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Schauernovellen 3 – Die Seele des Fegefeuers

Ferdinand Kleophas
Schauernovellen Band 2
Verlag Franz Peter, Leipzig 1843

Die Seele des Fegefeuers

Was kümmern mich Verzweiflung, Schande und Tod? Was der Zorn eines beleidigten Herrn? Was kümmern mich Gefangenschaft und Elend? Wenn ich für dich, mein süßer Freund, dies alles dulde?
Diese Törichte belästigt mich mit ihrer Liebe.

Seit sechs Jahren hatte Heinrich den Ort seiner Geburt nicht gesehen.

Und diesen Abend befand er sich wieder in dem Zimmer seiner Mutter, hingestreckt in den großen Lehnstuhl, den er ehedem so sehr liebte. Zwei große, dicke Holzstücke brannten in dem hohen gotischen Kamin und warfen in das Zimmer einen Schein, der rot und flackernd sich abspiegelte auf den alten Familienporträts, auf den Tapeten von vergoldetem Leder, auf den altmodisch verzierten Möbeln von Eichenholz.

Es war wie in seinen Kindheitstagen. Nichts war an diesen Orten verändert; nichts fehlte da, ausgenommen die gute, fromme Frau, die sie bewohnt: Seine Mutter! Seine Mutter, die seit drei Jahren nicht mehr ist!

Er findet seine Base wieder, damals die hübsche Lisette; ein kleiner, süßer Schelm, mit schwarzen, wogenden Haaren, mit spitzen, naiven Antworten; nun die träumerische Elise, ein junges Mädchen mit zärtlichem Blick, mit weicher, rührender Stimme.

Und alle beide, seit so langer Zeit getrennt, gefielen sich in dem Erinnern an ihre Kindheit, eine glückliche, nie wiederkehrende Zeit: Streifzüge in die Gefilde, Neckereien, kindische Spiele, Unbedeutendheiten, ein Blumenstrauß, ein Scherz – an allen diesen finden sie einen süßen, köstlichen, unaussprechlichen Reiz; Tränen füllen ihre Augen und die Rührung unterbricht ihre Worte.

Er war so gut; er verstand so wohl wieder Kind zu werden, um ihr zu gefallen, er, der ernste, leidenschaftliche, junge Mann. Die Freuden des jungen Mädchens waren die seinen; er umringte sie mit Scherz und Spiel, denn damals brauchten sie bloß Spiele, um glücklich zu sein.

Und dann jene wunderbaren Geschichten, welche er so gern des Abends erzählte, wenn die Nacht hereinbrach, so wie in dieser selben Stunde. Ach, sie hat nicht eine einzige vergessen; sie sind alle noch in ihrem Gedächtnis, als ob sie diese hätte gestern erst erzählen hören.

Besonders eine hat sie nicht vergessen; eine, welche sie ganz ergötzte und doch betrübte – die Geschichte von der Seele im Fegefeuer. Er musste sie ihr noch einmal erzählen, das wäre wie in der Zeit ihrer Kindheit.

Nur wird Elise nicht mehr, wie damals die frohe Lisette, auf die Knie Heinrichs klettern, dort sitzen und hören können, kaum atmend unbeweglich und an der rührendsten Stelle sich halb erhebend, wenn Tränen über ihre Wangen rollten und die Stimme des Erzählers selbst sich veränderte.

Heinrich seufzte, nahm die Hand, Elises in die seine und begann die Erzählung, welche das junge Mädchen von ihm verlangte.

Die Seele im Fegefeuer

Einst ließ der Engel Eloim im Paradies einen so süßen und reinen Gesang erschallen, dass er die Belohnung erhielt, welche der Herr zuweilen seinen Engeln gewährt: die Erlaubnis, durch ihre göttliche Erscheinung die Seelen im Fegefeuer zu trösten.

Eloim entfaltete sogleich seine weißen, azurblau geränderten Flügel und seinen Flug erhebend, stieg er aus der Wohnung der Seligen in das dunkle, kalte Haus der leidenden Seelen.

So wie er erschien, so wie der Lichtglanz, der aus seinen schönen Haaren floss, die Steppen erleuchtete, wurde ein Dankgebet gesungen von tausend Stimmen, welche den Boten des Herrn segneten.

»O, sage uns, himmlischer Geist, nenne uns die unsäglichen Freuden des Paradieses, tröste uns durch die Erzählungen der Wunder, die wir berufen sind, zu sehen, wenn der Tag der Barmherzigkeit des Herrn kommen wird.«

Das baten die Seelen des Fegefeuers, und der schöne Eloim antwortete ihnen durch wunderbare Reden und durch Tröstungen, die ihnen vergessen ließen, an welchen traurigen Ort sie sich befanden.

Nur eine Seele war da, eine Frau, deren Tränen nie vertrockneten und welche mit verzweifeltem Ton immer den Namen eines Mannes wiederholte: »Paul, Paul, armer Paul!«

Bei dem Anblick des Schmerzes, welchen die Unglückliche zeigte, fühlte sich Eloim von einer tiefen Traurigkeit ergriffen. Er vergaß alle anderen Seelen, um diese zu trösten.

Aber sie konnte nicht getröstet werden, selbst von den sanften Worten des Engels nicht. Was er auch redete von der Barmherzigkeit des Herrn und von der Seligkeit des eisigen Lebens; ob er ihr auch versprach, für sie zu bitten bei der Mutter Gottes, die so viel vermochte bei ihrem göttlichen Sohn, die Unglückliche wiederholte immer: »Paul, Paul, armer Paul!«

Eloim erforschte dann aus dieser Frau die Ursache eines so tiefen Schmerzes. Indem er sie mit seinen Flügeln umhüllte, um zu verhindern, dass ihre Mitteilungen nicht von den anderen Seelen gehört würden, hörte er, solange ihre klagende, von Seufzern unterbrochene Stimme sprach.

Der göttliche Geist wusste, dass für die, welche ohne Hoffnung dulden, es keinen größeren Trost gibt, als sie ihre Leiden erzählen hören und teilzunehmen, indem man mit ihnen weint. Also flossen mehr als einmal während der Erzählung der Seele Tränen aus den schönen Augen des Engels.

Es war eine junge Frau Beatrix, als Kind schon verheiratet mit Hugo, einem vornehmen Ritter.

Zwei Jahre erfüllte sie aufs Beste als fromme Christin ihre Gattinpflichten, indem sie Ehrfurcht bezeigte und Unterwerfung ihrem Herrn und Gemahl, einem mürrischen Greis, von rauer Lebensart und rücksichtslos gegen die arme Beatrix. Danach kam sein Neffe Paul in das Schloss des Ritters Hugo.

Dieser Paul gewann Neigung und Liebe zu Beatrix und sprach ihr davon mit Zärtlichkeit. Lange widerstand Beatrix aufs Beste, aber endlich ergab sich die Arme den süßen Worten Pauls. Sie versprachen sich gegenseitige Treue und schworen bessere Tage zu erwarten und sich zu gehören, wenn der Himmel Beatrix frei machen sollte. Außerdem, einander treu zu sterben.

Aber der Ritter Hugo hatte diese sündhaften Worte gehört. Ohne sich anmerken zu lassen, wie sehr er darüber erzürnt war, ließ er wissen, dass der Vater der Beatrix, ein Ritter des heiligen Kirchenstaats, auf dem Sterbebett läge und seine Tochter Beatrix noch einmal sehen wolle, bevor er aus dieser Welt gehe. Darum nahm er denn vier Reisige, welche den Wagen der Beatrix begleiten sollten, und begleitete sie selbst ein Stück des Weges.

Nach zwei Monaten kam er zurück und danach hatte keiner wieder von Beatrix sprechen hören. Paul wagte nicht zu fragen, wann sie zurückkommen würde, denn Ritter Hugo antwortete auf solche Fragen nur mit einem schrecklichen, zornigen Gemurmel.

Ach, er hatte mit seinem Dolch Beatrix ins Herz gestoßen, die Reisigen und ihre Knechte ins Heilige Land geschickt, nachdem er ihr Stillschweigen und ihre Abreise mit einer großen Summe Geldes erkauft hatte.

Die Seele der Gemordeten war vor den Thron des Weltenrichters geflogen. Ihr Schutzengel bedeckte mit den Flügeln seine beschämte, bestürzte Stirn.

Die Dämonen freuten sich und schrien: »Eine Ehebrecherin, eine Ehebrecherin! Platz, ihr Verdammten, Platz! Da kommt eine neue Gefährtin.«

Aber der Herr hatte sich auf Erden barmherzig gezeigt gegen Maria Magdalena und hatte ihr viel verziehen, weil sie viel geliebt hatte.

Und der Herr zeigte sich im Himmel barmherzig gegen Beatrix und verzieh ihr viel, weil sie viel geliebt hatte.

Die Dämonen heulten vor Wut, da sie die in das Fegefeuer herabsteigen sahen, die sie als ihre Beute betrachtet hatten; aber ihr Wutgeheul verwandelte sich bald in Jubelgeschrei, denn es kam zur selben Stunde eine andere Seele, der Ritter Hugo, welchen eine böse Krankheit hingerafft hatte.

Der Weltenrichter öffnete das göttliche Buch und las: »Mörder, du sollst nicht selig sein.«

Die Engel wandten sich ab und weinten, die Dämonen stürzten sich auf Hugo und das schreckliche Hohngelächter der Verdammten begrüßte den ankommenden Ritter.

»O guter Engel!«, fuhr Beatrix fort, als sie diese Erzählung vollendet hatte, »mein Paul weiß diese schrecklichen Ereignisse nicht. Er kennt nur den Tod des Ritters, und jeder Tag zieht sich ihm in eine lange traurige Erwartung, denn er sagt zu sich, ich habe das Versprechen meiner Beatrix und sie muss wiederkehren, um die Schwüre zu erfüllen, die sie mir geleistet hat. Jeder Mond, jede Woche, jeder Tag, jede Stunde vergeht so, ohne dass er mich wiederkehren sieht. Er quält sich und schuldigt mich an, indem er sagt, sie hat die Treue gebrochen. Guter Engel, gestatte mir, dass ich nur einen Tag auf die Erde zurückkehre und dass ich ihm sagen könne: Ich bin gestorben für dich und das letzte Wort meiner Lippen war der Name meines Pauls. Höre auf, mich zu erwarten, o mein Heißgeliebter, denn ich bin nicht mehr auf der Erde, und im Himmel erst werden wir uns wiedersehen. Suche Trost in anderer Liebe, und vielleicht auch süßes Glück, das dauert. Nur im Namen deines Seelenwohls, bei den Leiden, die ich für dich dulde, sprich für mich ein heiliges Gebet. O wie süß wäre es für mich, mein Paul, deinem Beten einen Tag zu danken, den ich weniger zu leiden habe, nicht ob der vermiedenen Qual, nein, weil es von dir kommt, teurer Paul.«

Eloim weinte, denn noch nie hatte er so viel Liebe gesehen. Er sagte zu Beatrix: »Weißt du, fromme Seele, dass um solche Gunst zu haben, auf die Erde zurückzukehren, du noch tausend Jahre länger dulden müsstest?«

»O, mit Freuden, o, mit Freuden!«, rief Beatrix, „nur sogleich, nur sogleich, guter Engel.«

Eloim sprach den Namen Jehovah und die Seele der Beatrix kehrte zurück auf die Erde.

Es war um die Mitternachtsstunde, aber niemand schlief im Schloss ihres Paul, denn es gab dort ein fröhliches Mahl. Es mangelte an nichts: delikate Gerichte, feine Weine, lustige Brüder und schöne Mädchen. Paul schrie lauter als alle andere, denn die Trunkenheit hatte sein Gesicht gerötet und sein Kopf ruhte auf den Knien eines feilen, nackten Mädchens.

Er sagte: »Gib mir einen Kuss, mein Schäfchen, und noch einen und noch einen. Nie wirst du mir genug geben. Sing noch einmal das Lied, das ich dir gelehrt habe, und worüber du heute Morgen noch rot wurdest. Es ist ein schönes Liedchen, nicht wahr, Brüder, es hat ein Freudenmädchen rot gemacht. Allons, allons! Fort mit diesem Mantel, fort mit diesem Tuch. Ich habe nie spröde Umstände geliebt. Bei meinem Degen, ich musste bei der Beatrix, von der ich euch soeben sagte, drei Monate lang den keuschen Tugendhelden spielen. Nun, ich hoffe auch, dass sie zur Strafe für die Langeweile, die sie mir gemacht hat, im tiefsten Grund der Hölle schmachtet. Dort mag sie bleiben und des Teufels will ich sein, wenn ein Oremus von mir sie daraus erlöst.«

Die trostlose Seele der unglücklichen Beatrix kehrte ins Fegefeuer zurück.

Und der Engel Eloim erwartete sie auf der Schwelle des Fegefeuers und führte sie ins Paradies, denn sie hatte in dieser Stunde, die sie auf der Erde verbracht, mehr geduldet, als sie tausend Jahre im Fegefeuer nicht hätte dulden können.«

Während dieser ganzen Legende war die Hand Elises in den Händen Heinrichs geblieben und sie zog sie nicht zurück, als er geendet hatte. Sie richtete den Kopf nicht auf, den sie auf die Schulter des Freundes ihrer Jugend gelegt hatte.

Welche zärtliche Worte sie sich wiederholten, welche andere Erinnerungen in ihnen erweckt wurden, ist nicht möglich, mit Worten zu sagen, denn es gibt Empfindungen, welche die Worte nicht ausdrücken. Man braucht dazu Blicke, Umarmungen.

Diese Empfindungen, diese Erinnerungen waren jedoch sehr süß, denn nun, wo Elise und Heinrich alt sind, hören ihre Kinder sie oft sich mit Rührung an den Abend erinnern, wo sie sich nach sechs Jahren wiedersahen und wo Heinrich Elise die Legende von der Seele im Fegefeuer erzählte.

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