene Kraft in Avelines Charakter hervorzurufen. Ihre Gemütsbewegung beherrschend, stieß sie keinen weiteren Schrei aus, sondern begann mit Ruhe solche Mittel anzuwenden, die sie zur Hand hatte. Nachdem sie seine Schläfen benetzt und seine Hände gerieben, hatte sie die Genugtuung, zu sehen, dass er bald seine Augen öffnete. Anfangs schien es ihm schwer zu werden, seinen Blick auf sie zu richten, aber ihre Stimme erreichte seine Ohren und der matte Druck seiner Hand sagte, dass er sie kenne.

Endlich kehrte ihm die Sprache zurück und er murmelte matt: »Mein Kind, ich bin erfreut, dich noch einmal zu sehen. Ich dachte, es wäre schon zu Ende mit mir, aber es hat dem Himmel gefallen, mich noch einige Augenblicke zu verschonen, um dir meinen Segen zu erteilen. Neige dein Haupt, meine Tochter, und empfange ihn; und obwohl von einem Sünder, wie ich, erteilt, wird er dir Vorteil bringen! Möge der gnädige Gott, welcher allen verzeiht, die noch in der letzten Stunde bereuen und die Waisen überwacht, dich segnen und beschützen!«

»Amen!«, rief Jocelyn inbrünstig.

»Wer sprach da?«, fragte der Puritaner. Als er keine Antwort erhielt, wiederholte er die Frage.

»Ich war es, Jocelyn Mounchensey, der Sohn Eures alten Freundes«, versetzte der junge Mann.

»Komm in meine Nähe, Jocelyn«, sagte der Sterbende. »Ich habe dir unrecht getan und bitte dich um Verzeihung.«

»O! Redet nicht so«, rief Jocelyn, auf ihn zuspringend. »Ich habe nichts zu verzeihen, doch Ihr habt mir viel zu verzeihen.«

»Du besitzt ein edles Herz, Jocelyn«, versetzte Hugo Calveley, »und in dieser Hinsicht gleichst du deinem Vater. In seinem Namen beschwöre ich dich, auf mich zu horchen. Du wirst mir meine sterbende Bitte nicht abschlagen. Ich habe dir ein geheiligtes Unterpfand anzuvertrauen.«

»Sagt, was es ist«, rief der junge Mann, »und haltet Euch überzeugt, dass ich Euren Willen erfüllen werde.«

»Gib mir ein wenig Wein«, stöhnte der Puritaner matt. »Meine Kraft schwindet und es möchte mich ein wenig wieder beleben.«

Mit großer Anstrengung trank er einige Tropfen aus dem Becher, den Jocelyn ihn füllte. Dennoch war sein Aussehen so beunruhigend, dass der junge Mann nicht umhin konnte, ihn zur Eile anzutreiben.

»Ich verstehe«, versetzte Hugo Calveley, seine Hand drückend, »du denkst, ich habe keine Zeit zu verlieren, und du hast recht. Mein Kind ist das Unterpfand, welches ich dir anvertrauen möchte. Sohn, sieh da, deine Schwester! Tochter, sieh da, deinen Bruder!«

»Ich will mehr als ein Bruder für sie sein«, rief Sir Jocelyn lebhaft.

»Mehr kannst du nicht sein«, versetzte Hugo Calveley; »wenn nicht …«

»Was?«, fragte Sir Jocelyn.

»Ich kann mich nicht erklären«, rief der Puritaner mit qualvollen Ausdruck, »es ist keine Zeit dazu. Es reicht hin, zu sagen, dass sie schon zur Ehe versprochen ist.«

»Vater!«, rief Aveline in vorwurfsvoller Überraschung. »Ich hörte nie vorher von einer solchen Verbindlichkeit. Das Versprechen ist ohne meine Zustimmung gegeben worden.«

»Ich beschwöre dich dennoch, es zu erfüllen, mein Kind, wenn es gefordert wird«, sagte Hugo Calveley feierlich. »Versprich mir dies oder ich werde nicht ruhig sterben. Sprich! Lass es mich hören.«

Und sie gab widerstrebend das geforderte Versprechen.

Sir Jocelyn stieß einen Ausruf der Qual aus.

»Was betrübt dich, mein Sohn?«, fragte der Puritaner.

»Wem habt Ihr Eure Tochter zur Ehe versprochen?«, fragte der junge Mann. »Ihr habt mich zu ihrem Bruder ernannt und ich bin daher berechtigt, danach zu fragen.« »Du wirst es erfahren, wenn sie dazu aufgefordert wird«, sagte der Puritaner. »Du wirst dann hören, warum ich das Versprechen gegeben habe, sowie auch, warum ich meiner Tochter diese Verbindlichkeit auferlegt habe.«

»Aber soll diese Verbindlichkeit auf immer bindend bleiben?«, fragte Sir Jocelyn.

»Wenn der Anspruch nicht innerhalb eines Jahres nach meinem Tod geltend gemacht wird, ist sie davon frei gesprochen«, versetzte Hugo Calveley.

»O! Ich danke Euch, Vater, ich danke Euch!«, rief Aveline.

In diesem Augenblick wurde die Tür des Gewölbes geöffnet. Es traten zwei Männer ein, wovon Sir Jocelyn den ersten sogleich als den König erkannte. Der andere war Doktor Mayerne Turquet. Ein Blick reichte hin, dem Letzteren den Zustand des Puritaners zu erklären.

»Ah! Parbleu! der Mann liegt im Sterben, Eure Majestät«, rief er.

»Im Sterben! Wirklich?« rief Jakob. »Umso mehr Grund, uns ohne Verzug sein Geheimnis zu sagen. Hört Ihr, Unglücksprophet!«, fuhr er fort, als er vorwärts schritt, »das Urteil des Himmels, welches Ihr uns verkündet, scheint auf Euch selbst gefallen zu sein und Euch zu Boden geworfen zu haben, noch ehe unser Arm Euch berühren konnte. Ihr habt guten Grund, dankbar zu sein, dass Ihr der Folter entgangen seid. Darum bekennt Euer Verbrechen und entdeckt uns das Geheimnis, welches Ihr uns mitzuteilen habt, wie man mir sagt!«

»Lass alle übrigen einige Schritte zurücktreten«, sagte Hugo Calveley, »und nähere du dich mir, o König! Was ich zu sagen habe, ist für dein Ohr allein.«

»Es wird keine Gefahr sein, diese Bitte zu gewähren, sollte ich denken?«, fragte Jakob den Arzt.

»Durchaus keine«, versetzte Doktor Mayerne Turquet. »Die einzige Gefahr liegt im Verzug. Eure Majestät sollten keine Zeit verlieren. Der Mann schwindet rasch dahin. In einigen Augenblicken wird er aufhören, zu leben.«

Auf ein Zeichen des Königs trat Sir Jocelyn auf die Seite, aber Aveline weigerte sich, ihren Vater auch nur auf einen Augenblick zu verlassen.

Als Jakob sich näherte, erhob sich Hugo Calveley ein wenig, um ihn anzureden.

»Ich sage dir, o König«, rief er, »wie Elias zum Ahab sagte: Weil du dich verkauft hast dem Werk des Bösen im Angesicht des Herrn, so will ich Leiden über dich bringen und deine Nachkommenschaft von dir nehmen. Und ich will dein Haus machen gleich dem Haus Jerobeams, des Sohnes Nebat, und gleich dem Haus des Baesa, des Sohnes Ahijahs, wegen der Missetat, wodurch du meinen Zorn erregt und Israel zur Sünde geführt hast.«

»Zum Henker mit dir, Schurke!«, rief Jakob wütend, »hast du mich darum hierher rufen lassen, um deinen Strafpredigten zu horchen?« Als Hugo Calveley, von der Anstrengung erschöpft, mit einem tiefen Seufzer zurücksank, neigte er sich zu ihm und rief: »Das Geheimnis, Mann, das Geheimnis! Oder der Folterer wird es von dir herausbringen!«

Der Puritaner versuchte zu reden, aber seine Stimme war so leise, dass sie das Ohr des Königs nicht erreichte.

»Was sagst du?«, fragte er. »Sprich lauter. Seele meines Leibes!«, rief er nach einer augenblicklichen Pause, während welcher die plötzliche Veränderung in den Gesichtszügen des Gefangenen ihn zu der Vermutung brachte, dass alles zu Ende sei. »Unser Glaube ist, dass er nie wieder reden wird. Er ist uns entflohen und hat das Geheimnis mit sich genommen.«

Aveline stieß einen lauten Schrei aus, als sie auf den leblosen Körper ihres Vaters niederfiel.

»Lasst uns hinausgehen«, rief der König, seine Ohren zuhaltend. »Wir sind nicht gern bei solchen Szenen zugegen. Wir sind gut von dem Verräter frei geworden, obwohl wir gern gehört hätten, was er zu sagen hatte. Sir Jocelyn Mounchensey, Ihr werdet für dieses junge Frauenzimmer sorgen, und wenn Ihr sie habt wegbringen lassen, folgt uns in das Ballhaus, wohin wir uns sogleich begeben werden.«

Hierauf verließ er mit dem Arzt das Gewölbe.

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